Es ist ein Ros' entsprungen ...
© Birge Laudi
Und sie gebar ihren erstgeborenen Sohn zu der Zeit, als große Arbeitslosigkeit herrschte und die Menschen ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten. Sie wickelte das Kind in Windeln, steckte es in eine Plastiktüte und trug den Knaben in der Tüte hinaus in die klirrende Kälte. Vor dem Haus öffnete sie den Deckel der blauen Altpapiertonne und legte die Plastiktüte mit dem wimmernden Kind hinein. Krachend schlug der Deckel zu und niemand konnte mehr das leise Wimmern des Neugeborenen in der Plastiktüte hören.
Die junge Frau ging wieder hinauf in ihre schäbige Wohnung im Dachgeschoss des Plattenbaus an der Hafenstraße. Sie goss sich ein großes Glas Schnaps ein und löste darin eine Packung Schlaftabletten auf. Nachdem sie den Todescocktail getrunken hatte, legte sie sich in ihr Bett und wartete auf das Sterben. Und während sie allmählich hinüberdämmerte in die tiefe Bewusstlosigkeit, die dem Tod vorauseilt, da hörte sie ein Singen die Straße heraufkommen: 'Es ist ein Ros' entsprungen...'
Es war Weihnachten. Sie lächelte und schlief langsam ein.
Lautlos webten die Schneeflocken vor dem Fenster der Frau einen weißen Vorhang und verhüllten ihre Armut, ihre Verzweiflung und Einsamkeit. Ein Engel aber ging im dichten Schneetreiben singend durch die Stadt.
Der Engel war alt und zerlumpt, in einer Hand trug er eine Schnapsflasche, mit der anderen hielt er die Fetzen seines Mantels zusammen. Es brabbelte vor sich hin, nahm hin und wieder einen Schluck aus der Flasche und wiederholte grölend die ersten Takte von 'Es ist ein Ros entsprungen...' Dann lachte er laut, trank und sang wieder.
Ab und zu hob der Engel den Deckel eines Mülleimers an, um nach Essensresten zu wühlen, nach gebrauchten Kleidungsstücken oder nach irgend etwas, das ihn vor der Kälte schützen könnte. Heute am Heiligabend.
So gelangte der betrunkene, grölende und frierende Engel auch zu der blauen Altpapiertonne vor dem Plattenbau. Der Engel wusste, Zeitungen wärmen, und so wollte er sich einen kleinen Vorrat sichern für die Nachtruhe auf der Parkbank. Als er den schweren Deckel anhob, da drang ein winzig kleines klägliches Wimmern an seine rotgefrorenen Ohren und mitten hinein in sein besoffenes Gehirn.
'Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart', grölte er los. Dann hatte endlich sein Gehirn begriffen, was seine Ohren gehört hatten. Er hob die wimmernde Plastiktüte heraus und spähte in das blutverschmierte Innere. Da lag, fast nackt und blaugefroren, ein neugeborener Junge. Er hing noch an Nabelschnur und Mutterkuchen, die ihn neun Monate lang so gut versorgt hatten und jetzt nutzlos waren.
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Eingereicht am 19. März 2006.
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