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Die Gestalt im Park

© Sigrid Wohlgemuth


An jenem Abend führten mich meine Schritte in den Park. Ich verspürte den Drang, unter den Bäumen einher zu gehen. Der Schnee knirschte unter den Schuhen. Manches Mal blieb ich stehen, um zu lauschen, ob sich jemand in meiner Nähe befand. Niemals vorher war ich in diesem Park alleine spazieren gegangen. Er war unermesslich, dass mir bei Dunkelheit ein Schauer über den Rücken lief und ich mich fürchtete. Aus diesem Grund hatte ich diesen Park zu keiner Zeit betreten, obwohl er mich faszinierte.
Unter einem schneebedeckten alten Baum sah ich eine Gestalt. Bestimmt ein streunender Hund, dachte ich. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte. Sie stand angelehnt an den Baum, als wollte sie ihn umarmen. Meine Schritte wurden langsamer und ich spürte, dass diese Gestalt mich gesehen hatte.
Leise hörte ich ein: "Hallo, es ist kalt heute Nacht, doch verspüren Sie nicht auch die Wärme?"
Ich fragte mich, woher den die Wärme kommen sollte, es war eisig, der See zugefroren. Leichte Spuren waren auf dem Eis zu erkennen, die Kinder mit ihren Schlittschuhen am Tage hinterlassen hatten.
Um nicht unfreundlich zu erscheinen, antwortete ich: "Guten Abend, brr mir ist kalt."
"Kommen Sie hier herüber. Hier ist es geschützt."
Obwohl mein Verstand mir Vorsicht signalisierte konnte ich nicht anders, als meine Füße in Richtung dieser Gestalt zu lenken.
"Möchten Sie einen Schluck heißen Tee?"
"Danke, gerne." Ich streckte die Hand zu der mir hingehaltenen Tasse. Vorsichtig fragte ich: "Was machen Sie in der Kälte und Dunkelheit hier draußen im Park?"
"Ich lebe!"
Ist diese Gestalt verrückt? Anscheinend ist der Verstand eingefroren. Ich lebe, wiederholte ich im Stillen. Was für eine Antwort, ich lebe doch auch! Möglich, dass ich mich nur verhört hatte. "Entschuldigung, ich hatte Sie nicht verstanden."
"Ich lebe!"
Geisteskrank, dachte ich und wollte meines Weges gehen, da hielt mich die Gestalt am Ärmel meines Anoraks fest. "Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten? Ich verspreche, Ihnen wird warm werden."
Ach, du meine Güte! Worauf hatte ich mich eingelassen.
"Kommen Sie, setzen Sie sich auf diesen Baumstumpf, ich habe den Schnee schon weggewischt." Die Gestalt strich über den Stamm.
Kaum zu glauben, ich setzte mich tatsächlich hin und wartete auf die bösen Dinge, die geschehen würden, ein Überfall oder sonst irgendetwas.
Die Gestalt ließ sich neben mir nieder. "Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die auf Wahrheit basiert."
Verdammt, worauf hast du dich eingelassen! Reichen dir nicht deine eigenen Sorgen? Muss das sein? Und mir war bitterkalt.
"Sehen Sie den See dort? Haben Sie einen See schon einmal reden gehört? Er kann erzählen."
Jetzt war es passiert, ein See der reden konnte. Oh je, was mache ich hier!
"Hören Sie genau hin. Auch wenn das Eis den See bedeckt, so können Sie vernehmen, was er Ihnen erzählen möchte. Schließen Sie die Augen für einen Moment, atmen Sie ruhig durch. Wenn Sie die Augen öffnen und es möchten, können Sie hören, was er Ihnen mitteilt."
Na gut, den Gefallen werde ich dieser Gestalt noch machen, dachte ich, schloss die Augen, atmete tief durch, und plötzlich verspürte ich unglaubliche Wärme in meinem Körper. Bei Öffnen der Augen war es ganz hell. Der See beleuchtet, und ein buntes Treiben war zu erkennen. Kinder in ihren dicken Wintersachen liefen Schlittschuh, andere rutschten mit dem Schlitten oder auf Schusters Rappen über den zugefrorenen See. Ein Hund versuchte, sich auf dem eisigen Untergrund fortzubewegen, doch mit seinen vier Beinen rutschte er ständig aus und fiel nach vorne aufs Eis.
