Wie der Jungengel Kasimir zum Friedensengel wurde
© Andrea Spakowski
Jedes Jahr zur Weihnachtszeit, wenn die Menschen auf der Erde an ihrem Adventskranz die erste Kerze anzünden und anfangen, sich auf das bevorstehende Weihnachtsfest vorzubereiten, wacht eine ganz besondere Engelschar über die Welt. Es ist die Schar der Friedensengel, die sich alljährlich darum sorgt, dass die Menschen während der Weihnachtszeit besonders sorgsam und liebevoll miteinander umgehen, und darum auch so manchen Streit unter ihnen schlichtet. Denn diese Zeit gilt bei den Engeln hoch oben im Himmel als
die heiligste Zeit des ganzen Jahres. Da die Menschen es aber sehr oft nicht schaffen, ohne Zank und Streit zu leben, senden die Engel jedes Jahr die auserwählte Schar der Friedensengel auf die Erde hernieder, die den Menschen dabei hilft, eine friedliche und geruhsame Weihnachtszeit zu verleben.
Einer dieser auserwählten Engel gehörte jedoch nicht von Anfang an zu den Friedensboten. Vielmehr hatte er sich seine Zugehörigkeit zu dieser Schar erst durch eine schwere Prüfung verdienen müssen. Denn Kasimir, wie dieser Engel heißt, war noch vor wenigen Jahren alles andere als ein friedfertiger und liebenswerter Geselle. Damals, als er noch zu der Gruppe der Jungengel gehörte, hatte er wahrlich nichts als Unsinn im Kopf. Während die anderen Jungengel stets brav in die Engelschule gingen und mit großem Fleiß
und Eifer für ihre spätere Abschlussprüfung zur Erlangung des Heiligenscheines lernten, verbrachte Kasimir den Tag viel lieber mit allerhand Schabernack.
So schnappte er den erwachsenen Engeln gerne mal ihren wohlverdienten Heiligenschein weg und versteckte diesen an den unmöglichsten Stellen, oder er beschmierte ihnen die Flügel dick mit Kleister, sodass diese ganz hart wurden und erst nach einer gründlichen Reinigung wieder zu gebrauchen waren.
Auch liebte Kasimir es sehr, seinen Klassenkameraden ihre schneeweißen Sonntagsgewänder mit roter Farbe zu bespritzen oder ihnen bei der Gesangsstunde mit einer Stecknadel in den Popo zu pieksen. Anfangs lachten die anderen Jungengel noch sehr gerne und oft über Kasimirs Streiche, und auch die Erwachsenen drückten meist ein Auge zu, wenn Kasimir mal wieder der Schalk im Nacken saß. Doch mit der Zeit fand niemand mehr seine Albernheiten so richtig lustig. Stattdessen beklagten sich die anderen Jungengel immer
häufiger über Kasimirs schlechtes Benehmen und auch die erwachsenen Engel hatten allmählich genug. Beinahe jeden Tag wurde Kasimir nun zu den Oberengeln gerufen, die ihn stets aufs Neue tadelten und ihn zu angemessenem Verhalten mahnten. Doch obwohl Kasimir unter den strengen Blicken der Oberengel Tag für Tag Besserung gelobte, konnte er seine übermütigen Streiche einfach nicht lassen. Auch seine schlechten Noten in der Engelschule hielten ihn nicht davon ab, sich unentwegt neuen Schabernack auszudenken. Dabei
wäre es für seine späteren Aufgaben als Engel sicher besser gewesen, wenn er sich ab und zu auch mal mit seinen Büchern beschäftigt hätte, anstatt immer nur über freche Schelmentaten zu brüten.
