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Hans Knack auf Weltreise

© Andrea Gebert


Typisch Frau, hatte ich damals im Sommer gedacht, als sie mich in ihren engen, dunklen Schrank stopfte, der bereits von Sonderangeboten überquoll. Eierbecher mit Entenbeinen, eine Nudelmaschine, ein Bügeleisenreinigungsset und ein Pillenkarussell - das waren nur einige davon. Die meisten meiner Mitbewohner kannte ich nicht und konnte mir auch nicht vorstellen, wozu man sie gebrauchen könnte. Uns alle hatte sie gekauft, weil wir Schnäppchen gewesen waren, die man haben musste, ohne sie zu brauchen.
In einer großen braunen Tasche hatte ich kurz zuvor meine Heimat, das Erzgebirge, verlassen und war mit ihr nach Berlin gereist. Und da lag ich nun in einem Schrank, fern von daheim und von der neuen Umgebung bekam ich auch nichts mit. Dabei hatten mich die Kumpels aus der Schnitzerwerkstatt beneidet, als sie hörten, dass ich in die Hauptstadt verkauft wurde. Bloß gut, dass die niemals erfahren würden, wie es mir erging.
Nachdem ich die Hoffnung auf meinen Einsatz beinahe aufgegeben hatte, kam sie eines Tages und holte mich heraus. Sie versuchte mich in einen Karton zu quetschen, der zu klein war, schimpfte über meine langen Beine und verschwand wieder. Tagelang musste ich auf den kalten Steinfliesen in ihrem Keller liegen, bis sie endlich mit einer größeren Kiste auftauchte und mich unsanft hinein verfrachtete. Ich fühlte mich wie in einem Sarg. Probeweise schloss sie den Deckel, um festzustellen, dass ich nun hin- und herrutschte. Hilfe musste her und die kam in Form ihres Mannes, der mich in Nullkommanichts in diverse Rollen Schutzfolie einrollte, bis mir ganz schwindlig war und blitzblatz das Paket zuschnürte und verklebte. Da hatte ich den Salat! Schwitzend und zusammengeschnürt lag ich im Kofferraum ihres Autos, wurde herumgeschleudert, was bei ihrer Fahrweise kein Wunder war, und harrte der Dinge oder sollte ich lieber sagen der Nüsse.
Doch dann gings erst richtig los! Sie gab mich einfach ab. Ohne ein Wort des Abschieds überreichte sie mich einer hochblonden aufgemotzten Menschenmieze, die versuchte von ihrem wahren Alter abzulenken, in dem sie falsche Haare auf Kopf und Augen spazieren führte.
"Luftpost nach New York" sagte sie zu der Blonden und ich dachte noch, na hoffentlich schaff ich das bis Weihnachten. Verärgert wie ich war, ließ ich mich, ohne nach rechts und links zu sehen, fallen und fand mich mit hunderten von Leidensgenossen zusammen in einem Container wieder. Sogar die Nacht mussten wir in dieser unwirtlichen Behausung verbringen.
Am nächsten Morgen, ich war noch im Halbschlaf und verpasste die Abfahrt, sah ich die Bescherung: wir waren auf dem Flughafen. Die Kumpels in den Paketen neben mir, als da waren: Kalender, Pyramiden, Waffeleisen, Lichterketten und Teddybären seufzten im Chor. Ich konnte den Aufkleber mit dem Zielflughafen in der Eile nicht entziffern. Jedenfalls flogen wir Stunden später tatsächlich los und ich dachte meine Nuss pfeift, als ich plötzlich Paris auf dem Karton neben mir las. Mensch, dachte ich, da wolltste doch schon immer mal hin. Also halt bloß die Klappe, dass du hier falsch bist und eigentlich übern großen Teich sollst. Und dann war ich auf einmal in der Stadt meiner Träume und unter mir glitzerte der Eifelturm in weihnachtlichem Gefunkel.
"Je t'aime" murmelte ich verzückt und vergaß alles um mich herum. Ich sah noch den Turm von Notre Dame und die Autoschlangen auf den hell erleuchteten Champs-Elysees, dann flogen wir alle durcheinander und ich verlor für Minuten das Bewusstsein. Als ich mit schrecklichen Kopfschmerzen zu mir kam, hörte ich eine tiefe Stimme: " Merde,merde" sagen. Verdammt, die hatten schon gemerkt, dass ich hier falsch war und ich landete Minuten später im nächsten Container. Ich schloss die Augen, wenn ich schon nicht mehr in Paris bleiben konnte, war mir alles andere auch egal. Aus den Paketen um mich herum entwickelte sich eine lautstarke Unterhaltung, doch ich verstand nichts. Das war so ein Singsang und so ganz ohne das mir gewohnte "R" in den Worten, dass ich vor allem aus meiner Heimatstadt kenne. Stunden, Tage mussten vergangen sein, als wir endlich zum Landeanflug übergingen. In der Halle des Flughafens buchstabierte ich dann "PEKING" auf einer Werbetafel, der Rest waren so gemalte Zeichen, die ich nicht lesen konnte. Au Backe, ich war wieder falsch.
