Eine Familie wie aus dem Bilderbuch
© Manfred Briese
Sie konnten fast nicht dagegen ankommen. Ebenso schnell wie die flinken Hände der beiden Frauen die Regale des Supermarktes auffüllten, rissen gehetzte Kunden die Sachen wieder heraus und warfen sie in die Einkaufswagen.
Eigentlich stand Yvonnes Name heute gar nicht auf dem Plan. Aber was sollte sie tun? Sie saß gemütlich und ahnungslos mit Hannes bei Frühstücksbrötchen und Tee. Die vier unterschiedlich langen Kerzen des Adventskranzes spendeten anheimelnde Stimmung, ein kleiner Vorgeschmack auf den Abend, den Heiligabend. Wie vor Jahren, als Markus und Karola noch klein waren. Dass die Kinder zu dieser Morgenstunde nicht nach dem Frühstück verlangten und noch schliefen, war ausgesprochen gut zu ertragen. Im Radio sang ein Kinderchor
das zu Herzen gehende Lied vom Drummerboy, als die gefühlvollen Harmonien von der schrillen, penetrant sich wiederholenden Melodie des Telefons gestört wurden. Es mischte sich dazwischen und erzwang die Aufmerksamkeit der beiden.
Yvonnes Chef war dran. "Kannst du kommen, Yvonne? Hier ist der Teufel los!"
Was sollte sie dagegen sagen? Der Vierhunderteurojob brachte Überraschungen mit sich. Zum Beispiel arbeiten müssen, wenn man gerade nicht an Arbeit dachte und eigentlich etwas anderes lieber täte. Mit einem Schlag war wieder Alltag.
Die versprochene Extragratifikation klang gut, gab aber nicht den Ausschlag für ihre Bereitschaft, sich sofort auf den Weg zu begeben. So leicht würde sie ihn nicht hängen lassen. Er war ein guter Chef. Zum Glück hatte Yvonne den Haushalt auf das Weihnachtsfest vorbereitet. Bis auf ein Paar Sachen, die am Tage selbst erst erledigt werden konnten.
Aber alles geht vorbei. Hier im Supermarkt jagten die letzten Frauen und Männer durch die Regale. Zwei Pfund Butter, ein Riesenbeutel Apfelsinen und was ansonsten dem überlasteten Hirn noch einfiel. Zehn Minuten noch, dann war es getan. Ein Uhr. Feierabend.
"Weißt du, Angela, was ich träume?", entfuhr es plötzlich Yvonnes Mund, während sie mit beiden Händen ihr schmerzendes Kreuz gerade drückte. "Ich träume, dass mir eine gute Fee drei Wünsche erfüllt. Erstens: Die Kinder vertragen sich heute. Zweitens: Sie haben zu Hause nicht alles wieder durcheinandergerissen und auf den Kopf gestellt. Und drittens: Hannes hat nicht vergessen, die Kinder auf die letzten Einkäufe zu schicken."
"Verlangst du da nicht ein bisschen zu viel von deiner Fee?", gab Angela zu bedenken.
Wer behaupten wollte, Hannes habe es schwer mit den Kindern gehabt, seit Yvonne aus dem Haus war - davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Nicht schwer - zum Verzweifeln war es! Nichts konnte er ausrichten gegen diese Dickköpfe! Markus und Karola aus den Betten schmeißen? Nein, Papa! Heute ist doch keine Schule! - Lass mich schlafen, ich bin müde! Tür zu! Nicht mal zu Weihnachten kann man ausschlafen! - Ich will nicht! Lass mich in Ruhe!
Besonders freundlich gingen sie wirklich nicht mit ihrem Vater um. Der setzte sich kopfschüttelnd wieder an den Tisch und las weiter in der dicken Heiligabendausgabe der Tageszeitung. Weihnachtsmänner zierten fast alle Seiten. Einige mit Sack und Rute. Mit Rute! Das ist es! Es wäre doch gelacht, wenn diese Rangen ...!
"Raus mit euch! Aber sofort! Wer zu Weihnachten auf Geschenke scharf ist, muss sich entsprechend benehmen!", trumpfte er groß auf, die Fäuste in die Hüften stemmend.
"Ich habe aber keinen Bock auf Weihnachtsgeschenke! Weihnachtsbaum! Weihnachtslieder trallalla! Das ist was für kleine Kinder und alte Leute!", meckerte Markus und zog die Decke über den Kopf.
"Nun reicht´s!" Mit schnellen Schritten war der geplagte Vater beim Bett des Sohnes, klappte die Decke von den Füßen in Richtung Kopfende, sodass das Festhaltemanöver nicht fruchtete und der Körper entblößt war. Der widerspenstige Filius spürte die ekelhafte Kälte des ungeheizten Raumes. "Raus!" Das eine Wort, etwas lauter als allgemein. Das half. Karola mochte es lieber nicht so weit kommen lassen und fügte sich der zu erwartenden Gewalt.
