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Ein Weihnachtsbaum für Afshin

© Birge Laudi


Das Schicksal des kleinen Jungen aus Afghanistan hatte aufgerüttelt, der Spendenaufruf in der Zeitung ein unerwartet hohes Echo. Viel Geld war zusammengekommen. Es war Weihnachten und die Menschen waren bereit, Gutes zu tun.
Wenige Wochen später saß Afshin mit seiner Tante im Flugzeug nach Deutschland. Er flog einem neuen Leben entgegen.
Von den Spendengeldern sollte er Prothesen bekommen. Er würde wieder gehen können, müsste nicht den ganzen Tag vor der Lehmhütte sitzen und den anderen Kindern beim Spielen zusehen. Ja, er könnte sogar der Mutter wieder ein wenig helfen und Feuerholz tragen oder auf die kleinen Geschwister aufpassen. Er würde die Hühner füttern und Wasser vom Brunnen holen. Er wäre dann wieder der große Bruder, der den Vater ersetzen konnte. Den hatte der Krieg verschlungen und die Mutter weinte viel.
Afshin war acht Jahre alt und er war ein Krüppel. Beim unbekümmerten Spiel waren er und sein Freund Khalil auf ein Minenfeld aus dem letzten Krieg geraten. Dort hatten Soldaten Tretminen wahllos in die Erde gesteckt und nach Kriegsende ihre unheilbringende Saat vergessen. Khalil trat auf eine der Minen. Afshin verlor beide Unterschenkel, sein Freund Khalil aber verlor sein Leben.
Afshin blieb zurück als ein Kind ohne Zukunft. Klaglos aber unendlich traurig trug er sein Schicksal. Fragte ihn einer nach dem Verlust seiner Beine, da blitzte in seinen dunklen Augen ein unermesslicher Schrecken auf.
Nun ertrug der Junge tapfer auch die Trennung von seiner Familie. Bei seiner Ankunft in der deutschen Kinderklinik kam kein Ton des Jammerns über seine Lippen, lief keine Träne über seine Wangen. Er klagte nicht, wenn der Arzt ihm Blut abnahm oder eine Spritze gab. Er weinte nicht, als die Beinstümpfe noch einmal operiert werden mussten. Angst, Trauer und Schmerz standen nur in seinen dunklen Augen mit dem unergründlichen Blick einer fremden Kultur.
An Afshins Bett saß oft eine junge Krankenschwester. Schwester Tina sah ein wenig aus wie seine Mutter und sie brachte dem Jungen Bücher. Lesen konnte er sie nicht, doch die Bilder betrachtete er gerne und er sah sie immer wieder an, auch nachts, wenn er vor Heimweh nicht schlafen konnte.
In einem der Bücher fand er die Abbildung von einem wundersamen Baum. Dieser Baum war grün vom Boden bis zur Decke und an seinen Zweigen hingen rote und goldene Äpfel, Früchte, wie sie Afshin noch nie gesehen hatte. Auf den Zweigen saßen Hunderte von Lichtern; die strahlten wie die Sterne zuhause in den Bergen Afghanistans, wo der Himmel so nah war.
In Afshins Heimat war die Erde braun und trocken, die Tage waren heiß und die Nächte kalt. Es gab ein wenig Gestrüpp, aber es gab keine grünen Bäume mit buntschillerndem Obst und mit Sternen auf den Zweigen.
Immer wieder betrachtete Afshin den seltsamen Baum.
'Das ist ein Weihnachtsbaum', sagte Schwester Tina und wenn sie ihm dann vorlas, da hörte er ihre Stimme, aber er verstand die Worte nicht. Da begann Afshin mit Unterstützung seiner Tante Deutsch zu lernen und 'Weihnachtsbaum' - dieses Wort war das erste, das er in der fremden Sprache konnte.
Er ließ sich von Weihnachten erzählen, von geschmückten Bäumen und frohen Liedern und vielen Geschenken. Von allem aber war der Weihnachtsbaum das Schönste für ihn und einmal bat er, einen richtigen Weihnachtsbaum sehen zu dürfen. Doch da hieß es, Weihnachten sei längst vorbei. Nun sei Frühling und bald feiere man das Osterfest. Da gäbe es dann andere grüne Bäume mit buntem Schmuck.
Allmählich gingen die Spendengelder zur Neige, die Beinprothesen waren angepasst und die Heimreise für Afshin rückte näher. Die Ärzte und Krankenschwestern, die den kleinen Buben in ihr Herz geschlossen hatten, versprachen, ihm seinen sehnlichen Wunsch nach einem Weihnachtsbaum zu erfüllen, wenn er es schaffte, noch vor seiner Abreise mit den Prothesen frei gehen zu können.