Als sich die Schulzeit schließlich ihrem Ende näherte, stand den Jungengeln die große Abschlussprüfung bevor. Bei dieser Prüfung wurden ihnen verschiedene Aufgaben in unterschiedlichen Bereichen zugeteilt, um dabei ihr erlerntes Wissen zu testen. Alle Jungengel, die ihre Prüfung erfolgreich abschlossen, sollten im Anschluss daran bei einer großen Feier ihren wohlverdienten Heiligenschein erhalten und fortan eine eigene Aufgabe zugeteilt bekommen. Da es für die Engel hoch oben im Himmel gerade in der Weihnachtszeit
besonders viel zu tun gibt, fand die große Abschlussprüfung auch damals, wie schon in all den anderen Jahren zuvor, in genau diesem Zeitraum statt. Denn dadurch konnten nicht nur die Jungengel ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, sondern die erwachsenen Engel hatten somit auch zahlreiche Helfer, die ihnen bei der vielen Arbeit zur Hand gehen konnten. Um die Prüflinge für die richtigen Bereiche einzuteilen, wurde am Abend vor dem ersten Advent eine große Versammlung abgehalten. Bei dieser Versammlung traten
alle Jungengel, die für die Abschlussprüfung vorgesehen waren, vor die Oberengel, und wurden von diesen ihrer Begabung entsprechend eingeteilt. So durften sich die Jungengel, die sich während der Schulzeit im Kunstunterricht besonders viel Mühe gegeben hatten, an der Herstellung von weihnachtlichem Geschenkpapier beteiligen. Andere wiederum, die in der Schule herausragende handwerkliche Fähigkeiten bewiesen hatten, kamen in die Werkstatt, um dort mit den größeren Engeln Christbaumschmuck anzufertigen.
Nach und nach erhielt somit jeder Prüfling eine geeignete Aufgabe. Nur bei Kasimir wussten die Oberengel nicht so recht, wo sie ihn hinschicken sollten. Seine Noten waren in allen Fächern so schlecht, dass die Oberengel fürchteten, er würde die Abschlussprüfung in keinem Bereich bestehen. Dabei war Kasimir nun wirklich kein dummer oder ungeschickter Jungengel. Das Problem bestand wohl eher darin, dass er einfach zuviel Unsinn im Kopf hatte und sich nie so recht für die Schule interessieren wollte. Da die Oberengel
Kasimir dennoch eine Chance geben wollten, die Prüfung zu absolvieren und dadurch den Heiligenschein zu erhalten, zogen sie sich zu einer längeren Beratung zurück. Stundenlang überlegten und diskutierten sie, wo sie Kasimir denn nun einsetzen konnten. Doch das war gar nicht so einfach. Bei der Geschenkpapierherstellung würde er vermutlich das schöne Weihnachtspapier mit unansehnlichen Farbklecksen ruinieren und in der Christbaumschmuck-Werkstatt war zu befürchten, dass er mit den bunten Glaskugeln lieber Fußball
spielte, anstatt sie mit glitzerndem Gold- und Silberstaub zu verzieren. Und auch bei der Bearbeitung der Wunschzettel, welche die Kinder jedes Jahr an das Christkind schickten, wollten sie ihn auf keinen Fall mithelfen lassen. In seinem Übermut brachte Kasimir es sonst tatsächlich noch fertig, die Namen der Kinder auf den Geschenken absichtlich zu vertauschen. Nicht auszudenken, was das bei den kleinen Erdbewohnern an Heilig Abend für eine Enttäuschung gäbe, wenn sie dadurch die falschen Geschenke erhielten.
