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Weihnachten Weihnachtsgeschichte Weihnachtsgeschichten Kurzgeschichte Weihnacht Advent

"Sie brauchen nie mehr nach einem Weihnachtsgeschenk zu suchen!"

© Victoria Süß


Irgendwie hatte Weihnachten für mich früher einen ganz anderen Charakter als heute. Vielleicht ist es das Fenster der Zeit, durch das man nunmehr erschrocken zurückblickt. Aber damals, aus meiner kindlichen Sicht war Weihnachten ein heiliges Fest. Wie für die meisten anderen Kinder auch, waren für mich besonders die Geschenke sehr wichtig. Damit meine ich nicht nur die Spielsachen, die man bekommen, sondern genauso die Gegenstände, die man für die Familie ausgewählt hatte.
Ab August oder September liefen diverse Weihnachtsgeschichten im Fernsehen, in denen den Kindern ein herrlicher Geschenkberg präsentiert wurde. Also sahen mein Bruder und ich uns gezwungen unsere Eltern ebenfalls mit solch quadratischen, wundervoll eingepackten Paketen und Päckchen zu beglücken. Jedoch bestand das eigentliche Problem darin, dass wir in dieser Form nichts zum Einpacken hatten. Mithilfe meines Mickey-Maus-Bastelbuches suchte ich mir zwar oft Anregungen für Geschenkideen - auch wenn am Ende meine Interpretation davon nicht mehr auf die im Buch zu schließen ließ. Aber diese selbst angefertigten, an sich ja ganz netten Basteleien sahen eingewickelt unförmig und schlichtweg scheußlich aus!
Etwas Anderes musste her.
Mein Bruder und ich durchkämmten die Wohnung auf der Suche nach einem schicken quadratischen Objekt, das sich als Geschenk gut eignen würde. Tatsächlich fanden wir nach geraumer Zeit das Mikroskop, was wir eins von unserer Mutter bekommen hatten. Dieses befand sich in einem unscheinbaren schwarzen Kasten, den man aufklappen und die eine Seite als Stativ benutzen konnte. Wenn man nun diesen Teil mit der kleinen Vertiefung nach unten drehte, so hatte man die perfekte Form eines Geschenks!
Glücklich über eine derartige Wendung des Schicksals holten wir sofort buntes Papier und Bänder, um das ideale Äußere zu schaffen. Nach einigen misslungenen Versuchen des Einpackens entschieden wir uns für das blaue Geschenkpapier mit den bunten Sternen. Aber eigentlich passte dazu nicht die knallrote Schleife, die wir eigens für unsere Eltern gekauft hatten. Während nun der Rest der Welt hektisch umher rannte, um Geschenke zu besorgen hatten mein Bruder und ich bis zum Heiligen Abend ganz andere Probleme.
Als es endlich soweit war, legten wir unser Geschenk stolz unter den Baum und schrieben die Namen unserer Eltern darauf. Diese packten das wunderschöne Präsent aus und waren aufgrund des Inhalts sichtlich überrascht. Die nahe liegende Vermutung, ihre Kinder wären des geliebten Mikroskops überdrüssig geworden, verflüchtigte sich schnell aus den elterlichen Gedanken. Denn mein Bruder und ich schilderten ihnen die Inspirationsquelle unseres Handelns. Daraufhin brachen sie in schallendes Gelächter aus und auch wir lachten bald mit.
Das Mikroskop war das perfekte Geschenk und unsere Eltern bekamen es noch jahrelang unter den Baum gelegt. Danach wurde es jedes Mal wieder ins Regal zurückgelegt und wir konnten das ganze Jahr über damit spielen. Kurz vor dem Weihnachtsfest jedoch wählten wir nach langen Streitereien und Diskussionen das Geschenkpapier aus und verzichteten einige Tage aufs Mikroskopieren.
Die Eltern packten es immer wieder mit Spannung aus und freuten sich jährlich aufs Neue. Dabei wurde nur die äußere Verkleidung gewechselt, die uns Kindern unzählige Stunden des Kopfzerbrechens bescherte.
Heute sind mein Bruder und ich ein Teil der Welt, die auf der Suche nach einem Geschenk hektisch umher rennen. Unser Alter und unser Wissen versperren uns durch ihre Größe den schmalen Pfad zur Welt der Kinder. Erwachsense können es sich nicht mehr leisten unbekümmert an das Weihnachtsfest - ohne des Sinn dessen überhaupt zu verstehen - heranzutreten. Denn sie sind gefangen in ihren eigenen Netzen, die sie manchmal zu erwürgen drohen. Mir wird immer deutlicher, dass Weihnachten für mich mehr Schein als Sein war, ich aber diese Illusion brauchte. Gerade deshalb freue ich mich im Nachhinein darüber, dass die Eltern meinem Bruder und mir unser kindliches Gemüt so lange wie möglich erhalten haben.
Falls dieses Jahr noch jemand auf der Suche nach einem passenden Geschenk ist, so finde ich mit viel Glück das alte Mikroskop wieder und würde es unter Umständen verleihen. Oder eher vermieten? Oder noch besser: bei Ebay mit dem Slogan: "Sie brauchen nie mehr nach einem Weihnachtsgeschenk zu suchen!" versteigern.
Wer könnte da noch widerstehen?



Eingereicht am 30. September 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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