Weihnachtsmarotten und andere Kapriolen
© Enrico Andreas Brodbeck
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Weihnachtsfest, und ich sitze vor unserem halbfertig geschmückten Weihnachtsbaum und schwelge in Gedanken. Mir fällt die Zeit ein, als ich noch zu Hause bei meinen Eltern wohnte und mein Vater traditionell am Heiligen Abend den Weihnachtsbaum schmückte. Eine Aufgabe die der Chef des Hauses, in diesem Fall meine Mutter, ihm höchst persönlich aufgetragen hatte. Mein Vater hatte wie jedes Jahr zu Weihnachten keinen leichten Stand. Schon die Prozedur einen geeigneten Weihnachtsbaum
ausfindig zu machen, wurde im Beisein meiner Mutter zu einer Geduldsprobe, die mein Vater jedes Mal mit Bravour meisterte, indem er meine Mutter mit Ruhe und Besonnenheit gewähren lies. Das Schmücken des Baumes war abhängig von der Laune und Kreativität meiner Mutter. Das bedeutete, dass unser Weihnachtsbaum jedes Jahr in einem anderen farblichen Glanz erstrahlte. Und jedes Jahr am Heilig Abend wurde ein Höhepunkt zelebriert, der die Feierlichkeiten erst zur Vollendung brachte. Das Anbringen der Christbaumspitze!
Eine Prozedur, die meine Familie mit erwartungsvoller Spannung verfolgte. So auch unsere Großeltern, die mit uns gemeinsam in einem Haus wohnten. Opa war nämlich stets darauf bedacht, dass sein Sohn diese Tradition aufrecht hielt und diese gewissenhaft an seine Kinder weiter gab.
Bei diesem feierlichen Akt, saß Opa wieder jedes Jahr in seinem Lehnsessel und beobachtete genüßlich das Tagwerk meines Vaters. Er kam auch nicht darum herum darauf hinzuweisen, dass ein guter Schluck vom feinen Gerstensaft für die notwendige Entspannung und die Gewißheit sorgen würde, dass der Baum in besonders hellem Glanz erstrahlen würde. In diesem Sinne ging es ihm natürlich auch um sein Wohlergehen und das seines Sohnes. Oma war mit dieser Vorgehensweise nicht einverstanden und rügte Opa, indem sie ihm
einen leichten Klaps mit der flachen Hand in den Nacken gab.
"Je oller, desto doller", sagte sie dann, nicht ohne einen ernsten Unterton. Opa amüsierte sich seinerseits darüber und antwortete mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck: "Ja, ja meine Elli ist immer noch so stürmisch wie am ersten Tag", und gab ihr einen Klaps auf den Po. Von dieser Art der Tuchfühlung war Oma nicht überzeugt und verschwand eilenden Schrittes in der Küche, um ihrer Schwiegertochter beim Zubereiten des Festmahles zur Hand zu gehen.
Wenig später folgte, der mit Spannung erwartete Akt. Die Christbaumspitze wurde feierlich hervorgeholt und dem Weihnachtsbaum aufgesteckt.. Obwohl Opa und mein Vater bis zu diesem Moment schon eine Menge Gerstensaft intus hatten, verlief die Prozedur eigentlich immer reibungslos. Mein Vater richtete die Leiter aus und Opa stellte sich schon einmal in Pose, um das Lot mit dem Auge zu peilen. Die Christbaumspitze war ein Gebilde aus feinem Glas, das silbern schimmerte und am oberen Ende mit einem federähnlichem
Schmuck versehen war. Der Weihnachtsbaum war wie immer so groß, das er mit der Christbaumspitze fast bis zur Wohnzimmerdecke reichte. Sobald mein Vater das gute Stück angebracht hatte, konnte Opa seine militärische Vorliebe nicht zurückhalten. "Ka- upftata, ka- upftata, ka- upf, ka- upf, ka- upftata" schnaufte es jedes Mal aus ihm heraus. Der Feldmarschall Graf Josef Radetzky hätte an Opa seine wahre Freude gehabt.
Mit allen militärischen Ehren die er kannte, schlurfte Opa in seinen alten Pantoffeln um den Baum herum. Opa war noch vor 1900 geboren und hatte uns immer angedroht über Hundert Jahre alt zu werden.
"Ich habe den Kaiser überlebt, Adolf und Stalin, und wenn dieser Scheiß Körper nicht dem Zerfall preisgegeben wäre, ich würde euch junges Gemüse auch noch überleben", sagte er und sackte wenig später entkräftet in seinen Lehnsessel.
Trotz dieser Mühseligkeiten die vor dem eigentlichen Fest immer stattfanden, waren die Weihnachtstage für mich die schönste Zeit im Jahr, an die ich mich immer wieder gerne erinnere. 1995 jedoch, sollte die alljährliche Prozedur eine äußerst kritische Phase erreichen.