Nein, die Oberengel hatten es wahrlich nicht leicht mit ihrer Entscheidung. Wenn Kasimir doch wenigstens trotz seiner mehr als schlechten Schulnoten ein ruhiger und absolut friedfertiger Zeitgenosse gewesen wäre, hätten ihm die Oberengel reinen Gewissens einen Platz bei den Friedensengeln zuweisen können. Doch dort war Kasimir auf Grund seines schrecklichen Benehmens erst recht nicht gut aufgehoben. Dieser freche Bengel würde auf der Erde sicher noch weitaus mehr Unruhe unter den Menschen verbreiten, als diese
es ohnehin schon selbst taten. Und das war nun wirklich nicht die Aufgabe eines Friedensengels. Schließlich kam der Rat der Oberengel schweren Herzens zu dem Entschluss, Kasimir einen Platz in der himmlischen Weihnachtsbackstube zu geben. Wenn er dort für die Dauer der Abschlussprüfung von einem der erwachsenen Engel gut überwacht und mit zahlreichen kleineren Aufgaben wie zum Beispiel Rosinen zählen oder Spekulatiusmodeln sortieren betraut wurde, sollte es doch hoffentlich keine allzu großen Schwierigkeiten
geben. So kam Kasimir also in die himmlische Weihnachtsbackstube. Doch als der freche Jungengel Kasimir die ihm zugeteilte Arbeitsstätte betrat, brach ein lautes Protestgeschrei in der Backstube los. Sowohl die anderen Jungengel als auch die dort beschäftigten erwachsenen Engel wollten Kasimir auf keinen Fall um sich haben. Viel zu groß war ihre Angst, dass der kleine Lümmel ihnen die ganze Freude an der Arbeit mit seinen üblen Streichen zunichte machen würde. Aber die Oberengel beschwichtigten die aufgebrachten
Weihnachtsbäcker. "Jeder hat eine Chance verdient. Auch so ein frecher Schelm wie Kasimir!" erklärten sie lauthals, um das eifrige Stimmengewirr in der Backstube zu übertönen. "Außerdem", so versicherten sie ihnen, "wird Kasimir euch hoch und heilig versprechen, keine Dummheiten zu machen! Und sollte dies doch einmal der Fall sein, könnt ihr euch selbstverständlich bei uns beschweren!" Dann wandten sie sich an Kasimir, der seinen Blick sichtlich beschämt zu Boden gerichtet hatte,
und verlangten ihm das soeben erwähnte Versprechen ab. Dabei klangen Kasimirs Worte so eindringlich und ehrlich, dass selbst die größten Zweifler in der Backstube von der Aufrichtigkeit seiner Worte überzeugt waren. Und so durfte der kleine Engel erst einmal bei ihnen bleiben. Um Kasimir bei der Einhaltung seines Versprechens etwas zu helfen, nahm sich sogleich einer der erwachsenen Engel seiner an und teilte ihm eine leichte, aber doch recht lang dauernde Aufgabe zu. Kasimir sollte das Backpapier für die vielen
Bleche zurechtschneiden, die während der Weihnachtszeit benötigt wurden.
Obwohl der nach wie vor beschämte Jungengel nicht gerade sehr erfreut über diese eintönige Tätigkeit war, machte er sich dennoch sofort ans Werk und schnitt bis zum Ende seines ersten Arbeitstages fein säuberlich sämtliche Rollen Backpapier für die Bleche zurecht. Und auch am zweiten Tag gab Kasimir sich alle Mühe, den Frieden in der Backstube nicht zu stören, sondern verrichtete die ihm aufgetragene Arbeit mit größter Sorgfalt. Doch schon am dritten Tag fing er allmählich an, sich zu langweilen. Er fand es einfach
schrecklich ermüdend und frustrierend, stundenlang mit ein und derselben Aufgabe betraut zu werden, während die anderen Engel fröhlich durch die Backstube liefen und immer wieder etwas neues zu tun bekamen. Nur der Gedanke an sein gegebenes Versprechen und die strengen Blicke der anderen Engel ließen ihn trotz der stetig wachsenden Langeweile nicht über eine neue Dummheit nachgrübeln. Am vierten jedoch kam es schließlich, wie es kommen musste. Wieder einmal erhielt Kasimir eine ziemlich langweilige Aufgabe, während
den anderen Engel viel schönere und lustigere Arbeiten zugeteilt wurden. Der arme Kerl sollte bunte Zuckerperlen nach ihren Farben in verschiedene Schälchen sortieren und zudem die nicht mehr ganz so schönen Perlen beiseite legen. Missmutig machte Kasimir sich an die Arbeit und schielte dabei immer wieder voller Neid zu den anderen Jungengeln hinüber.
