Weihnachtsmänner überall ...
© Hella Sieg
Neulich fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Es war etwa zwei Wochen vor Weihnachten. Da sah ich an der kahlen Fassade eines mehrgeschossigen Wohnhauses einsam einen Weihnachtsmann hängen. Offenbar hatte ihn jemand mit einem Lichtervorhang wie mit einem Insektennetz gefangen, denn er war teilweise darunter verborgen. Ja, Weihnachten hat doch immer noch etwas Geheimnisvolles. Das schwarze Kabel des Lichtervorhanges verschönerte das Arrangement ungemein, indem es bogenförmig zwischen dem Stiefel des Weihnachtsmannes
und dem nächsten Fenster hing, in dem es verschwand.
Bereits vor einigen Jahren begann sie, die zunächst unmerklich stattfindende Invasion der Weihnachtsmänner. Nicht, dass diese selbst etwas dafür könnten - schließlich hatten sie keine Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Es begann ganz harmlos, war zu Anfang sogar richtig schön. Bei einem vorweihnachtlichen Stadtbummel in der Fußgängerzone von größeren Städten entdeckte man plötzlich einen Weihnachtsmann an der Fassade eines großen Kaufhauses, der an einem Seil die Hauswand hochkletterte, den unvermeidlichen Sack über der Schulter.
Oh, wie nett - ein Weihnachtsmann bei der Arbeit. Die unerwartete Entdeckung trug zu dem vorweihnachtlichen geheimnisvollen Flair der geschmückten Straßen bei. Doch schon im folgenden Jahr war bereits an jedem dritten Geschäftshaus ein Weihnachtsmann zu sehen, was der Originalität einigen Abbruch tat. Inzwischen konnte man den kletternden Weihnachtsmann schon in Werbeartikel-Katalogen und in den Regalen von Geschäften finden.
Dann muss es, von mir zunächst unbemerkt, eine Art Explosion im Weihnachtsmann-Geschäft gegeben haben, denn wenn ich heute in der Vorweihnachtszeit durch unsere Kleinstadt oder durch eine Wohnsiedlung gehe, begegnet mir auf Schritt und Tritt ein fassadenkletternder Weihnachtsmann. Er fand Einzug in die privaten Haushalte.
Dabei sind diese Figuren oft in bemitleidenswertem Zustand. Sehr häufig leiden sie unter Genickbuch oder Luftmangel, der Kopf hängt nach hinten herunter und der Weihnachtsmann wirkt stranguliert oder kopflos, im Ganzen luftleer und schlapp ...
Aus Plastik oder auch aufblasbar, manchmal gar beleuchtet, baumelt er an Häuserwänden und Balkonen und unweigerlich drängt sich mir die Frage auf: "Um Himmels willen, wie viele Weihnachtsmänner gibt es eigentlich?"
Wenn es Sterne, Lichterketten, Engel oder Rentiere in großer Zahl gibt, finde ich es in Ordnung. Aber Weihnachtsmänner? Jedes Kind weiß doch, dass es davon nur einen gibt.
Doch offenbar sind Weihnachts-Fassadenkletterer in Mode gekommen. Es liegt ganz im Trend, einen erhängten Weihnachtsmann am Haus zu haben, einen eigenen ...
Mitte Januar, der Weihnachtstrubel war einer neutralen Winteratmosphäre gewichen, fuhr ich auf derselben Strecke mit dem Bus nach Hause. Als ich an besagtem Haus vorbeifuhr, erblickte ich etwas völlig Unerwartetes: Der Weihnachtsmann hing noch immer an der Hauswand. Mit letzter Kraft hielt er sich noch mit einem Arm am über ihm liegenden Fenstersims fest. Sein Körper hatte arg an Luft verloren. Immerhin hatte er es inzwischen geschafft, sich von dem Lichtervorhang zu befreien, denn dieser baumelte wie ein leeres
Einkaufsnetz an seinem Kabel unterhalb des Fensters. Aber niemand sonst schien sich über das weitere Schicksal des rot gekleideten kleinen Mannes Gedanken zu machen.
Seither geht mir eine Frage nicht mehr aus dem Sinn: Wird der Weihnachtsmann es schaffen? Kann er sich irgendwann am Sims hochziehen und diesen Ort verlassen, um dorthin zu gehen, wo er sich üblicherweise das Jahr über aufhält? Und wenn nicht, was dann?
Aber he, da fällt mir ein, es gibt ja noch ganz viele andere Weihnachtsmänner, allein schon in unserer Siedlung. Daher bin ich überzeugt davon, dass mindestens einer von ihnen es schaffen wird und das nächste Weihnachten gerettet ist!
Eingereicht am 27. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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