www.online-roman.de       www.ronald-henss-verlag.de
Weihnachten Weihnachtsgeschichte Weihnachtsgeschichten Kurzgeschichte Weihnacht Advent

Schorschi, der Schneemann

© Petra Kramp


Es war einmal ein Schneemann und der hieß Schorschi. Aber Schorschi war leider schrecklich traurig. Er wusste von den anderen Schneemännern, dass seine Zeit auf Erden sehr begrenzt war, denn wenn es wärmer werden würde, würde er unweigerlich schmelzen.
Doch dieser Schorschi hatte einen kleinen Freund, und der hieß Tobias. Tobias war fast sechs Jahre alt und sein Konstrukteur und Erbauer. Genau genommen hatte er diesen wunderschönen, kugelrunden Schneemann seinerzeit zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter gebaut, und die dunkle Baskenmütze und der tiefrote Schal verliehen dem Mann der Kälte ein ganz verwegenes und gewitztes und gleichsam fröhliches Aussehen.
Nach Außen hin sah es jedenfalls so aus, doch tief in seiner Schneemannseele litt das arme Kerlchen große Qualen. Denn Schorschi hatte einen Traum gehabt, einen Traum, der sich wohl niemals verwirklichen ließe: Einmal in seinem Schneemannleben wollte er eine Frühlingsblumenwiese sehen, lustige Schmetterlinge, die von Blüte zu Blüte gaukelten, den Geruch des Frühlings mit allen seinen Sinnen aufnehmen, Vogelkinder beobachten, wie sie ihre ersten Flugversuche unternahmen, und, und, und… Aber er wusste, dass dies nicht möglich war, denn die Wärme des Frühlings bedeutete zwangsläufig sein Schmelzen.
So stand Schorschi also wieder einmal ziemlich deprimiert vor dem Häuschen von Tobias Eltern und hielt Wache. Manchmal meinte er schon, einen beginnenden Temperaturabfall spüren zu können, aber sicherlich war es nur Einbildung gewesen.
Tobias kam gerade mit großen Sprüngen aus der Haustür gerannt, und wie immer umarmte er zuerst seinen eiskalten Freund ganz herzlich, denn auch Tobias hatte sich mittlerweile so an ihn gewöhnt, dass dieser fast nicht mehr wegzudenken war. Aber Tobias war auch außergewöhnlich feinfühlig und sensibel, und so hatte er längst gemerkt, dass mit seinem Kameraden etwas nicht stimmte.
Nun ist es für einen normalen Jungen nahezu unmöglich, mit einem echten Schneemann ein echtes Gespräch zu führen, aber wie ich schon bemerkte, war Tobias in dieser Hinsicht auch kein ganz "normaler" Junge. Jedenfalls vermochte er sich tatsächlich mit dem Schorschi zu unterhalten. Nur die anderen Leute, einschließlich Vater und Mutter, konnten die Antworten und Fragen des Schneemannes nicht hören. Dies konnte nur Tobias. Und so erzählte ihm Schorschi von seinem größten Wunsch einmal den Frühling mit seiner ganzen Farbenpracht erleben zu dürfen und Tobias hörte mit großen Augen zu. Nur helfen konnte er ihm im ersten Moment auch nicht.
Tobias lag zwei ganze Nächte lang wach und dachte über Möglichkeiten nach, wie er seinem weißen Freund helfen könnte, bis ihm eine Lösung einfiel:
Am nächsten Tag lief er nach dem Kindergarten direkt zu seinem großen Freund, dem Nachbarn und Erfinder der unmöglichsten Gegenstände. Kurti hieß der alte Mann, und er besaß zwei Huskiehunde, die Tobias manchmal ausführte. "Heraska" und "Matou" waren ausgesprochen guterzogene Hunde, die wirklich aufs Wort gehorchten und Tobias heiß und innig liebten. Dies beruhte aber auch auf Gegenseitigkeit. Und weil der Junge Kurtis Hunde oft stundenlang ausführte, denn die Beine des alten Mannes wollten nicht mehr so recht, hatte er so noch etwas "gut" beim Alten.
Schnurstracks marschierte Tobias somit in Kurtis alte Werkstatt und kam ohne Umschweife auf sein Anliegen zu sprechen: " Kurti, " begann er wenig diplomatisch. "Du musst mir helfen. Ich brauche einen großen Kühlschrank mit ganz, ganz, ganz vielen Fenstern. Und bitte auch noch ganz, ganz, ganz schnell, " fügte er noch rasch hinzu.