Diese hatten es viel besser als er. Sie durften den Teig kneten und ausrollen, die Plätzchen ausstechen und in den Ofen schieben, und diese später sogar wieder herausholen und mit allerhand Zuckerzeug und Schokolade verzieren. Wie gerne hätte Kasimir auch einmal eine dieser Aufgaben übernommen! Seufzend betrachtete er die zahlreichen Perlen, die er noch sortieren musste. Dann aber huschte plötzlich ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht. Der kleine Schlingel hatte mal wieder nichts als Unsinn im Kopf. Blitzschnell
nahm er eine Hand voll Zuckerperlen und warf sie einem anderen Engel, der gerade ein großes Backblech voller leckerer Weihnachtsplätzchen aus dem Ofen geholt hatte, geradewegs vor die Füße. Noch ehe dieser überhaupt wusste, wie ihm geschah, rutschte er auch schon auf den bunten Perlen aus und fiel der Länge nach auf die Nase. Und mit ihm natürlich all die schönen, leckeren Plätzchen. Kaum dass der arme Engel zu Boden gestürzt war, brach Kasimir auch schon in schallendes Gelächter aus.
Der Anblick des völlig verdutzten Unglücksraben war für den frechen Bengel einfach zu komisch. Die anderen Engel in der Backstube hingegen fanden das gar nicht lustig. Während sich einige von ihnen kopfschüttelnd daran machten, die ruinierten Weihnachtsplätzchen wieder aufzuheben, knöpften sich die anderen erst einmal den Übeltäter vor. Voller Empörung bauten sie sich vor ihm auf, um ihn zur Rede zu stellen. Kasimir hörte abrupt auf zu lachen.
Die wütenden Blicke seiner Kameraden verhießen wahrlich nichts Gutes. "Was hast du dir nur dabei gedacht?" riefen sie erbost. Kasimir senkte verschämt den Kopf und flüsterte kleinlaut: "Ich wollte doch nur ein bisschen Spaß!" Die anderen Engel warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Denn mit Spaß hatte dieser Vorfall für sie wahrhaft nichts zu tun. Kurz entschlossen packten sie Kasimir daher am Kragen und brachten ihn zu den Oberengeln, um dort ihrem Ärger Luft zu machen. In ernstem Ton erzählten
sie, was sich soeben in der Backstube zugetragen hatte. Die Oberengel konnten die Aufregung um diesen üblen Streich gut verstehen und waren ebenfalls sichtlich verärgert darüber. Dennoch baten sie die Engel, Kasimir nach einer angemessenen Bestrafung wieder in der Weihnachtsbäckerei aufzunehmen. Aber die Engel lehnten diese Bitte lautstark ab. "Kommt gar nicht in Frage! Wer weiß, was sich dieser Frechdachs sonst noch alles so einfallen lässt!" entgegneten sie empört. Die Oberengel gaben sich hilflos
geschlagen. Mit einem leisen Seufzer entließen sie die nach wie vor aufgebrachten Bäckergesellen und schickten Kasimir auf sein Zimmer, damit sie in Ruhe über eine Strafe nachdenken konnten. Traurig saß der kleine Bengel nun auf seinem Bett und starrte zum Fenster hinaus. Jetzt hatte er sich durch eine einzige törichte Handlung doch tatsächlich um seine Chance auf den so wichtigen Heiligenschein gebracht! Was sollte denn jetzt nur aus ihm werden? Ohne Heiligenschein war er doch niemals ein richtiger Engel! Nur
die Jungengel hatten noch keinen Heiligenschein, weil sie sich diesen erst verdienen mussten. Aber zu den Jungengeln gehörte Kasimir im Grunde gar nicht mehr so recht, weil seine Schulzeit doch eigentlich schon vorbei war. Und eine Arbeitsaufgabe für erwachsene Engel würde Kasimir ohne bestandene Abschlussprüfung und ohne Heiligenschein ganz sicher nicht bekommen. Nein, um die Zukunft des kleinen Schlingels war es wirklich nicht gut bestellt.