Tagelang blieb ich in einer dunklen Ecke liegen, nur ein paar vertrocknete Glasnudeln leisteten mir Gesellschaft, die mir erzählten, wir wären in China. China, dachte ich, das ist doch da, wo sie Hunde essen, hoffentlich nicht auch kleine appetitliche Nussknacker.
Irgendwann wurde ich tatsächlich wieder aufgesammelt, in einen Blechkarton verfrachet und zum nächsten Flugzeug gebracht.
Und was soll ich euch sagen, neben mir lagen so Pakete mit Löchern drin, die schaukelten ständig und reden konnten die auch.
"Das sind Gänse, du Knackfrosch" sagte eine Stimme aus der Kiste neben mir, worauf ich beleidigt schwieg. Dann landeten wir auch schon wieder und ich dachte, ich krieg gleich nasse Füße, so nah war der Flughafen am Wasser. Der neunmalkluge Typ neben mir sagte wie die Stadt heißt und ich verstand "Holzklong".
"Ich denk meine Nuss knackt", rief ich erfreut, "wenn die hier auch was mit Holz machen, fühl ich mich bestimmt wie zu Hause."
"HONGKONG, du Knackfrosch" wiederholte er und ich drehte mich angewidert zur Seite. Dann wurden diese Dinger, also die Gänse entladen und wir blieben an Bord. Es war stinklangweilig, deshalb ließ ich mich herab, mit dem Großmäuligen Konversation zu machen.
" Du meintest sicher KINGKONG", sagte ich, froh auf mein Allgemeinwissen.
"Sach ma, gommst du ausm Mustopp?" meldete sich plötzlich eine weibliche Stimme, die zu einer Weihnachtsstolle gehörte.
"Das hier is geen Affe, das is ne Medrobole".
Die Kleine echauffierte sich, dass ihr der Puderzucker nur so von der Kruste rieselte. Der Großmäulige sagte nichts dazu, wahrscheinlich waren seine Akkus runter.
Fakt war jedenfalls: wir saßen hier in diesem Hongkong fest und der einzige Grund, dass uns keiner hier rausholte, war, dass die Weihnachtsfeiertage begonnen hatten. Mann, war ich satt! Eins war doch klar, sollte ichs je über den großen Teich schaffen, stünde mir ein weiteres Jahr in einem Schrank bevor. Denn wer würde sich nach Weihnachten noch einen Nussknacker ins Wohnzimmer stellen? Ich beschloss zu schlafen, konnte ich doch sowieso nichts an meinem Schicksal ändern.
Ich wills kurz machen: wir lagen bis ins neue Jahr in diesem verdammten Laderaum im Flugzeugbauch und meine Dresdner Nachbarin schluchzte sich Tag und Nacht die Butter von der Kruste. Aber das half auch nicht weiter.
Dann ging wieder mal alles so schnell, dass ich nur die Hälfte mit bekam. Wir wurden bei Nacht und Nebel umgeladen und kamen gar nicht erst ins Flughafengebäude, sondern gleich in eine kleine Maschine am Ende vom Rollfeld. Mann, war das ne Klapperkiste. In mir löste sich der Kleber und ich litt Höllenqualen, aber dann dachte ich, du musst das Beste daraus machen und pfiff mir eins. Und als wir landeten, da hieß das Land Indien und ich wusste gleich, hier wird mich keiner finden. Es war ein Chaos auf dem Flughafen und die konnten alle nichts verstehen, weil sie so Tüten auf dem Kopf hatten. Wir standen in einem Gang, meine Dresdner Freundin neben mir und so an die acht Pakete mit, bis uns ein indischer Menschenmann auf eine Schubkarre lud und uns am hinteren Ausgang abstellte. Diesmal war die Nussschale wirklich am Dampfen! Es goss in Strömen und hörte nicht wieder auf. Ich bemerkte, wie die Feuchtigkeit in mich zog und begann langsam zu arbeiten. Ach du grüne Nuss, dachte ich, wenn ich mich verziehe, dann pass ich nicht mehr ins Paket. Meine Stollenfreundin sagte nichts mehr. Ich glaube, der ging es nicht mehr so gut. Die Kiste sah schon ziemlich ramponiert aus und aus den Ritzen rieselten die Krümel. Sogar einige Rosinen hatte sie schon verloren.
