Das Familiensilber
© Birge Laudi
Es ist Weihnachten 1952. Meine Brüder und ich sind albern und meine Mutter hat schlechte Laune. Mein Vater hat sich in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch verschanzt. Hund und Katze sind überall im Weg. Astor, der Schäferhund liegt auf der Schwelle zum Wohnzimmer und meine Mutter, die zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her eilt, muss jedes Mal über den Hund steigen und schimpft jedes Mal: 'Das blöde Vieh.'
Meine Mutter liebt Tiere nicht. Am ehesten noch mag sie Hunde. Heute aber liebt sie auch den Hund nicht. Heute ist Weihnachten und sie liebt heute niemanden. Weder den Hund noch die Katze. Die hat sich verschreckt hinter den nackten Christbaum verzogen und glustert mit grünen Augen hinter meiner Mutter her. Die Katze liebt heute meine Mutter nicht und meine Mutter liebt Katzen sowieso nicht; weder an Heiligabend noch sonst.
Mich und meine Brüder liebt die Mutter heute schon gar nicht. Und über die Oma schimpft sie dauernd; die tut Frondienst in der Küche. Mein Vater ist unsichtbar geworden. Er weiß, dass meine Mutter ihn heute auch nicht liebt.
Weihnachten, das Fest der Nicht-Liebe.
Meine Brüder nehmen ihre Skier und ziehen durch den verschneiten Wald. Weg von der Furie, die das ganze Haus mit ihrer schlechten Laune überzieht. Wenn es dunkel wird, werden sie wiederkommen und sie werden nach Wald und frischer Luft riechen und sie werden noch alberner sein als vor ihrer Flucht.
Inzwischen habe auch ich schlechte Laune. Angeekelt fasse ich mit spitzen Fingern das Silberputztuch und reibe halbherzig am Suppenschöpfer, an Messern und Gabeln herum. An jedem Heiligabend, Jahr für Jahr, dürfen die Brüder albern sein und ich muss das Familiensilber blank reiben. Mit dem roten Tuch, das sich so komisch anfühlt, die Finger trocken und rissig macht und dann, wenn es allmählich schwarz wird, auch die Finger schwarz färbt.
Ich hasse dieses Tuch und ich hasse meine Mutter, weil ich das Silberbesteck putzen muss, das sie heimlich in ihrer Arzttasche nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei über die Grenze nach Bayern geschmuggelt hatte. Unter Lebensgefahr, wie sie immer betont.
Wie kann man nur sein Leben für ein Silberbesteck aufs Spiel setzen, frage ich mich zornig.
'Das erbst einmal du', hatte meine Mutter gesagt und sie sagt es jedes Mal wieder, wenn ich mich über das Silberputzen beschwere. Sie hat mich nie gefragt, ob ich das Silberbesteck auch wirklich erben will. Die Zinken der Gabeln sind so lang, dass man sich damit in den Gaumen sticht und die Löffel so groß, dass man die Suppe nur von ihnen herunterschlürfen kann.
'Das ist vornehm', sagt meine Mutter.
Meine Mutter steigt schimpfend über den Hund. Sie fegt herein ins Wohnzimmer und da sitze ich wie die lebendig gewordene schlechte Laune mit dem Silberzeug und ich bin damit ein Abklatsch meiner Mutter, wofür ich sie noch mehr hasse.
Meine Großmutter hat die Karpfensuppe ruiniert. Sie hat Zucker statt Salz hineingetan. Die Großmutter sagt, sie habe Salz genommen und keinen Zucker, die Karotten hätten die Suppe so süß gemacht.
Und nun ist die Großmutter beleidigt und will nicht mit uns Weihnachten feiern.
Inzwischen hat mein Vater seine Höhle verlassen, hat sich ins giftige Getümmel gestürzt und schmückt den Christbaum. Er hat eine Schallplatte aufgelegt. Die Krönungsmesse. Er hat sich ein Glas Wein eingegossen und dann hängt er versonnen einen Lamettafaden sorgfältig neben den anderen, selbst auf das kleinste Zweiglein. Stundenlang.
Meine Mutter läuft zu ganz großer Form auf. Sie schreit: 'Mach die Musik aus'.
Die Musik macht sie verrückt. Mein Vater sowieso.
'Der mit seinem Lametta!'
Sie paniert den Karpfen, die Küche stinkt nach heißem Fett. Meine Brüder bringen zusammen mit dem Duft der kalten Schneeluft nasse Klamotten und Schneebrocken an den Schuhen mit ins Haus. Hinein in die dicke Luft. Sie verziehen sich in ihr Zimmer. Ich höre sie lachen, und dann ein bisschen streiten und herumpoltern. Türen schlagen, im Bad rauscht Wasser, jemand hämmert an die Badtüre, Mozart jubelt vom Grammofon, die Großmutter tappt leise grummelnd umher und der Hund verdreht seine Augen so, dass man das Weiße
sieht.
Und ich muss das Familiensilber putzen, das ich einmal erben soll und das nicht mehr vollständig ist. Man hatte in Bayern meine Mutter bestohlen und dabei hatte sie doch ihr Leben für das Besteck aufs Spiel gesetzt.