Ein Lächeln kam über meine Lippen. Wie hypnotisiert beobachtete ich und befand mich auf einmal mitten im Geschehen. Ich verspürte weder Kälte noch Angst. Mir wurde bewusst, dass ich schon länger nicht gelächelt hatte, in der heutigen Zeit des Rasens und Hastens. Einen Moment für ein Lachen, ein Gespräch ohne Probleme, einfach reden: unmöglich heutzutage. Ein kleines Mädchen entdeckte mich und zog mich mit aufs Eis. "Komm, es ist herrlich zu schlittern."
Ich fing an, mich an die rutschigen Schritte zu gewöhnen. Plötzlich bemerkte ich, dass sich nur Kinder auf dem See befanden. Keine Erwachsenen. Ich wunderte mich, denn niemand passte auf die Kleinen auf. Wenn jetzt etwas passieren würde? Ein Junge kam auf mich zu gelaufen, pechschwarzes Haar und rehbraune Augen. Ich schätzte ihn auf acht Jahre. Seine Gesichtzüge sahen frei aus und er strahlte voller Zufriedenheit. Als ich mich umsah, stellte ich fest, keines der Kinder sah unglücklich aus. Alle hatten ein Lächeln auf den Lippen und strahlende Augen, die wie Sterne funkelten.
Die Kinder bildeten einen Kreis um mich und begannen ein Lied zu singen.
"Herrlich ist es zu leben, mit Gottes Segen jeden Tag genießen und nicht vergessen, die Blumen zu gießen. Jedes Lebewesen auf dieser Welt ist für sich ein kleiner Held. Traurig und ängstlich ist nur der, der sich alleine fühlt, der nicht spürt wie Leben in einem glüht. Morgen Nacht, wenn der Mond und die Sterne scheinen, wird sich jeder Wunsch erfüllen und dich in eine warme Decke hüllen. Hey dideldumdei, in ein paar Stunden sind wir frei, hey dideldumdei, in ein paar Stunden sind wir frei."
Mit einem Schlag wurde es wieder dunkel, und ich stand alleine auf dem vereisten See.
Der Mond leuchtete eine Lichtung aus, und ich folgte dem Schein. Die Gestalt hatte sich zu mir gesellt. Ich konnte sie nicht erkennen, denn Schatten von den schneebedeckten Tannen fiel auf sie. Wir gingen stumm nebeneinander her. Ich weiß nicht, wie lange wir wanderten, mir war nicht kalt. An dem einen oder anderen Tannenbaum machte ich Halt. Immer, wenn ich sah, dass die Äste unter der Schwere des Schnees litten, stieß ich sie an, um sie zu befreien.
Der Weg führte aus dem Park hinaus. Wir erreichten ein kleines altes Dorf. Keine Straßenlaterne, nur der Schein des Mondes zeigte uns den Pfad. Wir gingen und gingen. Auf einmal standen wir auf einem Felsvorsprung. Der Schnee war verschwunden. Zehn Meter von uns entfernt breitete sich die Weite des Ozeans aus. Das ruhige, aber bestimmte Rauschen des Meeres war zu hören, ohne Unruhe in mir auszulösen.
Die Gestalt sagte: "Setz dich auf die Felsen und lausche den Wellen, sie können dir etwas erzählen. Schließe die Augen und höre zu."
Wie beim ersten Mal schloss ich meine Augen und wartete gespannt, was ich erfahren würde. Ich öffnete die Augen, und wieder war es hell. Die Lichter kamen von Fischerbooten, die ihre Netze im Wasser hatten. Ich befand mich mitten im Geschehen. Ein älterer Fischer reichte mir die Hand, nahm mich mit auf sein Boot. Seine Gesichtszüge waren frei, seine Augen lächelten zufrieden. "Sieh, meine Netze sind gefüllt. An dieser Stelle fischen wir nur, wenn der Mond mit den Sternen im Einklang steht."
Von den anderen Booten hörte ich Gesang.
"Herrlich ist es zu fischen und später mit Genuss zu essen. Wir teilen mit denen, die Hunger haben, und sagen Gott Dank, denn er hat uns eingeladen. Verbissen ist nur der, der an sich alleine denkt und der nur Freude hat an dem, was man ihm schenkt. Morgen Nacht, wenn der Mond und die Sterne scheinen, wird sich jeder Wunsch erfüllen und dich in eine warme Decke hüllen. Hey dideldumdei in ein paar Stunden sind wir frei, hey dideldumdei in ein paar Stunden sind wir frei."
