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Der Weihnachtswunschkoffer der Annika Grankvist

© Ulrike Baumann


Dunkelheit und Stille lag über Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt. Eine dicke Schneedecke bedeckt die winterkarge Landschaft.
Seit die Sonne Ende November für 1500 Stunden hinter dem Horizont verschwunden ist, bleibt es auch untertags dunkel. Die Schneedecke reflektiert die Lichter von Mond und Sternen und somit ist es nicht ganz so trostlos. Das Dämmerlicht zur Mittagszeit reicht immerhin aus um die Tageszeitung zu lesen.
Anfang des Jahres hatte Annikas Vater einen Job auf einer der Bohrinseln im Tromsøflaket angenommen und so übersiedelte die Familie Grankvist von Stockholm nach Hammerfest. In Hammerfest zu leben bedeutet Abgeschiedenheit - bis zur nächsten größeren Stadt sind es mindestens 500 km. Unter dieser Abgeschiedenheit hatte Annika die erste Zeit sehr gelitten. Sie sehnte sich anfangs nach der von Menschen und Leben überfluteten Großstadt. Doch mit der Zeit begann sie sich in der neuen Umgebung wohl zu fühlen. Immerhin zählt Hammerfest stolze 10.000 Einwohner, ist seit 1789 eine richtige Stadt und außerdem die erste Stadt in Norwegen, die eine elektrische Straßenbeleuchtung bekam.
Wenn die Sonne zum ersten Mal wieder über den Horizont schielt, feiert man ein großes Fest. An diesem Tag wird nicht gearbeitet und die Kinder haben schulfrei.
Im Sommer geht die Sonne für zwei Monate gar nicht unter. Das ist dann die Zeit, die die Kinder in Hammerfest besonders lieben und während der die Mütter ihre liebe Not haben, sie zum Schlafengehen zu bewegen.
Aber jetzt ist Polarwinter und bis Weihnachten sind es nur mehr 24 Tage.
Annika freute sich heuer besonders auf dieses Fest, auf die Großeltern und auch auf Tante Astrid und Onkel Sven, die den weiten Weg von Karlskrona herauf nach Hammerfest fahren, um das Weihnachtsfest gemeinsam mit der Familie zu verbringen. Während man am Weihnachtsmorgen gemeinsam in der Kirche die heilige Messe feiert, hoffen die Kinder wie jedes Jahr, dass dem Weihnachtsmann der Weg nach Hammerfest nicht zu weit sein wird. Sie freuen sich auf den Tisch der süßen Sachen, der traditioneller Weise mit sieben verschiedenen Sorten Gebäck gedeckt ist und auf die leckeren Fleisch- und Fischgerichte, die man abends im Familienkreise verspeisen wird.
Annika saß am Fensterbrett und blickte zum Himmel hinauf. Auf einmal sah sie ein zartes grüngelbes Licht, das wie ein Vorhang im sanften Wind über dem Horizont flatterte und Bögen und Strahlen in verschiedenen Lichtfarben bildete.
"Das muss ein Polarlicht sein", dachte sie und erinnerte sich an die Geschichte, dass sich Weihnachtswünsche bestimmt erfüllen, wenn man diese in einen Koffer packt während ein Polarlicht am Himmel zu sehen ist.
Schnell sprang Annika vom Fensterbrett und zog den kleinen Koffer, den sie aus Stockholm mitgebracht hatte, unter ihrem Bett hervor. Sie stellte ihn auf den Schreibtisch, holte rasch ein Blatt Papier und begann zu schreiben:
"Meine Weihnachtswünsche"
Sie biss an ihrem Bleistift herum, denn so recht wollte ihr nichts einfallen. Da gab es eine Puppe, die sie vor einiger Zeit im Schaufenster von Dag Svensons Spielzeugladen bewundert hatte. Schön wäre es schon, eine solche Puppe zu bekommen, aber noch schöner wäre es, wenn der Weihnachtsmann diese Puppe der kleinen Lene bringen würde, die sehr krank ist.
"Bestimmt wird sie dann schneller gesund", hoffte Annika. Sie schrieb also: "Bitte bringe der kleinen kranken Lene die wunderschöne Puppe aus Dag Svensons Spielzeugladen, und mach dass sie bald wieder gesund wird."
Bei Olsons am Hauptplatz gab es wunderschöne rote Stiefel mit Pelz gefüttert. Die wären auch schön und würden besonders gut zu Annikas blauem Mantel passen. Aber bestimmt hätte ihre Freundin Therese viel mehr Freude mit den neuen Stiefeln.
Die Mutter von Therese wurde vor einigen Wochen von ihrem Arbeitgeber gekündigt. Personaleinsparungen hieß es. Das Arbeitslosengeld war nicht viel und reichte gerade für das Notwendigste. "Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir, dass du meiner Freundin Therese die hübschen Stiefel von Olsons bringst", schrieb Annika auf den Wunschzettel.
"Könnte er nicht auch für Thereses Mutter einen neuen Arbeitsplatz beschaffen? " dachte sie laut und blickte zum Fenster hinaus. Das Polarlicht war noch da. Rasch fügte sie hinzu: "Ein neuer Arbeitsplatz für Thereses Mutti wäre auch sehr schön." Dann fiel ihr auch die alte Agneta ein, die immer so alleine ist. Ihre Kinder leben weit weg in Amerika. Sie telefonieren zwar oft aber der Weg nach Hammerfest ist ihnen zu weit. Annika nahm all ihren Mut zusammen und schrieb:
"Lieber Weihnachtsmann, bitte sorge dafür, dass die alte Agneta ein schönes Weihnachtsfest hat. Du fährst doch mit deinem Rentierschlitten auch über Amerika. Nimm Agnetas Kinder einfach mit, und bringe sie nach Hammerfest."
Da ihr während dem Schreiben immer wieder die Haare ins Gesicht fielen, fügte sie noch einen Satz hinzu:
"Lieber Weihnachtsmann, für mich bringe bitte eine hübsche Haarspange, damit mir beim Schreiben nicht immer die Haare ins Gesicht fallen. Deine Annika."
Sie blickte kurz zum Fenster und stellte mit Erleichterung fest, dass das Polarlicht noch da war. Rasch packte sie den Wunschzettel in den Koffer, zog ihren warmen Mantel an und schlich die Treppe hinunter zur Haustüre.
"Annika, bist du das", rief ihre Mutter aus der Küche. Wo sich Annika doch so bemüht hatte, keinen Lärm auf der Treppe zu machen. Nun stand sie da, vor ihrer Mutter, mit dem Koffer in der Hand.
"Wo gehst du den hin?", fragte die Mutter und blickte etwas erstaunt auf den Koffer in Annikas Hand. "Willst du fort?"
"Nein, ich bin gleich wieder da, ich bringe nur meinen Wunschkoffer zum Polarlicht, du weißt doch - wegen der Weihnachtswünsche", antwortete Annika.
"Aber geh nicht zu weit", mahnte die Mutter, "es ist so bitterkalt und du könntest dich verirren. Es reicht, wenn du deinen Koffer draußen am Ende des Gartenzaunes hinstellst, das Polarlicht ist heute so hell, dass es den Koffer sicher erkennen kann."
Sie lächelte und öffnete ihrer Tochter die Haustüre.
Es war bitterkalt und Annika beeilte sich, den Koffer beim Gartenzaun abzustellen. Er wurde vom Polarlicht hell beleuchtet. Sie dachte noch einmal ganz fest an die Weihnachtswünsche im Koffer und lief zum Haus zurück.
Die Zeit bis zum heiligen Abend verging sehr rasch. Für den Tisch der süßen Sachen mussten die schmackhaften Gebäcke vorbereitet werden und dabei durfte der Kransekake, der traditionelle Maronenkranz nicht fehlen.
Endlich war er da, der 24. Dezember. Zeitig in der Früh, noch vor dem Kirchgang, stellte Annika eine Schüssel Julegrøt, eine Weihnachtsgrütze aus Sauerrahm für den Weihnachtsmann und seine kleinen Helfer, die "Julnissen" ins Fenster. Die "Julnissen" sind kleine eifrige Wichtel, die jedoch sehr ärgerlich sein können und gerne böse Streiche spielen, wenn am Heiligen Abend keine leckere Grütze im Fenster steht.
Am Vormittag machten sich die Bewohner von Hammerfest auf zur Kirche. Annika ging zusammen mit ihren Großeltern. Auf ihrem Weg begegnete ihre die kleine Lene mit ihren Eltern. Zwar noch ein wenig wackelig auf den Beinen, nach ihrer langen Krankheit, aber mit gesunden, roten Backen und glücklichen Augen. In Ihren Händen hielt sie eine Puppe. Es war die Puppe, die sich Annika für Lene gewünscht hatte.
Und da war auch Therese mit ihrer Mutter. Sie strahlte und flüstere Annika zu. "Seit gestern hat Mutti einen neuen Job, ganz in unserer Nähe. In der Bäckerei Svenson. Sie ist so froh und glücklich."
"Ich freue mich auch für deine Mutti", sagte Annika, während sie an Therese hinabblickte. "Du hast die schönen Stiefel von Olsons bekommen?"
"Ja, heute Morgen standen sie neben meinem Bett - es muss der Weihnachtsmann gewesen sein."
Annika staunte und dachte bei sich, dass das mit dem Polarlicht und dem Wunschkoffer doch nicht nur eine alte Geschichte sein kann. Es muss wohl etwas Wahres daran sein. In der Kirche ließ Annika ihre Augen über die vollen Sitzreihen gleiten, um noch irgendwo einen Platz für ihre Großeltern und sich zu finden. Ihre Augen blieben an der alten Agneta hängen, die hier in der Kirchenbank im Kreise ihrer Kinder saß. Alle lachten, umarmten sich und freuten sich, beisammen zu sein.
Während der feierlichen Messe in der kleinen Kirche von Hammerfest waren Annikas Gedanken die ganze Zeit bei dem kleinen Koffer mit den Weihnachtswünschen. Sie konnte es gar nicht erwarten, wieder zu Hause zu sein und lief als erstes rasch zum Gartenzaun. Der kleine Koffer stand noch so da, wie sie ihn hingestellt hatte. Sie öffnete ihn und drinnen lagen eine kleine goldene Haarspange und ein Brief.
"Liebe Annika, wie gut ist es, dass es noch Menschen gibt, die die kleinen Dinge des Alltags wahrnehmen und ins rechte Licht rücken, die Ohren haben, die die kleinen Schwingungen und Untertöne im Gespräch mit anderen aufnehmen, die Hände haben, die nicht lange überlegen, ob sie helfen sollen, die ein liebend Herz haben, von dem sie sich leiten lassen, die voller Freude sind und diese Freude auch an andere weitergeben können.
Ich hoffe, du hast Freude mit der Haarspange. Ich habe sie dem Engel Gabriel "abspenstig" gemacht. Er hat sie mir gerne gegeben, als ich ihm sagte, dass sie für dich bestimmt sei. Ich wünsche dir ein frohes und schönes Weihnachtsfest."
Unterschrieben war der Brief mit "Dein Weihnachtsmann".



Eingereicht am 30. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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