Das dachten auch die Oberengel, als sie über eine mögliche Bestrafung für Kasimir Rat hielten. Stundenlang sprachen sie über die mehr als schwierige Situation, in die sich der übermütige Schelm gebracht hatte, und sannen über eine mögliche Bestrafung nach. Bevor sie jedoch zu einem endgültigen Entschluss kommen konnten, trat plötzlich einer der Friedensengel ein, um ihnen eine weitere schlechte Nachricht zu überbringen. Zwei seiner Kameraden aus der Friedensschar hatten sich eine schwere Erkältung zugezogen,
nachdem sie in einem Eisstadion mehrere Streitigkeiten zwischen einigen recht temperamentvollen Eishockeyspielern hatten schlichten müssen. Deshalb lagen die beiden Friedensengel nun krank im Bett und würden ihren Dienst wohl nicht so bald wieder antreten können. Da die übrigen Friedensengel aber ihre Arbeit als Streitschlichter auf Dauer nicht alleine bewältigen konnten, brauchten sie nun dringend neue Mitarbeiter. Andernfalls war ein friedfertiges und geruhsames Miteinander unter den Menschen während der Weihnachtszeit
in höchster Gefahr. Die Oberengel waren sehr bestürzt, als sie das hörten, und vergaßen darüber sogar ihre Diskussion um Kasimirs Bestrafung. Statt dessen suchten sie nun fieberhaft nach einer Lösung für ihr neues Problem. Zumal der Frieden auf Erden während der Weihnachtszeit oberste Priorität hatte. Doch leider war es gar nicht so einfach, dieses wahrhaft große Problem zu bewältigen. Immerhin waren sämtliche Engel bereits auf andere Bereiche verteilt, und erfüllten dort ebenfalls sehr wichtige Aufgaben. Wenn
die Oberengel auch nur einen von ihnen so plötzlich von ihrem Arbeitsplatz wegholten, um ihn in der Friedensschar einzusetzen, würde an eben diesem Arbeitsplatz wieder jemand fehlen. Bald schon kämen dann sicher die nächsten Klagen und die Oberengel stünden erneut vor einem Problem.
Außerdem war es auch gar nicht so einfach, einen geeigneten Kandidaten für die Schar der Friedensengel zu finden. Zumal nicht jeder Engel über das erforderliche Höchstmaß an Disziplin und Friedfertigkeit verfügte, dass für diesen Bereich nun mal unerlässlich war. Was also sollten sie nur tun?
Nachdem die Oberengel auch nach etlichen Stunden immer noch zu keinem Ergebnis gekommen waren, meldete sich erneut der Friedensengel zu Wort, der ihnen die schlechte Nachricht überbracht hatte. "Ich weiß, dass es sehr schwierig ist eine passende Vertretung für meine kranken Kameraden zu finden. Aber vielleicht könntet ihr uns wenigstens einen Assistenten schicken, der mit uns über die Menschen auf der Erde wacht, und einen von uns Friedensengeln bei Streitigkeiten schnell zu Hilfe holt. So hätten wir zumindest
eine kleine Arbeitserleichterung!" Als die Oberengel die dringliche Bitte hörten, schwiegen sie zunächst betroffen und sahen sich ratlos an. Dann aber schoss ihnen mit einem Male der Name des kleinen Lausebengels durch den Kopf, über den sie eigentlich hatten sprechen wollen:
