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Stille Nacht, eisige Nacht

© Ellen Balsewitsch-Oldach


Heiligabend war es kalt geworden. Brigitte hasste die spiegelnde Glätte, die sich auf den morgens noch nassen Bürgersteigen gebildet hatte. Wenn sie auf ihrem Weg zur Kirche jetzt stürzte und sich womöglich etwas brach, konnte sie Lothar nicht beim Aufstellen der unzähligen Kerzen helfen. Und die sollten doch heute Abend feierlich das Kirchenschiff erleuchten - beim ersten Weihnachtsgottesdienst in diesem Jahr. Und bis zum Glockenläuten waren es nur noch drei Stunden! Brigitte rutschte verbissen weiter, einen Fuß vor den anderen schiebend, bis sie endlich die Kirchentür erreicht hatte. Aufatmend umklammerte sie die Klinke und zog das schwere Portal auf. Gedämpftes Licht flutete ihr entgegen und die vertraute stickige Luft, in der heute sogar eine Spur von Wärme lag. Wegen des Winterwetters und der vielen Besucher beim Festgottesdienst hatte Lothar wohl die Heizung höher gestellt. Lothar ... er stand mit dem Rücken zu ihr im Altarraum, vor der riesigen, mit Strohsternen geschmückten Fichte, und bemühte sich, die Anschlüsse einiger elektrischer Lichterketten zu entwirren. Wie immer klopfte ihr Herz, als sie den Gang zwischen den Bankreihen hindurch auf ihn zu ging.
"Grüß dich, Lothar!" Brigitte biss sich auf die Lippen. Ihre Stimme hatte wieder einmal viel zu zärtlich geklungen. Lothar fuhr herum und ließ die Stecker fallen. "Brigitte! Schön, dass du da bist!" Das Aufleuchten in seinen Augen machte Brigitte verlegen. Dennoch sah sie ihn unverwandt an. Sein schütteres Haar und das nicht sehr ausgeprägte Kinn im rosigen, immer etwas erstaunten Gesicht, seine freundliche, zugewandte Ausstrahlung, all das rührte sie heute besonders. Und auch Lothar hörte nicht auf sie anzustarren. Es war ihr peinlich. Von Anfang an hatte sie nicht verstanden, was er an ihr, ihrer hageren Gestalt und den grauen Haaren, die ständig um ihr knochiges Gesicht zottelten, anziehend finden konnte. Mit einiger Anstrengung löste sie ihre Augen aus der Umarmung seines Blicks.
"Also, wo soll ich anfangen?" Betont geschäftig sah sie sich nach Kerzen und Haltern um. "Ach ja, die Lichter." Ernüchtert kehrte Lothar in die Wirklichkeit zurück. Er reichte ihr einen Karton mit weißen Tafelkerzen. Unwillkürlich berührten sich ihre Hände. Brigitte zuckte zurück. Nimm dich zusammen, sagte sie zu sich und lächelte gequält zu Lothar hinüber.
Lass es uns doch bitte endlich vergessen, sagte Brigittes Lächeln. Vergessen, wie du als neuer Gemeindepastor hierher gezogen bist und gefragt hast, ob von deinen Schäfchen jemand bereit sei, gelegentlich das Harmonium zu spielen. Lass uns vergessen, wie ich die ersten Stücke geübt habe - und du mir dabei zugehört hast. Vergessen, wie stark sie von Anfang an war, diese ungeheure Anziehung zwischen dir und mir ... und vor allem lass uns vergessen, wie wir uns eines Tages in den Armen gelegen haben, als wir im Gemeindehaus ungestört waren ... aber nicht vergessen lass uns, wie wir uns hinterher geschworen haben, dass es das einzige Mal bleiben müsse - weil weder deine Frau Elisabeth noch Matthias, mein Mann, solche Unredlichkeit von uns verdient haben ...
Brigitte wandte sich ab. Und ich kann nie vergessen, dachte sie verzweifelt, wie schwer es mir immer wieder wird, dieses Wort nicht zu brechen. "Wie geht es Elisabeth inzwischen", fragte sie möglichst beiläufig, "ich habe schon länger nicht mehr mit ihr gesprochen ... sind ihre Rückenschmerzen besser?" - "Doch - ja ", Lothar seufzte unterdrückt, "ich glaube, das Yoga-Training tut ihr wirklich gut. Zuerst fand ich es ja übertrieben, zweimal in der Woche - und dann auch noch diese Workshops übers Wochenende, aber jetzt - ich freue mich jeden Tag, wie viel leichter sie sich bewegt!" Brigitte nickte, während sie mit gleichmäßigen Bewegungen die Kerzen auf die Dorne der billigen, messingfarbenen Blechhalter spießte. "Ja, ich bin auch wieder ganz zufrieden ... als Matthias arbeitslos war und den ganzen Tag zu Hause saß, war ja nichts mit ihm anzufangen, ewig seine schlechte Laune! Aber seit er als Vertreter für diesen Weinversand arbeitet, ist er wie ausgewechselt - obwohl er ja viel unterwegs sein muss ..."