Noch bin ich nicht entlassen aus diesem Narrenzirkus. Ich putze zu langsam.
'Du spielst dich, wie immer', giftet meine Mutter. 'Das machst du bloß, dass du nichts anderes helfen musst.'
Ich bin beleidigt.
Dann soll ich das gute Tischtuch auflegen, das ich um meinen Bauch gewickelt als Achtjährige über die Grenze nach Bayern geschmuggelt hatte. Zu Leuten, die es für uns aufheben würden, wenn wir einmal aus der Tschechoslowakei rauskommen würden. Die Servietten haben sie uns gestohlen. Ich lege andere auf den Tisch zu der geschmuggelten Toledo-Decke. Was eine Toledo-Decke ist, weiß ich nicht, aber meine Mutter nennt sie so und sagt, die habe ihre Mutter gestickt. Die andere Großmutter, die, die schon tot ist. Das
Tischtuch ist hellblau und hat ein Lochmuster und mein großer Bruder sagt, das hellblaue habe er geschmuggelt. Ich hätte das rosafarbene um den Bauch gehabt.
Mein Vater, der Besinnliche, der Ruhige, der Liebhaber von Licht und Musik, er bringt die kleinen Kerzenleuchter in Ordnung, die vor jedem Platz stehen.
Dann endlich darf ich von Silber und Tischtuch lassen, meine schwarzen Hände waschen und das gute Kleid anziehen.
Der Spuk ist vorüber. Es ist Heiligabend. Es gibt Fischsuppe, diesmal süß, gebackenen Karpfen und Kartoffelsalat. Alles vom guten Geschirr, vom glänzenden Silber auf dem guten Tischtuch. Das alles haben wir gerettet. Die Tschechen haben es nicht bekommen. Meine Mutter ist zufrieden. Ich nicht, denn ich weiß, dass vom Fisch die Messer und Gabeln und von der Fischsuppe die Schöpfkelle und die Löffel dunkel anlaufen werden und ich sie vor dem nächsten Fest wieder putzen muss.
Mein Vater steht am Kopfende der festlichen Tafel und verliest das Weihnachtsevangelium.
Meine Brüder lachen bei der Stelle '...und die war schwanger'. Da lachen sie jede Weihnachten und ich lache jede Weihnachten mit, weil sie lachen. Wir sind in dem albernen Alter zwischen 11 und 15 Jahren. Noch keine kleinen Erwachsenen. Wir müssen unbeschwerte Kindheit nachholen und wir holen sie gründlich nach.
Jeder von uns zündet sein Kerzchen an der großen Kerze in der Mitte der Tafel an. Erst mein Vater.
'Ich zünde mein Licht für alle Gefallenen und Kriegsgefangenen an'. Er schluckt und er schaut furchtbar ernst.
Dann meine Mutter: 'Ich zünde mein Licht für alle Verstorbenen an'.
Es sind viele.
Meine Großmutter denkt an die verlorene Heimat und ihre in ganz Deutschland verstreuten Verwandten und sie sagt: 'Ich zünde mein Licht für alle Heimatvertriebenen und Entrechteten an'.
Ich weiß nicht, was Entrechtete sind, aber meine Mutter sagt, dass ich es auch bin.
Noch ist der Krieg gegenwärtig. Er ist um uns und wir werden ihn nicht los. Die paar Jahre Frieden haben es nicht geschafft, ihn aus unserer Familie zu tilgen. Der Frieden hat noch lange nicht Fuß gefasst.
Meine Geschwister und ich zünden traditionsgemäß unsere Lichter für unsere Paten und deren Familien an.
Ich denke an den Onkel Willi. Er ist gefallen. Er war der Mann meiner Taufpatin und Tante Klara ist nun allein mit den sechs Kindern. Sie ist sehr arm.
Der Patenonkel des jüngeren Bruders ist noch immer irgendwo in Russland und der ältere ist der einzige, der sein Licht für eine normale Familie entzünden kann und darauf ist er stolz.
Wir sind nicht mehr albern, meine Brüder und ich. Wir wissen um die vielen Toten, die an diesem Abend durch das Licht unserer Kerzen auferstehen und mit uns feiern.
Wir reichen uns die Hände, wünschen uns ein frohes Fest und sind traditionsgemäß froh und meine Mutter weint ein bisschen, und die Oma auch. Und meine Mutter sagt, das ist alles nur, weil ich so schlecht gelaunt sei und so faul. Und das sagt sie jede Weihnachten und obwohl ich es gewöhnt bin, bin ich nicht mehr weihnachtsfroh, sondern wieder sehr beleidigt. Meine Großmutter streichelt meine Hand. Keiner sagt etwas.
Und gemäß unserer Tradition werden dann zuerst die Tiere beschert und Hund und Katze bekommen jedes wegen des frohen Festes eine Knackwurst. Astor, der Schäferhund verschlingt sie laut schmatzend und lacht dabei übers ganze spitze Hundegesicht und die Katze spielt Katz und Maus mit ihrer Knackwurst.
'Ehre sei Gott in der Höh' und Friede den Menschen auf Erden.'
Eingereicht am 02. Februar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Home Page
|
Kurzgeschichten
|
Gedichte
|
Seitenanfang