"Na, wenn's weiter nichts ist!" entgegnete Kurti gutmütig und übersah dabei Tobias Unhöflichkeit, denn der Junge hatte ihm noch nicht einmal richtig Guten Tag gesagt.
"Aber jetzt mal im Ernst! Wofür brauchst du einen Kühlschrank mit so vielen Fenstern?"
Und da erklärte ihm Tobias seine Idee. Er wollte seinen Freund, den Schneemann, so lange wie möglich auch bei wärmeren Temperaturen in der Kälte belassen, gleichzeitig sollte der Schneemann aber die Möglichkeit erhalten, endlich einmal die erwachende Natur im Frühling sehen zu können. Kurti schüttelte zuerst nur den Kopf, da er aber den Eigensinn seines kleinen Freundes kannte, und weil er ihm schließlich auch einmal danken wollte für die unzähligen Spaziergänge mit den Huskies und weil letztendlich sein Erfindergeist geweckt war, begannen seine Gehirnzellen sofort zu rotieren: Hatte er nicht noch einen alten Kühlschrank hinten im Schuppen? Kurti war schon nicht mehr in dieser, sondern in seiner eigenen Forscherwelt versunken. Tobias wusste schließlich aus Erfahrung, dass man ihn in diesem Zustand am besten ganz in Ruhe ließ...
Kurti werkelte und schraubte und bohrte und hantierte ununterbrochen und die Herstellung dieses besonderen Kühlschrankes schien fast sein Lebenswerk zu werden.
Bis, ja bis das ungewöhnliche Gerät tatsächlich fertig war: Kurti und Tobias trugen den Rundumblick-Kühlschrank, so nannte es jedenfalls Kurti, und er wollte schon sein Patent darauf anmelden, (aber um Himmelswillen wer braucht im Normalfall schon einen Kühlschrank mit Panoramablick?) zum leicht blassen Schorschi, der bereits ein bisschen mickriger aussah, als zuvor. Und Schorschi? Der verstand zunächst kein Wort von dem, was Tobias ihm erzählte, bzw. was er von ihm wollte. Aber schließlich kapierte er doch und vorsichtig bugsierten sie den verdutzten Schneemann in die Tiefkühlbox. Und Schorschi stellte glücklich fest, wie allmählich all seine Lebensgeister wieder zurückkehrten.
Hier im Rundumblick-Kühlschrank war es endlich wieder behaglich frostig und kalt!
Jetzt konnte der Frühling kommen, er konnte dem Schorschi nichts mehr anhaben!
Und der Frühling kam. Mit aller Macht sogar. Kurti hatte den Rundumblick-Kühlschrank gerade noch rechtzeitig fertig gestellt.
Und der Schneemann kam aus seinem Staunen nicht mehr heraus. Mittlerweile hatte der Erfinder, wofür war er schließlich Erfinder, noch einen kleinen, aber sehr stabilen Wagen für den Kühlschrank mit Batteriebetrieb entwickelt, denn Tobias wollte seinem Freund nicht nur an seinem bisherigen Standort zeigen, was sich im Frühling in der Natur so regte.
Und so kam es, dass Schorschi Plätze zu sehen bekam, die ihm sonst vorenthalten geblieben wären: Er sah eine wunderschöne Frühlingsblumenwiese mit wilden Krokussen, Traubenhyazinthen, Osterglocken und Tulpen. Er sah Bienen, Hummeln und allerlei Käfer und sonstiges Getier, und die Wildkaninchenmama kam eigens mit ihren Jungen vorbeigehoppelt, um sich das sonderbare, fahrbare Gerät mal aus der Nähe anzusehen. Er beobachtete Vogelpaare bei ihrer Vogelhochzeit und der Aufzucht ihrer kleinen Vogelkinder!
Schorschi war glücklich und seinem kleinen Freund unendlich dankbar dafür, dass er diese schönen Erlebnisse machen durfte. Tobias wiederum sah sich die erwachende Natur auch mit neuen Augen an. Vieles war für ihn schon so selbstverständlich geworden beim Wechsel der Jahreszeiten.
