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Schöne Bescherung

© Manuel Hilmer


"Ich finde das einfach nicht fair!"
Die offene, goldene Lockenpracht flog in einem wütenden Bogen von der einen auf die andere Schulter.
Er versuchte das Christkind zu besänftigen, indem er seine tellergroßen Hände sachte auf und ab bewegte.
Mit geringem Erfolg.
"Letztes Jahr haben mich immer wieder frischgebackene Eltern verdutzt gefragt, warum ich denn die Geschenke bringe..." - für einen kurzen Moment vibrierte sein ganzer, zierlicher Körper vor Zorn - "....und nicht DU!"
Um ein wenig Zeit zu gewinnen, bestellte er sich erst einmal einen heißen Glühwein mit einem ordentlichen Schuss Rum. Hier oben am Nordpol genoss er dieses warme, wohlige Gefühl in seiner Kehle immer besonders.
"Was kann ich denn dafür, wenn du die letzten Jahrzehnte immer langsamer geworden bist! Vor..."
"Ich bin nicht langsamer geworden!" unterbrach ihn das Christkind giftig. Seine niedliche Stupsnase kräuselte sich vor Wut.
"... VOR VIELEN JAHRHUNDERTEN" fuhr er mit erhobener Stimme fort "haben wir uns die Arbeit doch gerecht aufgeteilt. Du hast West- und Süddeutschland bekommen und ich Nord- und Ostdeutschland. Stimmt doch, oder?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
"Und du weißt selbst, wie stressig das immer an Weihnachten mit dem Geschenke verteilen ist. Viele Leute glauben ja immer noch, dass es auf der ganzen Welt nur einen Weihnachtsmann gibt!"
"Oder nur ein Christkind!" fügte es mit trotziger Stimme hinzu.
Der Weihnachtsmann hatte sich zurückgelehnt und seine Hände ruhten nun auf seinem medizinballgroßen Bauch. Er fuhr unbeirrt fort:
"Aber du glaubst ja, dass du trotz dieser Wahnsinnsarbeit immer auch noch Zeit dazu hast, mit den Eltern zu ratschen! Darum muss ich dir - alle Jahre wieder - immer auch noch Geschenke aus deinem Säckchen abnehmen. Glaubst du, ich bin da scharf drauf?"
"Ja, das glaube ich! Ich glaube nämlich, dass du dir schön langsam ganz Deutschland unter den Nagel reißen willst, mein Lieber! Ich hätte meinen Teil jedes Jahr auch alleine geschafft!"
Der Weihnachtsmann schüttelte nur verächtlich den Kopf und ließ das Christkind weiterreden.
"Ich glaube halt, dass ein guter Kontakt zu den Vätern und Müttern viel wichtiger ist als deine alljährliche, herzlose Express-Lieferung!"
Jetzt konnte man die Zornesröte trotz seines dichten Bartes durchschimmern sehen.
"Wieso den bitte?! Wir besorgen die Geschenke, wir liefern sie, was sollen wir denn noch alles machen?"
Das Christkind schüttelte verständnislos den Kopf.
"Wie kann man seinen Job nur mit so wenig Begeisterung machen?!"
"Immer noch besser, als wenn Eltern teilweise bis 9 oder gar 10 Uhr abends mit der Bescherung warten müssen! - Jaah, da brauchst du jetzt gar nicht so zu schauen, Christkindl, ich weiß Bescheid!"
Beide schwiegen nun mit trotzigen Mienen.
Nach einer Weile sagte schließlich der Weihnachtsmann:
"Hör mal Christkind, ich mach dir einen Vorschlag. Dieses Weihnachten tauschen wir unsere Gebiete. Du machst den Norden und Osten und ich den Westen und Süden. Und bevor wir jeweils zum nächsten Haus weiterfliegen, fragen wir den jeweiligen Vater, ..."
- "...oder Mutter!" klinkte es sich schnell ein -
"...ja, ja! - oder die jeweilige Mutter! Wir fragen sie also, wie sie es im Vergleich zum Vorjahr fanden."
Das Christkind strich nachdenklich sein weißes Gewand glatt.
"Abgemacht! Aber wir nehmen die Antworten der Eltern mit unseren goldenen Hörnern auf, dann kann keiner von uns betrügen."
Der Weihnachtsmann spielte kurz Entrüstung vor, nickte dann aber schließlich.
Und so machten sich das Christkind und der Weihnachtsmann am nächsten Tag schon früh auf den Weg in Richtung Deutschland, denn es war Heiligabend.
Auf dem Flug in den Norden Deutschlands musste das Christkind oft in seine himmlische Landkarte sehen, fand aber schließlich sein erstes Haus. Eine groß gewachsene Mutter wartete bereits mit roten Backen auf dem Balkon.
"Nanu, wer bist denn du?"
"Ich bin das Christkind und bringe Euch heuer Eure Geschenke, liebe Frau."
"Aha, ja dann ... Dankeschön!" Die Mutter wollte sich bereits wieder abwenden und in ihr Haus zurückgehen, als ihr das Christkind hinterher rief:
"Warte, gute Frau! Wie fandest Du es denn heuer?"
"Wie fand ich was?" Die Frau trat ungeduldig von einem auf das andere Bein.
"Na, den Geschenk-Service dieses Jahr, den meine ich, gute Frau"