Mit einer geübten Routine schmückte mein Vater den Weihnachtsbaum. In diesem Jahr war Lila die Wunschfarbe meiner Mutter und anstelle der handelsüblichen klar leuchtenden Lichterkette, musste unser Weihnachtsbaum in diesem Jahr bunt wie ein Harlekin leuchten. So die Meinung meines Vaters, der sich mit dieser Äußerung nicht gerade bei meiner Mutter einschmeichelte. Und weil Opa der Situation nicht ernstes abverlangen konnte, gab er spöttisch zum Ausdruck: "Setz der Narretei doch endlich die Spitze auf",
und erntete von seiner Schwiegertochter bitterböse Blicke.
"Kiek me nech so an, als wolls me in de Groaf breng!"
Wohlweißlich seiner Missetat bewußt, antwortete er in Plattdeutsch, was ihm die notwendige Distanz zu ihr verschaffte. In der Zwischenzeit holte mein Vater den Karton mit der Christbaumspitze vom Dachboden. Was daraufhin geschah, könnte man als ein Wechselbad der Gefühle bezeichnen. Die Christbaumspitze war durch einen widrigen Umstand im Laufe des Jahres zu Bruch gegangen und lag zerbröselt in dem Karton. Während mein Vater mit seiner roten Nase sichtlich amüsiert meiner Mutter diese peinliche Angelegenheit
mitteilte, brach für sie eine Welt zusammen. Ein Weihnachtsbaum ohne Christbaumspitze, wäre für sie wie Maria und Josef ohne das Christkind. Ein Umstand, den sie auf gar keinen Fall hinnehmen wollte. Für mich rückte das Fest der Liebe in weite Ferne, denn die Geschäfte hatten schon alle geschlossen und eine Notlösung für diese Situation war nicht in Sicht. Alle Bemühungen seitens meines Vaters das Fest noch zu retten scheiterten daran, dass meine Mutter ihm den Vorwurf machte, nicht mit der notwendigen Sorgfalt
ans Werk gegangen zu sein.
Opa saß wie gewohnt in seinem Lehnsessel und verfolgte mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck das Geschehen. Als die Situation zu eskalieren drohte, stand er in aller Gemütsruhe auf und schlurfte mit bedächtigen Schritten in sein Zimmer. Als er an mir vorbei schob, konnte ich ihn die Klänge des Radetzkymarsches summen hören. "Na Opa, groovt der Beat wieder?" Aber Opa schlich unbeirrt an mir vorüber. Nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte, konnte man aus seinem Zimmer einige geschäftige
Geräusche hören. Nach einer viertel Stunde ging dann die Türe auf und Opa stand in einem gleißend hellem Licht, das von einem Baustrahler ausging, in dem Türrahmen und hielt etwas sonderbares in seiner erhobenen Hand, das nun vor mir liegt und darauf wartet traditionell auf die Spitze meines Weihnachtsbaumes gesteckt zu werden.
Das sonderbare Teil, das Opa da in seiner Hand hielt, war der goldene Paradeschmuck zum Aufstecken für die Pickelhaube seiner kaiserlichen Majestät Wilhelm I., Kaiser von Deutschland.
"Dieses edle Schmuckstück habe ich dem Blödmann von Kaiser stibitzt, als ich noch ein Lausebengel war und er einmal zu Besuch in unserer Stadt war", sagte Opa nicht ohne stolzem Unterton und schlurfte an uns vorüber. Fassungslos starrten wir auf das goldene Utensil und waren sprachlos. Mit einem zackigem "Ka- upftata, ka- upftata, ka- upf, ka- upf, ka- upftata, hielt er den Radetzkymarsch zum Besten, stieg etwas wackelig die Leiter empor und steckte voller Stolz den Paradeschmuck auf die Weihnachtsbaumspitze,
richtete den Federschmuck aus und stieg freudestrahlend die Leiter herunter. Wahrlich ich sage euch, es bereitete sich ein kaiserlicher Glanz in unserem Wohnzimmer aus und die Augen meiner Mutter leuchteten, als wäre ihr der Weihnachtsengel persönlich erschienen. Somit konnte das Fest der Liebe, das nun in wahrlich kaiserlichem Licht erstrahlte, friedvoll gefeiert werden.
Opa ist keine hundert Jahre alt geworden. In der Nacht zu Silvester, gegen 23:45 Uhr, hat er das zeitliche gesegnet. Nun wird er seiner kaiserlichen Majestät, wahrscheinlich gehörig den Marsch blasen. Manchmal fehlt mir dieser verschrobene alte Kauz mit seinen Geschichten und Eigenarten. Ich schaue auf, nehme mein Glas mit Gerstensaft und proste ihm zu. "Prost Opa, und frohe Weihnachten"
Eingereicht am 12. Februar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
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