Brigitte wurde still. In den Nächten, die sie allein verbrachte, überflutete sie oft eine schmerzhafte Sehnsucht nach Lothar. Manchmal wünschte sie sich, dass Matthias von einer Geschäftsreise nicht zurückkam, damit sie wenigstens ungestört ihren Phantasien nachhängen konnte. Das Begehren machte ihr oft das Einschlafen schwer, ihre Schuldgefühle das Aufwachen zur Qual. Unwillkürlich blickte sie zu Lothar hinüber - sein Gesichtsausdruck erschreckte sie ... konnte es sein, dass er ähnlich empfand? Er, der aus seinem Glauben heraus so vielen anderen Menschen Trost und Zuversicht spendete? Abrupt wandte sie sich ab. Der Gedanke, dass vielleicht dieselben verbotenen Bilder sie beide quälten, ließ auch jetzt eine Welle aus Schmerz und Sehnsucht über ihr zusammenschlagen. Tränen schossen ihr in die Augen. Halbblind und mit fahrigen Fingern versuchte sie, die nächste Kerze aufzustecken.
Plötzlich wurde die Kirchentür aufgestoßen. "Doch, hier ist wer!" Ungebührlich laut hallte eine Stimme durch das Kirchenschiff. Vor Schreck glitt Brigitte der Blechhalter aus der Hand, fiel scheppernd zu Boden, kreiselte einige Male geräuschvoll um die eigene Achse, kam endlich zur Ruhe. Zwei Männer standen unschlüssig am Eingang, die Kragen hochgeschlagen, die Hände tief in den Taschen. Zur Gemeinde gehörten die nicht ... Lothar war mit langen Schritten zur Tür geeilt und sprach die Besucher an. Der Ältere antwortete - und deutete auf eine Kirchenbank in der Nähe des Eingangs. Verwundert beobachtete Brigitte, wie Lothar sich setzte und ihr ein Zeichen machte, nicht hinüber zu kommen. Brigitte nickte - aber sie würde die Szene keinen Moment lang aus den Augen lassen! Der Ältere hatte neben Lothar Platz genommen. Einen Augenblick lang blickte er zu Boden und schwieg, dann holte er Luft und sprach auf Lothar ein. Brigitte konnte sein Murmeln hören, die Worte waren nicht zu verstehen. Besorgt beobachtete sie, wie Lothar hin und wieder einsilbig antwortete und immer blasser wurde. Zum Schluss hatte er das Gesicht in den Händen verborgen. Brigitte machte entschlossen ein paar Schritte auf die Gruppe zu, aber der Sprecher wehrte mit einer ungeduldigen Geste ab und legte Lothar drängend die Hand auf die Schulter. Gequält sah Lothar hoch, wies zögernd auf Brigitte und stand auf. Mit unsicheren Schritten ging er den Männern voran. Wie in einer Zeitlupenaufnahme kamen die drei Gestalten näher. Brigitte hielt den Atem an.
Endlich war Lothar bei ihr. Er nahm ihre Hand. Seine Finger fühlten sich eiskalt an, sein Gesicht war grau. "Brigitte - es ist so schrecklich ... Elisabeth ... ist tot ... sie sagte vorhin, sie müsse noch einmal kurz ins Yoga-Studio, sie hätte dort etwas vergessen ... aber das - " Lothar versagte die Stimme. Wieder schlug er die Hände vors Gesicht. Verstört musterte Brigitte die beiden Fremden. "Sie sind Brigitte Hausmann?" - "Ja", sagte sie tonlos. Lothar vergrub das Gesicht noch tiefer in den Händen.
"Kommissar Brandt - Polizei." Nur schemenhaft nahm Brigitte seinen Ausweis wahr. "Frau Hausmann, war Ihr Mann heute unterwegs - auf einer Außendiensttour nach Bremen?" - "Ja - ausgerechnet Heiligabend ... aber was ..." Irritiert brach Brigitte ab. Der Kommissar antwortete nicht. Stattdessen stellte er unzählige Fragen - nach Matthias' Auto und vielen, anscheinend belanglosen Einzelheiten. Sie antwortete mechanisch, gleichsam ohne ihm oder sich selber richtig zuzuhören. Doch plötzlich bekamen die Worte des Kommissars für sie wieder einen Sinn, einen Sinn, der scharf in ihr Bewusstsein schnitt: "Dann gibt es leider keinen Zweifel, Frau Hausmann, Ihr Mann ist heute auf glatter Fahrbahn mit seinem Wagen ins Schleudern geraten und mit voller Wucht gegen einen Baum geprallt ... er war sofort tot ..." Verständnislos blickte Brigitte von einem zum anderen. "Matthias? Ich denke, Elisabeth - also Frau Schrader ...?" Im Kirchenschiff war es totenstill.
Zum ersten Mal sprach jetzt der jüngere Mann. Seine Stimme war hoch und sachlich. Die Worte klirrten in das Schweigen wie Eiswürfel in ein Glas: "Elisabeth Schrader und Matthias Hausmann waren gemeinsam mit dem Wagen von Herrn Hausmann unterwegs. Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass sie aus dem Motel "Hanse" kamen, wo sie seit einigen Monaten als Stammgäste bekannt sind. Sie buchten immer sehr kurzfristig ein Zimmer - manchmal nur für ein paar Stunden ..."



Eingereicht am 13. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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