Kasimir! Der vorwitzige Schelm war zu diesem Zeitpunkt der einzige Engel, der noch zur Verfügung stand. Obwohl die Oberengel nur allzu gut wussten, dass die Schar der Friedensengel wahrlich nicht der richtige Bereich für Kasimir war, schien es dennoch keine andere Möglichkeit zu geben. Zumal außer ihm kein anderer Engel mehr da war und die Friedensengel ohne eine Hilfskraft sonst tatsächlich Gefahr liefen, an ihrer Aufgabe als Streitschlichter zu scheitern. Insgeheim überkam die Oberengel dabei zugleich die Hoffnung,
dass sich der freche Jungengel Kasimir durch die Mithilfe in der Friedensschar im Laufe der Zeit vielleicht sogar ein wenig bessern würde. Denn schließlich konnte er dort Tag für Tag sehen, wie unter den Menschen Ruhe und Frieden verbreitet wurde, noch bevor es überhaupt zu einer Katastrophe kam. Kurz entschlossen ließen sie Kasimir zu sich rufen, um ihm ihren Entschluss mit zu teilen. Als der kleine Jungengel den Raum betrat, schlotterten ihm vor lauter Angst die Knie, so sehr fürchtete er sich vor der nun folgenden
Bestrafung. Als er dann jedoch die Nachricht von seiner neuen, wenn auch allerletzten Chance vernahm, fiel ihm wirklich ein Stein vom Herzen. Voller Erleichterung und Dankbarkeit sank er vor den gütigen Oberengeln auf die Knie und hob dabei wie zum Schwur die rechte Hand. "Habt vielen Dank für eure Gnade und Nachsichtigkeit! Ich gebe euch mein Wort, dass ich mich strikt an jede Anweisung halten und diese Chance um nichts in der Welt zunichte machen werde!" Dann stand Kasimir langsam auf und verabschiedete
sich von den Oberengeln, ehe er mit dem Friedensengel fortging, um seine neue Aufgabe anzutreten. Der Friedensengel nahm seinen neuen Assistenten behutsam an die Hand und flog mit ihm hinunter auf die Erde. Als sie über einer kleinen Stadt waren, machte er halt und erklärte Kasimir seine neue Aufgabe. "In dieser Stadt wohnen sehr viele Menschen, die sich wahrlich nicht besonders gut verstehen, und immer wieder anfangen zu streiten. Darum musst du nun Tag und Nacht hoch in der Luft über die Menschen hier
wachen und sofort einen Engel aus der Friedensschar zu Hilfe holen, sobald sich dort unten ein Streit anbahnt. Denn gerade zur Weihnachtszeit ist es wichtig, den Frieden auf Erden zu wahren, und allen Menschen ein freundliches Miteinander zu ermöglichen!" Kasimir nickte bedächtig und versprach inbrünstig, seine Aufgabe pflichtbewusst und ordnungsgemäß zu erfüllen. Bevor der Friedensengel ihn jedoch alleine ließ, mahnte er Kasimir noch, auf keinen Fall selbst bei einem Streit unter den Menschen einzugreifen.
Denn dies war allein Aufgabe der Friedensengel, und konnte die Situation andernfalls sogar noch verschlimmern. Kasimir, der seine neue Aufgabe sehr ernst nahm, versicherte dem Engel, dass er auch diese Anweisung befolgen wollte und machte sich umgehend an die Arbeit. Tag und Nacht flog er nun über die kleine Stadt und wachte mit großem Eifer über die Bewohner. Dabei stellte Kasimir schon sehr bald fest, dass der Friedensengel mit seiner Beschreibung über die Menschen in der Stadt wahrlich nicht übertrieben hatte.
