Jedem seine Weihnacht
© Anja Posner
Die Vorweihnachtszeit endete, wie jedes Jahr, mit dem krönenden Abschluss, dem Heiligen Abend. Es war der Abend, an dem Marianne Wünschling es sich für gewöhnlich mit einer üppigen Entenkeule und einer guten Flasche Wein oder auch zwei sehr gut gehen ließ. Als es an jenem Abend an ihrer Tür klingelte, war sie gerade der Wanne entstiegen und hatte es sich mit einem ersten Gläschen vorzüglichem Sancerre gemütlich gemacht. Es war kurz nach acht, und Marianne hatte niemanden eingeladen. Lust auf Besuch hatte sie
eigentlich auch nicht, denn Marianne Wünschling gehörte zu den Menschen, die allein leben und mögen, dass es so ist. Sie hatte den Auszug ihrer Kinder begrüßt und auch als Exgatte Alfons aus der gemeinsamen Wohnung auszog, hatte das Marianne nicht traurig gemacht. Eher im Gegenteil, aber Marianne hatte gelernt, mit derlei Äußerungen vorsichtig zu sein. Doch zurück zum Klingeln, zurück zu Marianne, die zunächst gar nicht öffnen mochte, dann siegte die Neugier. Sie schlurfte an die Tür und drückte auf den Summer.
Wer sollte sie am Heiligen Abend, um diese Zeit und dazu völlig unangemeldet besuchen kommen? Marianne stellte sich mit verschränkten Armen in die Tür und wartete auf den, der keuchend und polternd die Treppe hinauf kam.
Man kann sagen, dass sie wirklich staunte, als es der Weihnachtsmann selbst war. Die Verkleidung saß perfekt. Marianne grinste anerkennend. Was für eine nette Idee der Kinder oder die der Nachbarin oder ihrer Freundin Hannelore, ging es Marianne durch den Kopf, dann sagte sie artig "Guten Abend" und starrte ihr Gegenüber an. Nett sah er aus. So richtig echt.
"Guten Abend." - Dann schwiegen und starrten beide.
"Was kann ich für Sie tun?", wollte Marianne wissen und er wollte dasselbe von ihr wissen. Und wieder Schweigen.
"Na, ich meine, wer schickt Sie denn?" Wieder grinste sie, diesmal ein wenig verunsichert, vielleicht auch mütterlich, was ihr wenig angemessen erschien, aber es passierte einfach.
"Niemand schickt mich, ich komme von allein", war seine Antwort.
"Ach, was sollen Sie da draußen rum stehen, kommen Sie doch rein." Marianne öffnete die Tür etwas weiter, damit er eintreten konnte.
Er schob sich mit seinem dicken Bauch an ihr vorbei und nachdem er seine wuchtigen Stiefel abgestreift hatte, bat sie ihn, in der Küche Platz zu nehmen, was er gern tat. Er sah müde aus.
"Wenn Sie einen Augenblick warten würden. Ich will nur …" Sie sah an sich herunter, dann wieder zu ihm.
Er versicherte ihr, dass es nicht nötig sei, sich für ihn in Schale zu werfen.
Von Schale könne keine Rede sein, erklärte sie. Sie würde sich nur überhaupt etwas anziehen wollen. Dabei fand sie seine Vermutung vermessen. Vielleicht war er ja doch nur ein Strolch.
Sie lief eilig ins Schlafzimmer, schlüpfte in ein Paar olle Jeans und zog den Wollpulli mit dem riesigen Konterfei eines Elches über. Dann betrachtete sie sich einen Moment lang im Spiegel und fand das Gewählte dem Abend und der Situation angemessen.
Marianne Wünschling war weder einfältig noch gutgläubig. Sie war nicht mehr die Jüngste, aber auch keineswegs senil. Der Mann in ihrer Küche war ein engagierter Laiendarsteller und Marianne eine alleinstehende Frau. Vielleicht hätte sie keinen Fremden in ihre Wohnung lassen sollen, aber es war Weihnachten, und Marianne hatte noch nie von etwas Bösem gehört, das im Weihnachtsmannkostüm daher gekommen war. Was sollte es also? Die Gänsekeule war für einen allein ohnehin zu groß und sie hatte für den Abend keine
weiteren Pläne als gut zu essen, sich ein wenig zu betrinken und dann vielleicht fern zu sehen. All das ging auch zu zweit.
"Möchten Sie Cappuccino?, Espresso?, oder was ganz anderes?"
Am liebsten würde er Kaffee nehmen, sagte er. Dazu einen Kognak, wenn Marianne welchen hätte. Natürlich hatte sie den. Sie holte zwei bauchige Schwenker und etwas Gebäck aus dem Schrank, stellte alles auf den Tisch und goss ein.
"Na dann, Prost! Wer immer Sie sein mögen."