Verbissen übte Afshin, doch es wollte einfach nicht klappen. Da war der kleine Junge traurig. Er hatte sich so sehr gewünscht, einmal vor einem Weihnachtsbaum zu stehen, die bunten Kugeln, die goldenen Sterne, die Engel und Lichter zu sehen. Und der Tag, da Afshin Deutschland verlassen sollte, kam unerbittlich heran. Er würde wieder in seine Heimat fliegen, ohne einen Weihnachtsbaum gesehen zu haben.
Doch Schwester Tina hatte einen Plan. Sie wusste, wo auch zu Ostern ein Weihnachtsbaum stand und den würde sie Afshin vor seiner Abreise zeigen; auch ohne, dass er auf den neuen Beinen stehen konnte.
Eines morgens verstaute sie einen Rollstuhl im Kofferraum ihres Autos. Dann holte sie Afshin und seine Tante. Ohne ihnen zu verraten, wohin die Fahrt ging, verließen sie die Stadt. Bei strahlendem Sonnenschein fuhren sie vorbei an grünen Wiesen, blühenden Sträuchern und durch viele Dörfer, in denen die Brunnen mit bunt bemalten Eiern geschmückt waren.
Schließlich gelangten sie in eine Stadt, die sah aus wie aus einem Märchen. Die Mauern und Türmchen und die windschiefen Häuschen mit den engen Gassen dazwischen - eine richtige Spielzeugstadt. Die Stadt hieß Rothenburg und sie war das Ziel ihres kurzen Ausfluges; denn hier stand auch zu Ostern ein Weihnachtsbaum.
Schwester Tina freute sich mit dem überraschten Jungen, während sie unter Anstrengung den Rollstuhl durch Rothenburg, bergauf und bergab über das holprige Kopfsteinpflaster der steilen Straßen, schob. Der kleine Afghane aber kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
So viele Dinge waren da, die er noch nie gesehen hatte. Da lagen hinter Fensterscheiben Krüge und Teller mit aufgeklebten Bildern der Stadt, Spielzeug und bunte Kleider, Berge von Fettgebackenem mit einer dicken Zuckerschicht, Bücher, bauchige Weinflaschen und leckere Würste. Vor den Türen der Häuser standen frischgrüne Bäumchen, an denen bunte Eier hingen, Vögelchen und Schleifen. Fast sahen sie aus wie der Weihnachtsbaum aus dem Bilderbuch. Auch der Brunnen auf dem Marktplatz war mit Girlanden aus Tannengrün und Hunderten von bemalten Eiern geschmückt.
Glücklich strahlte Afshin Schwester Tina an.
'Ist das Weihnachten?', fragte er?
'Nein, mein Junge, jetzt ist Ostern.' Und Tina lächelte verschmitzt, da sie wusste, Afshin würde trotz Ostern heute noch Weihnachten erleben.
Durch die Straßen Rothenburgs schoben sich Scharen von fröhlichen Menschen. Viele waren klein gewachsen, hatten schwarzes Haar, schräg stehende Augen und riesige Fotoapparate vor dem Bauch. Aufgeregt wies Afshin auf die Fremden, die ihn so merkwürdig heimatlich anmuteten.
'Schau dort! Die sehen aus wie die Hazara bei uns zuhause! Sind die alle aus Afghanistan?'
Die Hazara waren ein Volksstamm in Afghanistan mit schrägstehenden Augen, kleingewachsen und mit einem ähnlichen Aussehen wie ostasiatische Menschen.
'Das sind Japaner', sagte Schwester Tina. 'Die Japaner lieben Rothenburg sehr'.
Noch völlig verwirrt griff Afshin nach einer Tüte Erdbeereis, die ihm Schwester Tina entgegenhielt. Sie sagte:
'So, und jetzt gehen wir einen Weihnachtsbaum anschauen.'
Afshin verstand nun gar nichts mehr: Die Menschen, die wie die Hazara seiner Heimat aussahen, waren keine Hazara, sondern Japaner und erst hatte man ihm gesagt, es sei Ostern und nun war doch Weihnachten!
Vor lauter Staunen und Nachdenken über so viel Fremdes, vergaß er sein Eis zu essen und erst als ihm eine rosa Brühe über die Finger tropfte, leckte er an der ungewohnten Süßigkeit.