Sie verstanden sich tatsächlich nicht besonders gut und fanden immer wieder einen Grund sich zu streiten. Somit hatte Kasimir wirklich allerhand zu tun und musste jeden Tag zahlreiche Friedensengel herbeiholen, um die Streithähne wieder miteinander zu versöhnen. Einmal zankte sich ein älteres Ehepaar über das abendliche Fernsehprogramm, ein anderes Mal waren es einige Nachbarsfamilien, die sich nicht über die Nutzung des gemeinschaftlichen Gartens einigen konnten, und dann wieder herrschten sich zwei Passanten
an, weil der eine den anderen versehentlich angerempelt hatte. Und jedes Mal holte Kasimir so schnell er nur konnte einen der Friedensengel, damit dieser die Situation wieder ins reine brachte. Ja, der kleine Jungengel gab wirklich sein bestes und hielt sich stets genau an die Vorschriften. Eines Tages jedoch, als sich in der Stadt wieder einmal ein Streit unter den Menschen anbahnte, war Kasimir gezwungen, sämtliche Vorschriften außer acht zu lassen. Es war der Tag vor Heilig Abend. Wie gewohnt drehte Kasimir
seine Runden über der Stadt und wachte aufmerksam über die Bewohner. Zunächst schien alles soweit ruhig zu sein. Dann aber entdeckte er plötzlich eine große Menschengruppe, die sich laut keifend und zeternd auf dem Marktplatz eingefunden hatte. Kasimir hielt erschrocken inne und hörte, wie sich die Menschen die übelsten Dinge an den Kopf warfen. Vorsicht flog er näher und erfuhr dabei nur wenige Augenblicke später den Grund für die lautstarke Auseinandersetzung: in diesem Jahr sollte erstmals für alle Bewohner
ein gemeinsamer Weihnachtsgottesdienst abgehalten werden, damit sich die beiden Kirchengemeinden in der kleinen Stadt wieder etwas näher kamen. Das Problem jedoch war, dass sich weder die Bewohner noch die beiden Pfarrer der Gemeinden darüber einig werden konnten, in welcher Kirche das große Ereignis stattfinden sollte. Kasimir erkannte sehr wohl, dass sich die Lage mit jeder weiteren Minute verschlechterte und flog sofort los, um einen der Friedensengel zu holen. Minutenlang zog er suchend umher, ohne jedoch
auch nur einen einzigen Engel aus der Friedensschar zu entdecken. Offenbar waren ausgerechnet in diesem Moment alle Friedensengel im Einsatz. Was sollte Kasimir jetzt nur machen? Ratlos kehrte an den Ort des Geschehens zurück und sah voller Entsetzen, wie der Streit unter den Menschen immer schlimmer wurde. Mittlerweile beschimpften sie sich nicht nur gegenseitig, sondern fingen auch an, ihrem Nebenmann mit der erhobenen Faust zu drohen. Da erblickte Kasimir plötzlich ein kleines Mädchen, das sich ängstlich gegen
eine Hauswand lehnte und den Streit aus sicherer Entfernung beobachtete. Der kleine Jungengel wusste sofort, dass er den fürchterlichen Streit der Erwachsenen nur mit Hilfe dieses Mädchens beenden konnte. Denn das kleine Mädchen wusste sehr wohl, wie das Problem der Erwachsenen zu lösen war, traute sich aber nicht, in das Geschehen einzugreifen. Kurz entschlossen näherte Kasimir sich daher dem Kind und drang tief in seine Gedanken ein, um ihm all seinen Mut und seine Kraft für die Beendigung dieses fürchterlichen
Streites zu übermitteln. Dann geleitete er das kleine Mädchen behutsam zu einer Bank am Rande des Marktplatzes. Mit zitternden Knien kletterte das Mädchen auf die Bank und wandte sich mit einem eindringlichen Appell an die aufgebrachte Menschenmenge. "Hört doch bitte auf euch zu streiten! Warum könnt ihr denn nicht gemeinsam nach einer Lösung für das Problem suchen?" Kaum, dass die streitenden Bewohner die Worte des kleinen Mädchens vernommen hatten, verebbte ihr lautes Stimmengewirr mit einem Schlag.
Schweigend glitt ihr Blick hinüber zu der Bank, auf der das inzwischen gar nicht mehr so ängstliche Mädchen mit verschränkten Armen vor ihnen stand und sie herausfordernd ansah.