Er nahm jetzt wieder mehr wahr, und auch die Kleinigkeiten am Wegesrand fesselten ihn nun wieder, gerade so, wie zu der Zeit, als er noch als Drei- und Vierjähriger durch den Garten gelaufen war, und alles und jede Entdeckung ein reines Abenteuer war.
Tobias hatte mittlerweile die beiden Huskies vor den Kühlschrankwagen gespannt, denn anders war es kaum zu bewerkstelligen, Schorschi von der Stelle zu bewegen. Und alle zusammen wiederum waren auch wirklich ein tolles Gespann, der Kühlschrank, der Schneemann, die beiden Hunde und der kleine Tobias. So verging die Zeit und Schorschi erlebte jeden Tag erneut die kleinen und großen Wunder des Frühlings. Und Tobias ließ sich von Schorschis Lebensfreude anstecken und wurde immer waghalsiger bei seinen Ausflügen mit dem Kühlschrank-Mobil. Und so feuerte er die Huskies immer mehr an, den Kühlschrankwagen noch ein bisschen schneller zu ziehen. Und dann eines Tages nahm das Unheil seinen Lauf…..
In einer Kurve kippte der Kühlschrank vom Wagen, die Kühlschranktür sprang auf und Schorschi fiel heraus. Dabei brach er etwas auseinander, und Tobias konnte vor lauter Schreck zunächst kaum reagieren. Nur Schorschi blieb erstaunlich ruhig und "kühl" dabei.
Leise sagte er: "Sei nicht traurig, Tobias. Irgendwie habe ich mit so etwas gerechnet. Weißt du, jetzt heißt es, glaube ich, Abschied nehmen. Meine Zeit ist gekommen."
"Nein, nein, " schluchzte nun Tobias, der endlich seine Sprache wieder gefunden hatte. " Das will ich nicht. Gib nicht auf. Komm, ich trage dich ganz vorsichtig wieder in den Kühlschrank. Vertrau mir."
Doch Schorschi winkte nur leise, aber bestimmt ab. "Nein, mein Freund. Da gehe ich jetzt nicht mehr hinein. Ich habe dank dir viel mehr Zeit auf Erden gehabt, als mir eigentlich zugestanden hat. Ich habe Tiere und Blumen und Bäume und vor allen Dingen so viele Farben gesehen, und die Welt ist in der Tat noch viel, viel bunter und schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können. Und du hast sie mir gezeigt, diese Welt, die Frühlingswelt, du hast mir meinen Traum erfüllt, und dafür kann ich dir gar nicht genug danken." Der Schneemann hatte mittlerweile schon Schwierigkeiten beim Sprechen, denn die Frühlingssonne setzte seinem eisigen Körper in erstaunlich schnellem Tempo sehr zu. "Weißt du, im nächsten Winter baust du einfach wieder einen neuen Schorschi," schlug er noch vor. "Leb wohl", war dann auch alles, was Tobias von seinem Freund zuletzt noch vernehmen konnte, und bald darauf zeugte nur noch eine Pfütze auf dem Rasen von seiner Existenz und die Baskenmütze mit dem roten Schal… Selbst die ansonsten so lebhaften Hunde verhielten sich still und winselten nur ab und zu ein wenig. Tobias aber konnte sich zunächst gar nicht beruhigen, so traurig war er über den Weggang seines Freundes, den Schneemann.
Und darüber muss er wohl eingeschlafen sein…
Bis seine Mutter ihn aufweckte: "Zeit zum Aufstehen, Mausezahn. Schau mal nach draußen, es hat endlich geschneit. Da werdet ihr im Kindergarten bestimmt eine ordentliche Schneeballschlacht machen können …"
Tobias war zunächst eher verwirrt. Er wusste nicht, ob er froh oder traurig sein sollte.
Einerseits war er froh darüber, dass er nicht mehr weinend vor einer Pfütze dasaß, dass er das alles somit nur geträumt hatte, andererseits hatte er aber den Schorschi schon so lieb gewonnen, dass er einfach existiert haben musste.
Gerne hätte er seiner Mutter seine Schneemann-Geschichte erzählt. Aber ob sie ihm geglaubt hätte?



Eingereicht am 14. Mai 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


»»» Weitere Weihnachtsgeschichten «««
»»» Weitere Weihnachtsgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» HOME PAGE «««