Die Gesichter beim Frühstücken! Eine Zumutung. Hannes setzte sich nach nebenan. Als er an den Geräuschen erkennen konnte, dass die beiden mit Essen und Trinken fertig waren, baute er sich vor ihnen auf: "So. Jeder von euch hat etwas zu erledigen. Markus, du räumst erst den Geschirrspüler aus. Anschließend Ausguss wischen, Staub saugen und so weiter. Du, Karola, du kaufst ein. Hier ist der Zettel von Mama. Zwei Liter Milch, Sahne. Und sonst ein paar Kleinigkeiten. Lies selbst. Geld ist im Portemonnaie."
Oh, da waren die beiden überhaupt nicht mit einverstanden. Markus musste sich unbedingt in seinem Zimmer ins Internet klicken. Unaufschiebbar. Warum? Darum. Karola wollte gerade ihre Jacke anziehen und sich auf den Weg zu Jasmin machen.
"Jasmin? Wer ist das?"
"Meine neue Freundin! Wie wäre es, wenn mein Herr Bruder mal helfen würde", stichelte sie, indem sie ihn herausfordernd anschaute.
"Das hättest du wohl gern. Du verdrückst dich und überlässt anderen die Arbeit! Blöde Kuh!"
Das konnte die große Schwester nicht auf sich sitzen lassen. Die Waffe der Frau ist die Ohrfeige. Rums, hatte er sich eine eingefangen. Ein Schreien, ein Schimpfen. Tassen zerdepperten am Boden, ein Blumentopf hinterher!
Das reichte. Es gab Grenzen, was ein Vater sich bieten lassen sollte. "Vielen Dank für eure aufopfernde Hilfsbereitschaft. Sich zu Weihnachten so aufzuführen! Karola, geh du zu deiner neuen Jasmin oder wie die heißt. Und du, mein Sohn, mach, was du willst, aber nicht hier im Haus. Verschwindet und lasst euch nicht mehr sehen. Weihnachten fällt dieses Jahr aus. Raus! Auf der Stelle!"
Allein im Flur atmete er durch. Wer hatte ihm neulich noch erklärt, was Pubertät bedeutete? Erst mal beruhigen. Von ihm aus konnte Weihnachten wirklich gestrichen werden. Totaler Stress zum Fest der Liebe und des Friedens.
So, klarer Kopf war nötig. Zunächst den Geschirrspüler. Hoffentlich produzierte er als Aushilfe kein zu großes Durcheinander, hoffentlich würde Yvonne die Teller, Tassen und Töpfe wieder finden. Doch ohne Krach und Krawall ging die Arbeit flott von der Hand. Plötzlich fuhr er zusammen. Wie der Haustürgong schepperte! Schrecklich! Wer konnte das denn noch sein? Die Post? Das Paketauto? Davon hatte Yvonne doch nichts gesagt!
Zwei begossene Pudel standen vor der Tür, die Augen niedergeschlagen.
"Ach sieh an! Ihr seid das! Mit euch habe ich gar nicht mehr gerechnet. Na denn, ihr wisst, was zu tun ist. Seht zu, dass ihr alles in die Reihe kriegt. Und nicht vergessen: ein Blumentopf muss besorgt werden. Im Baumarkt, oder beim Gärtner. Ihr werdet es schon machen. Es dauert nicht mehr lange, bis eure Mutter hier wieder aufkreuzt. Und blamieren wollt ihr euch doch wohl nicht ein zweites Mal!"
Fast nicht zu glauben, dass sich keine Hindernisse mehr in den Weg stellten. Als Yvonne den Schlüssel in der Haustür drehte, saßen Ehemann, Tochter und Sohn in der Küche beisammen und sahen ihr lächelnd entgegen.
"Da bist du ja endlich, Yvonnchen, mein Schatz!"
"Hallo Mama!"
Die ließ sich mit einem Seufzen in den Lehnstuhl fallen, war aber plötzlich wieder hellwach. Neugierig forschte sie nach: "Na, alles geklappt?"
"Klar, was denkst du denn?", zusätzlich bekräftigt vom Kopfnicken.
"Betten gemacht?"
Karola und Markus nickten wieder mit dem Kopf, vom Vater mit einem Schmunzeln begleitet.
"Die Spülmaschine?"
"Ist ausgeräumt."
"Milch und Sahne gekauft?"
"Im Kühlschrank."
"Die frisch geräucherten Forellen vom Markt geholt?"
"Liegen im Keller."
"Der Weihnachtsbaum fertig?"
"Guck in die Stube!"
"Teppichboden gesaugt?"
"Natürlich!"
"Ach wisst ihr, Kinder, eine Fee hat mir drei Wünsche erfüllt. Aber das war überhaupt keine Kunst und keine Zauberei. Schließlich kann man sich auf euch doch verlassen! Das wusste ich sowieso!"
Die drei Angesprochenen schauten etwas begriffsstutzig drein. Woher sollten sie auch wissen, was gemeint war. Aber nachfragen wollten sie dann doch lieber nicht. Im Radio die samtenen Stimmen des Golden Gate Quartets mit ihrer "Silent Night, Holy Night", von denen sie sich in feierliche Stimmung versetzen ließen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Eingereicht am 18. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Home Page
|
Kurzgeschichten
|
Gedichte
|
Seitenanfang