Ich sah das gewinnende Lächeln des Fischers. Schlagartig wurde es dunkel. Ich stand neben der Gestalt auf dem Felsen. Wieder leuchtete der Mond und zeigte uns einen Pfad. Wir spazierten stumm nebeneinander her. Der Weg führte uns an Schafen vorbei. Eins hatte sich im Geäst verfangen, und ich ließ es frei. Wir gingen weiter ohne miteinander zu sprechen. Ich verspürte weder Kälte noch Müdigkeit vom langen Wandern.
Die Landstraße führte uns in eine große Stadt, die mit Frankfurt zu vergleichen ist. Ich verspürte Unbehagen und wollte die Gestalt fragen, wohin wir gehen. Sie zeigte auf eine riesige Arena, dort standen unzählige Menschen. Sie waren mit wunderschönen Kleidern, mit Gold und Silber geschmückt. Die Gestalt sagte: "Höre hin, was dir diese Menschen zu erzählen haben."
Ich kannte solche Gesellschaften, oft genug besuchte ich diese. Zum dritten Mal schloss ich meine Augen und fing an zu frieren. Die Wärme verlor ihre Wirkung. Ich öffnete meine Augen. Es wurde hell. So grell, dass ich die Augen kaum offen halten konnte. Ich erkannte im Hintergrund einen pompösen Tannenbaum, protzig und auf seine Art schön geschmückt. Einiges war mir vertraut. Die Sektpyramiden, die leckeren angebotenen Gerichte. Die Musik, die leise im Hintergrund erklang.
Doch ich konnte die Sprache der Menschen nicht verstehen. Ich begriff, es war Heiligabend. Einige Wortfetzen fing ich auf: Aktien, Ärger im Beruf, Scheidung, Morde und Krieg. Ich konnte keine vollständigen Sätze verstehen und fror immer mehr.
Die Musikkapelle spielte ein Lied, und alle sangen mit. "Ach, wie herrlich ist es reich zu sein und den Tannenbaum zu schmücken mit schönem Schein. All die teuren, tollen Geschenke, vergiss nicht Dank zu sagen, bedenke! Morgen geht die Sonne auf und der Tag nimmt seinen Lauf. Dann mache ich Einkäufe zuhauf, ja herrlich, so nimmt alles seinen Lauf."
Ich sah in ihre Gesichter und erkannte aufgesetztes, unehrliches Lächeln. Mancher lachte künstlich, nicht ein Augenpaar strahlte zufrieden, es kam mir vor, als würde ich erfrieren, und ich lief auf den Ausgang zu. Ich rannte und vergaß ganz die Gestalt, die mich begleitet hatte. Nach längerem Laufen befand ich mich wieder im Park. Ich schaute auf den eisbedeckten See und den Baumstumpf.
Dort saß die Gestalt, winkte mir zu und sprach: "Du warst sehr ungläubig, als ich dir sagte, ich lebe. Ich kenne deine Gedanken."
Ich fing an mich zu schämen. Glaubte ich doch, diese Gestalt sei verrückt. Ich blickte sie an. Mein Herz stockte, da ich sie plötzlich ganz deutlich anschauen konnte.
Ich erkannte mich selber!
Sie war ein Spiegelbild meiner selbst. Ich wollte sie berühren, da verschwand die Gestalt, als wäre sie nie da gewesen.
Das war ich! Mein Unterbewusstsein, mein Verlangen nach Leben, Zufriedenheit und Glitzern in den Augen. Die Wärme in mir, trotz der eisigen Kälte um mich herum.
Blitzartig verstand ich den Satz des Liedes: morgen Nacht, wenn der Mond und die Sterne scheinen, wird sich jeder Wunsch erfüllen und dich in eine warme Decke hüllen. Hey dideldumdei, in ein paar Stunden sind wir frei.
Frei fühlte ich mich. Ich wanderte frohen Herzens, ohne Furcht und Angst über den schneebedeckten Boden. Das Knirschen des Schnees beglückte mich und ich freute mich auf Heiligabend. Ich hatte etwas gefunden: Mich selber!
Und wenn ich mich selber gefunden hatte, war auch Frieden in mir und diesen konnte ich den Menschen schenken. Nur wer sich selbst liebt, kann mit reinem Herzen andere lieben.
Eine Liebe ohne Wenn und Aber.



Eingereicht am 04. Juli 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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