Marianne grinste, der Weihnachtsmann lächelte, sie tranken sich zu und dann begannen sie zu plaudern. Sie erzählten sich Anekdoten aus ihren Leben und aus den Leben anderer und lachten herzlich über die eine oder andere Geschichte. In Marianne Wünschlings Küche war es so gemütlich wie noch nie zuvor. Und als es Zeit war, die Beilagen für die Gänsekeule zu bereiten, fragte sie ihn, ob er zum Essen bleiben wolle. Er wollte. Gemeinsam rollten sie Knödel und er half ihr, das Glas mit dem Rotkohl zu öffnen. Marianne
sagte, es sei ihr ein wenig peinlich, dass sie keine frischen Beilagen habe, aber er fand, Rotkohl aus dem Glas sei ohnehin der allerbeste. Spätestens da schloss Marianne den Wildfremden im roten Gewand in ihr Herz. Sie wusste, es war töricht, sie kannte ihn kaum zwei Stunden. Aber ihr Gefühl für diesen Menschen, der den Tisch deckte, als hätte er immer ihren Tisch gedeckt, war tief und voller Weihnachtlichkeit. Der Abend selbst fühlte sich an wie ein Pfefferkuchen mit Schokolade, wie Schnee in den Bergen, Plätzchen
im Ofen, Lametta und Kugeln, wie ein Lichtermeer aus tausend Kerzen, eine Karaffe heißer Punsch, ein Geschenk, nur für Marianne. Nicht zu klein und nicht zu groß. Ganz und gar passend. Ganz berauscht war sie von der Stimmung. Welch weihnachtlicher Glanz.
Sie aßen und tranken Wein dazu. Es gab wunderbare Musik von Nat King Cole und Sarah Vaughn. Zum Nachtisch aßen sie Bratapfel, jeder zwei Portionen und er sagte, es sei die beste Nachspeise, die man bereiten könnte.
Irgendwann warf Marianne dann doch einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. Sie hatte sich schon vor dem Essen gefragt, für wie lange er wohl engagiert worden war. Wer hatte ihn nur für sie bestellt? Wer immer sie hatte überraschen wollen, es war ihm überaus geglückt und der Abend so schön wie ein Abend nur sein kann. Inzwischen hatten es sich die beiden im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Marianne hatte sich auf die Couch plumpsen lassen und ihre klammen Füße unter den Po des Mannes geschoben, der, wie ihr schien,
irgendwie ein wenig, wenn auch nicht in Wirklichkeit, das hätte sie sich beeilt zu sagen, der Weihnachtsmann war. Er zündete ein paar Kerzen an, schenkte ihnen beiden noch ein wenig Wein nach, dann lauschten sie dem Weihnachtsoratorium. Es war eine stille und auch eine heilige Nacht. Weihnachten - und Marianne Wünschling, die Aufgeräumteste aus dem Frauenkegelverein Friedenau, saß zusammen mit dem Weihnachtsmann und ließ sich von seinem Hintern die Füße wärmen. Es war längst nach Mitternacht, als sie schließlich,
ihren Kopf auf seinem Schoß gebettet, einschlief. Real oder nicht, es tat gut, auf jemandes Schoß einzuschlafen. Das hätte Marianne sogar zugegeben.
Als sie erwachte, war der Weihnachtsmann nicht mehr da. Statt auf seinem Schoß lag ihr Kopf auf einem der Kissen. Der Fernseher lief. Marianne stand auf und sah erst im Flur nach, dann öffnete sie im Wohnzimmer das Fenster und sah hinaus in die verschneite Weihnachtsnacht. Weit und breit gab es keine Spur von ihm. Marianne hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Wann war er gegangen? War überhaupt jemand gegangen? Sie fühlte sich benebelt und war aber nur einen Moment lang nicht sicher, ob sie die
Ereignisse des Abends geträumt hatte.
Weder zwischen den Jahren, wie man so schön sagt, noch im Januar fand Marianne Wünschling heraus, von wem der Mann, mit dem sie die Gänsekeule geteilt hatte, engagiert worden war. Als man begann, sich über ihr stetes Nachfragen zu wundern, hörte sie damit auf und ließ es auf sich beruhen. Im Freibad im Juli war Marianne dann sicher, auf einen liebenswerten Spinner hereingefallen zu sein. Vielleicht ein Obdachloser. Sie würde es nicht herausfinden, also hörte sie auf, darüber nachzudenken.
Natürlich war Marianne überrascht, als es im folgenden Jahr am Heiligen Abend etwa zur gleichen Zeit wieder an ihrer Tür klingelte. Und wieder teilte sie ihre Gänsekeule mit demselben Wer-immer-er-war. Dieses Mal tanzten sie die halbe Nacht. Boogie, Cha Cha Cha, Walzer und Foxtrott. Er hatte einen beachtlichen Hüftschwung, fand Marianne. Sie kampierten unter dem Weihnachtsbaum und nach den Feiertagen verkniff sie sich die Recherchen bezüglich seines Auftraggebers.
Letztes Weihnachten spielten sie Schach bis drei Uhr morgens und Marianne verabschiedete ihn an der Tür, denn er musste weiter. Das sah sie ein. Sie winkte ihm nach und schlief dann tief und fest, eingewickelt in die bunt gemusterte Flanelldecke, der er ihr zum Geschenk gemacht hatte.
Der vierte Advent ist vorbei und Marianne Wünschling hat die Gänsekeule schon besorgt. Seit letztem Jahr essen sie und er zu der Keule am liebsten Halb-und-Halb-Knödel. Bei dem Rotkohl aus dem Glas ist es geblieben. Tradition muss sein. Die beiden werden es sich wieder so richtig gemütlich machen. Inzwischen hält Marianne ihn tatsächlich für den Weihnachtsmann. Er tut es schließlich auch. Sie hat ihm ein Paar flauschige Wollsocken gestrickt und seinen Lieblingsbratapfel zubereitet.
Hannelore hat neulich gefragt, ob Marianne nicht Lust hätte, mit ihr in diesem Jahr an Heiligabend zu einer Party zu gehen. Marianne hat zu Hannelore gesagt, sie würde lieber gern zuhause bleiben und auf den Weihnachtsmann warten. Hannelore hat gegrinst und gesagt: "Versteh' schon."
Von wegen. Wenn die wüsste.
Eingereicht am 16. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
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