Minutenlang herrschte eisige Stille auf dem großen Marktplatz. Dann aber machte sich bei einigen Bewohnern sichtliche Empörung breit. "Wie soll denn diese Lösung aussehen, du kleiner Naseweis?" ereiferten sie sich lautstark.
Das tapfere Mädchen aber ließ sich dadurch nicht beirren. Voller Entschlossenheit entgegnete es sogleich: "Wir müssen den Weihnachtsgottesdienst doch gar nicht in einer der beiden Kirchen abhalten.
Der Marktplatz hier ist doch viel größer und schöner!" Minutenlang herrschte betretenes Schweigen unter den Leuten. Dann aber ging plötzlich ein leises Raunen durch die Menge, das sich allmählich in freudige Zustimmung verwandelte. Die Idee des kleinen Mädchens fand schon bald großen Anklang bei den Bewohnern. Und obwohl sich einige von ihnen insgeheim ein wenig dafür schämten, dass ihnen dieser Gedanke nicht selbst gekommen war, herrschte mit einem Male wieder eine fröhliche und unbeschwerte Stimmung auf
dem Marktplatz. Kasimir, der die Situation mit klopfendem Herzen aus einiger Entfernung beobachtet hatte, war überglücklich, dass sich Dank des kleinen Mädchens doch noch alles zum Guten gewendet hatte. Selig betrachtete er die friedlich-vereinten Menschen, als plötzlich einer der Friedensengel hinter ihm auftauchte und ihn wortlos aufforderte, mit ihm zu kommen. Kasimir ahnte sofort, dass ihm gewiss nichts Gutes bevorstand. Schließlich hatte er trotz des strengen Verbotes die Aufgabe der Friedensengel übernommen,
und sich in einen heftigen Streit unter den Bewohnern der kleinen Stadt eingemischt.
Vermutlich würden ihm die Oberengel nun endgültig den Heiligenschein verwehren und sich obendrein noch eine harte Strafe für seinen Verstoß ausdenken. Doch obwohl Kasimir wusste, dass er nun auch seine allerletzte Chance verloren hatte, war er keineswegs bedrückt oder gar traurig. Im Gegenteil! Nie zuvor in seinem Leben war er so froh und voll innerer Zufriedenheit gewesen wie in diesem Moment. Selbst seine größten Schelmentaten hatten ihm nicht solch ein wohliges Gefühl vermitteln können.
Daher trat Kasimir auch ohne Angst und Sorge vor die Oberengel, die ihn bereits in ihrem Raum erwarteten. Mit ernster Miene wandten sie sich an den kleinen Jungengel und erklärten: "Leider mussten wir soeben erfahren, dass du trotz aller Versprechen gegen die strengen Vorschriften der Friedensschar verstoßen hast. Aber da wir von den Friedensengeln wissen, dass du in höchster Not gehandelt und ohne jeglichen Eigennutz einen schlimmen Streit unter den Menschen bereinigt hast, sind wir zu dem Entschluss gekommen,
dass du die Abschlussprüfung schon jetzt bestanden hast und deinen wohlverdienten Heiligenschein zusammen mit den anderen Jungengeln erhalten wirst. Zudem möchten dich die Engel der Friedensschar gerne bei sich aufnehmen, da sie einen so besonnen und engagierten Friedensboten wie dich sehr gut brauchen können!" Kasimir konnte sein Glück zunächst kaum fassen. Dann aber brach er in lautes Jubelgeschrei und dankte den Oberengeln von ganzem Herzen für ihre weise und großherzige Entscheidung.
So kam es, dass Kasimir einige Tage später bei der Abschlussfeier nicht nur seinen wohlverdienten Heiligenschein bekam, sondern auch eine Urkunde, die ihm die Zugehörigkeit zu der Schar der Friedensengel bescheinigte. Seitdem sorgt der einst so freche Jungengel Kasimir nun als besonnener Friedensbote für eine geruhsame und friedvolle Weihnachtszeit.
Eingereicht am 13. April 2006.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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