Es fühlte sich bei dieser Frage etwas unwohl, da die Mutter ja gar keinen besonderen Service bekommen, augenscheinlich aber auch keinen gewollt hatte. Von ein bisschen Erziehungsberatung, wie es das Christkind eigentlich hie und da gerne anbot, ganz zu schweigen.
"Na ja, das kann ich eigentlich erst sagen, wenn mein Kleiner die Geschenke ausgepackt hat. Aber wir haben eh gleich Bescherung, warte doch noch kurz."
Und damit nahm das Unheil seinen Lauf.
20 Minuten später lugte die Frau mit tiefen Falten auf der Stirn wieder hinaus. Das Christkind strich sich gerade gedankenverloren über seinen linken Flügel.
"Sag mal, Christkind, von einer Kugelbahn stand aber nichts auf dem Wunschzettel!"
"Na ja, das kommt schon mal vor, dass wir - äh... ich improvisiere. Eine Kugelbahn ist doch aber auch was nettes, oder?"
"Für einen Zwölfjährigen? Wie soll er denn die Kugeln in seinen Computer bekommen?"
Das Christkind konnte darauf hin nur mit den Flügeln zucken und machte sich schnell auf den Weg zum nächsten Haus. Das goldene Horn, welches dekorativ in seinem prachtvollen Haar steckte, hatte alles aufgenommen. Leider.
Auch beim nächsten Haus trat keine Besserung ein. Ein Chemiebaukasten für eine Dreijährige. Aber wie konnte das sein, fragte es sich, auf dem Päckchen hatte eindeutig eine goldene Zwei gestanden und dies hier war das zweite Haus auf seiner Route.
Als das Christkind nach dem dritten Haus einen weiteren Kopf schüttelnden Vater hinter sich gelassen hatte, kam ihm ein schlimmer Verdacht:
Der Weihnachtsmann und das Christkind hatten am Abend zuvor die Säcke vertauscht!
Der Weihnachtsmann im Süden indes hatte bei den ersten paar Häusern seinen Irrtum gar nicht bemerkt. Express-Lieferung halt. Schließlich war ihm jedoch siedend heiß sein goldenes Horn eingefallen und er nahm sich fest vor, den nächsten Elternteil nach seiner Beurteilung zu fragen.
Während er bis dato noch zufrieden von Haus zu Haus geflogen war, änderte sich das nun schlagartig. Der nächste Vater hatte nämlich, um den Weihnachtsmann besser beurteilen zu können, die Geschenkverpackung ein wenig aufgerissen und hinein gelugt.
"Torwarthandschuhe? Meine Tochter reißt mir den Kopf ab!"
Der Weihnachtsmann gab hastig vor, zu seinem vor dem Haus wartenden Rentier zu müssen. Das goldene Horn, versteckt in seinem dichten Bart, hatte alles aufgenommen. Leider. Und so gesellte sich auch bei ihm eine Panne zur nächsten. Eine Barbie-Puppe für den Pubertierenden, ein Rennrad für den Zweijährigen, ein Fernseher für die Fünfjährige - halt! - darüber hatte sich der betroffene Vater trotzdem sichtlich gefreut.
Der Weihnachtsmann entschloss sich schließlich dazu, das Interview nach der Geschenk-Übergabe sein zu lassen und gab seinem Rentier stattdessen jedes Mal hastig die Sporen. Damit war er sogar noch schneller fertig als in den Jahren zuvor.
Das Christkind hingegen versuchte bei den restlichen Geschenken noch das Beste aus seiner Lage zu machen. Es riss alle seine Geschenke schon zuvor auf und verteilte sie so gut als möglich. Mit den letzten, verärgerten Elternstimmen im goldenen Horn flog es erst kurz vor Mitternacht zurück zum Nordpol.
In der Bar traf das Christkind den Weihnachtsmann, der sich tief in seinen Stuhl gegraben hatte. Vor sich einen Glühwein - augenscheinlich nicht der erste an diesem Abend. Er grinste dem Christkind schlapp, aber wissend entgegen.
"Na, das war ja ein schönes Schlamassel, was?"
Das Christkind setzte sich, rieb sich erschöpft die schmerzenden Flügel und antwortete:
"Ja, jetzt haben wir die Bescherung!"
Ohne etwas dagegen tun zu können, mussten beide kurz lachen. Das Christkind bestellte sich ebenso einen Glühwein. Nach unzähligen Jahrhunderten das erste Mal.
"Du, Christkind..." setzte der Weihnachtsmann an und kratzte sich dabei verlegen in seinem wuchtigen Bart.
Das Christkind nickte verstehend.
"Wir beide, Weihnachtsmann, wir beide." Es nahm einen tiefen, ersten Schluck seines Glühweins.
Als ob es Medizin wäre.
"Ich glaube, dank unserer beiden Dickschädel haben wir ganz unsere eigentliche Aufgabe vergessen."
Der Weihnachtsmann nickte langsam mit gesenktem Blick.
"Glückliche Kinder" sagten beide wie aus einer Kehle.
Sie saßen in dieser Nacht noch lange bei Glühwein und alten Geschichten beisammen.



Eingereicht am 22. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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