Als er sein Eis aufgegessen hatte, bogen sie in eine schmale Gasse ein. Dort lockten vollgestopfte Schaufenster zum Kaufen von Nützlichem und Nutzlosem, von Schönem und Teurem. In eines dieser Geschäfte schob Schwester Tina den Rollstuhl hinein und plötzlich saß der kleine Afghane, dessen neue Beine ihn noch nicht trugen, in einem glitzernden Märchenland aus Licht und leiser Musik und dem warmen Duft nach Zimt und Kardamom.
Afshin war im Weihnachtsland angekommen.
Ein riesiger Weihnachtsbaum stand da, wie aus seinem Bilderbuch im Krankenhaus. Auf den Zweigen steckten elektrische Kerzen und in ihrem Licht funkelten und glänzten bunte Kugeln aus hauchfeinem Glas, Glöckchen und Sterne, bemalte Vögel und Engel mit flaumig-fedrigen Flügeln. Auf einem Tisch stand eine Pyramide und über den Figuren und Kerzen auf dem Gestell drehte sich ein Rad aus hölzernen Flügeln. Das sah ein bisschen aus wie die Hubschrauber, die während des Krieges über Afshins Dorf geflogen waren.
Gruppen von bunten Holzmännern, die fast so groß waren wie seine neuen Beine, standen da. Sie hatten einen hohen Hut auf und rissen den Mund weit auf. Zwischen den kräftigen Zähnen steckte eine Nuss.
In seiner überschäumenden Begeisterung vergaß der kleine Junge, dass ihn seine Prothesen noch nicht trugen. Er stand einfach aus seinem Rollstuhl auf und ging mit ausgestreckten Armen auf den Weihnachtsbaum zu.
Ungeschickt wankte er von den Nussknackern zu den Räuchermännchen, von den Strohsternen zu den Krippenfiguren, von einem Märchen zum nächsten, strich vorsichtig über die Glaskugeln, rote, goldene, silberne und solche, die wie Seifenblasen aussahen und er konnte sich nicht satt sehen an all dem, was man in Deutschland als Weihnachten bezeichnete.
Und als er vor dem großen Weihnachtsbaum stand und voller Glück zu dem Engel auf der Baumspitze sah, da kam ihm plötzlich zum Bewusstsein, dass er auf eigenen Beinen stand. Er erschrak und schaute sich hilfesuchend nach Schwester Tina und seiner Tante um. Da verlor er das Gleichgewicht.
Ein Mann mit schwarzen Haaren und schräg stehenden Augen fing ihn auf, lächelte und sagte etwas in einer seltsam gequetschten Sprache, die Afshin nicht verstand. Ein Japaner, kein Hazara.
Endlich saß Afshin erschöpft, aber überglücklich, wieder in seinem Rollstuhl. Da kam der Japaner, der ihn vor dem Sturz bewahrt hatte, auf ihn zu und drückte ihm mit einer kleinen Verbeugung eine Kugel in die Hand. Es war eine Glaskugel und in ihrem Inneren sah man eine Frau mit langen Haaren und einem blauen Mantel, einen bärtigen Mann und vor den beiden auf einem Strohbündel ein nacktes Baby. Hinter ihnen stand ein kleiner Weihnachtsbaum mit einem Engel auf der Spitze. Wenn man die Kugel schüttelte, dann fielen dichte Schneeflocken auf den Baum und die kleine Familie.
Afshin dachte an die Mutter, die seine kleine Schwester auch auf ein Strohbettchen gelegt hatte, als sie zur Welt gekommen war. Und an seinen Vater, der einen riesigen schwarzen Schnurrbart gehabt hatte und wie der Mann in der Kugel neben der Mutter stand und liebevoll auf das kleine Mädchen geblickt hatte. Das war gewesen, bevor der Vater in den Krieg ziehen musste und erschossen wurde.
'Das ist die Heilige Familie', sagte Tina. 'Maria und Josef und das kleine Kind ist das Jesuskind. Es wird einmal König sein und allen Menschen das Heil bringen.'
Verträumt umschlossen Afshins Hände die gläserne Kugel mit dem kleinen König, der allen Menschen das Heil bringen würde. Auch ihm. Und er dachte darüber nach, was das sein mochte, das Heil. War es der Weihnachtsbaum?
Die Kugel mit dem Weihnachtsbaum und der Heiligen Familie, die aussah wie seine Familie zuhause in den Bergen von Afghanistan, die gab Afschin nicht mehr aus der Hand. Auch nicht, als er am nächsten Tag mühsam zwar, aber auf eigenen Beinen, in das Flugzeug stieg, das ihn nach Kabul bringen würde.
Afshin hatte in Deutschland etwas von dem verkündeten Heil gefunden. Er kam auf zwei Beinen und mit einem winzigen Weihnachtsbaum zurück in seine Heimat.



Eingereicht am 13. März 2006.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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