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Schnee

© Sebastian Krebs


Frederick wachte auf, seine Mutter hatte ihn bereits zweimal gerufen; er kletterte mit müden Augen aus dem Bett, wankte ins Badezimmer, wo er sich wusch und anzog, das kann er nämlich schon seit einigen Jahren selbstständig. Bevor er die Schultasche umschnallte und das Haus verließ, öffnete er das siebente Türchen seines Adventskalenders, welches eine Eisenbahn aus Schokolade enthielt. Er liebte diese Schokolade, in den Jahren zuvor hatte er sogar beschummelt, alle Türchen am ersten Tag aufgerissen, nur um die köstliche Schokolade zu verschlingen. In diesem Jahr wollte er aber standhaft bleiben, wenn seine Ungeduld auch immer belohnt wurde, indem seine Eltern ihm einen zweiten Kalender aus dem Supermarkt mitgebracht hatten.
Im November, am fünften um genau zu sein, war Frederick acht Jahre alt geworden, die Grundschule in seinem Dorf besucht er nun schon in der zweiten Jahrgangsstufe. Eigentlich ging Frederick gerne zur Schule, gehörte er auch zu den Ruhigeren in seiner Klasse, zu jenen, die nie sonderlich aufgefallen waren, von denen die Lehrerin aber dennoch einen ordentlichen Eindruck hatte. Doch in diesen Tag war alles anderes, der Junge fürchtete sich regelrecht vor dem Unterricht, viel mehr davor, dass die Lehrerin tatsächlich über die Weihnachtswünsche der Kinder reden wird. Frederick hatte nämlich einen ganz besonderen Wunsch, einen Wunsch den er niemand anvertrauen wollte, aus Angst, dieser würde sonst nicht in Erfüllung gehen.
Doch schon am nächsten Morgen, laut seinem Adventskalender war es der achte Dezember, war es soweit, sein Freund Alexander erzählte detailliert von der großen Ritterburg, die er sich zu Weihnachten wünsche, genau sechs hohe Türme müsse sie haben, ein Gefängnis und als Eingang ein Falltor, dass sich über einen breiten Graben erstreckt, die Ritter alle mit Schild und Schwert ausgestattet und einen bösen Drachen, für dessen Tötung man die Prinzessin zur Frau nehmen dürfe. Patrick dagegen wünschte sich ein Rennauto, ferngesteuert, dass man es mit über zwanzig Stundenkilometern über die Straße jagen kann. Rot müsse es sein, genau wie die aus dem Fernsehen. Caroline hatte gerade ihren Puppenwunsch zu Ende beschrieben, automatisch laufen und sprechen solle diese können, als die Lehrerin Frederick tief in die Augen schaute, und ihn aufrief, der Klasse von seinem großen Weihnachtswunsch zu erzählen. Er antworte ruhig, dennoch, dafür dass er erst acht Jahre war, bestimmt, dass er niemandem davon erzählen wolle, damit der Wunsch auch Wirklichkeit werden kann. Damit aber gab sich die Lehrerin nicht zufrieden, sie bohrte weiter nach, drängte Frederick regelrecht dazu, mit seinem Wunsch rauszurücken. Den Tränen nahe und derart unter Druck gesetzt antwortete er ehrlich, was er sich zum Weinachtsfest erträumt. Um der Lehrerin etwas vorzuschwindeln war er einfach zu aufrichtig. "Ich wünsche mir Schnee. Nichts als Schnee" flüsterte er, die Kinder um ihn herum starrten ihn an, einige begannen zu lachen, machten sich lustig über ihn, dass dies doch kein anständiger Wunsch sei, dass man sich Schnee nicht einfach wünschen kann, wenn einem gerade danach ist. Doch Frederick beharrte auf seinem Wunsch, wiederholte ihn nochmals klar und deutlich, rannte dann aber aus dem Klassenzimmer hinaus und schluchzte. Zum einen, weil sie über ihn gelacht haben, zum anderen, weil er spürte, dass er weiße Weihnachten nun vergessen kann.
Auch die Lehrerin war über den sonderbaren Wunsch des Jungen so verwundert, dass sie sich mit seinen Eltern kurzschloss, ihnen alles, was in der Unterrichtsstunde passiert war, genau schilderte: "Alle anderen haben sich Spielsachen gewünscht, Autos, Puppen und Ritterburgen. Ihr Sohn aber macht mir Sorgen. Schnee hat er sich gewünscht, nichts als Schnee."
Stets darum bemüht, ihrem Sohn seinen Willen zu geben, beschlossen die Eltern, dass sie ihm zu der Ritterburg,die sie schon vor drei Wochen für die Bescherung besorgt hatten, seinen Schnee geben würden. Sie riefen zuerst mehrere Meteorologen an, mit der Bitte, das Wetter für den Weihnachtsabend vorherzusagen, doch es sah ganz und gar nicht nach Schnee aus, stattdessen sollte der Himmel bewölkt sein und leichte Regentropfen fallen. Enttäuscht hingen sie den Hörer ein und grübelten weiter nach, bis dem Vater eine Idee kam, nämlich dass er am Tag vor Weihnachten in den Norden reisen und den Bewohnern dort eine Schachtel Schnee abkaufen würde.
Der heilige Abend war, wie man es sich so vorstellt: Ein wunderschön geschmückter Tannenbaum, die herrliche Weihnachtskrippe, das ganze Haus duftete nach Plätzchen. Es war leicht bewölkt draußen; wie die Meteorologen vorher gesagt hatten, war von Schnee keine Spur. Nach dem Festessen rief der Vater dann zur Bescherung, zuerst überreichte er die Ritterburg, über die Frederick sich nur mäßig freuen konnte. "Ich heiße doch nicht Alexander", dachte er. Dann aber gab der Vater ihm diese Schachtel, verpackt in blauschimmerndem Papier. Gespannt auf den Inhalt, tappte der Achtjährige nervös von einem Fuß auf den anderen. Dann riss er das Papier herunter und starrte entsetzt in die Schachtel: Wasser. Nichts als Wasser. Der Schnee war geschmolzen.
"Aber Papa, hast du wirklich geglaubt, du könntest mir Schnee kaufen?", fragte Frederick, ziemlich reif für sein Alter. "Ritterburgen kann man kaufen. Puppenhäuser kann man kaufen. Rennautos vielleicht. Aber Schnee? Ich hätte meinen Wunsch lieber für mich behalten."
Enttäuscht ging Frederick auf sein Zimmer, legte sich aufs Bett und wischte mit einem Taschentuch seine Tränen weg.



Eingereicht am 07. April 2006.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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