Ich drehte und ruckelte mich hin und her, so dass ich auf meine Oberseite, die mit dem Aufkleber zu liegen kam und hoffte auf Rettung. Tatsächlich kam schon bald ein kleiner, dunkelbrauner Junge, der fast wie mein Bruder, das Räuchermännchen, aussah. Er hob mich auf und ich flehte noch: "Nimm das Stollenpaket mit", doch der verstand nicht und meine dahin schmelzende Freundin blieb zurück.
Immerhin brachte mich der Kleine ins Fundbüro. Die Menschenfrau am Schalter buchstabierte mühevoll "NEW YORK", kloppte mir einige Stempel auf die Vorderseite und brachte mich eigenhändig, was ich ihr hoch anrechnete, zu ihrem Chef.
Der aber hatte nichts anderes zu tun, als mich zu beschnüffeln und schließlich nahm er mich mit zu sich nach Hause.
Heilige Nuss dachte ich, wie komm ich bloß in dieses New York? Flucht konnte ich abhaken, denn allein würde ichs eh nicht bis dahin schaffen.
Langsam begann ich mich nach der Berliner Menschenfrau und ihrem Schrank zu sehnen. Dort hatte ich wenigstens noch einen Platz im Leben gehabt und war nicht so herumgestoßen worden wie jetzt.
Am Ende brachte mich der Chef zurück zum Flughafen. Er hatte mich seiner Frau gezeigt, die aber befand, ich wäre zu nicht nütze. Ich hatte natürlich die Klappe gehalten.
Also ab ins nächste Flugzeug, was mich nicht mehr schrecken konnte, denn ich fühlte mich wie ein alter Hase in diesen fliegenden Kisten. Diesmal dachte ich, es geht alles gut. Weiche Landung, Transfer zum Terminal und dort hörte ich endlich englische Worte. (Damit kenn ich mich nämlich aus, weil wir einen Grundkurs in der Nussknackerschule hatten, von wegen Weltoffenheit und so.) Ich war also tatsächlich übern großen Teich geflogen und in diesem New York angekommen. Prima war das, ich fühlte mich richtig gut.
"Oh,what a pitty", hörte ich dann, " you are wrong at this place, because this is London." Na, ein Pitti bin ich nicht, aber das ich in London war, das hatte ich mitgekriegt. Ne, dachte ich, bei meiner Nuss, dass die auch die gleiche Sprache haben, wos doch ganz woanders ist. Beim Abflug versuchte ich durch die Ritzen zu schmulen, was kein Problem war,denn mein Papier war nun mehrfach eingerissen und beschädigt. So konnte ich wenigstens noch einen Blick auf den Tower und den Buckingham Palace erhaschen.
Nun gut, wieder mal Abschied nehmen, die Welt klein und ich bin mehr Globetrotter als Nutkracker. Fürs Allgemeinwissen wars allemal gut.
Als ich diesmal landete, dachte ich, es ist das Erzgebirge, weil da so viel Schnee lag. Sogar die Flüsse waren zugefroren und die Kirchen sahen ganz anders aus als bei uns, nämlich mit so Riesenzwiebeln oben drauf, die bunt angemalt waren. Auf alle Fälle hatten die hier einen mächtig kalten und langen Winter mit Unmengen von Schnee.
Als mich so ein Dicker, der auf dem Kopf etwas hatte, dass wie ein Fuchs aussah, am Verladeband abgab und "Doswidanja" rief und dabei winkte, fiels mir ein. Das war Rußland und das wusste ich, weil Franz, mein Schnitzer und Schöpfer, immer wenn er einen über den Durst getrunken hatte, von einer Natascha und "Doswidanja" erzählte. Schlaues Knackerchen, lobte ich mich und dann kuschelte ich mich so richtig in meine Kiste, denn im Flugzeug wars endlich wieder schön warm.
Und wie sollte es auch anders sein: ich kam natürlich wieder nicht in New York an, sondern in einem Land, dass daneben liegt. MEXIKO stand in großen gelben Buchstaben über dem Flughafengebäude und ein lustiges Männchen, ungefähr so groß wie der große Nussknacker in unserem Heimatmuseum und mit vielen dunklen Locken, von denen ich glaube, dass sie sich ziemlich schwer schnitzen lassen, sagte: "Du bist bei den Nachbarn gelandet." Deshalb wusste ich, dass es nahe bei musste. Aber glatt daneben ist auch vorbei. Nur, wenns nach mir gegangen wäre, wäre ich dort in Mexiko geblieben. Die Sonne schien, die kannten auch keinen Schnee und hatten immer gute Laune. Außerdem gabs da auch ein Meer und ganz leckeres Bier und weils überhaupt so schön war, hatten die Menschen nicht so viel Lust zum Arbeiten. Das erfuhr ich alles von einer Kiste Zitronen, die neben mir stand und auf die Weiterversendung wartete. Diese Zitronen waren sowas von mitteilsam, die erzählten sogar was über Vorfahren, die so komische Namen hatten wie Atzeken und Inkas. Und das ich unbedingt mal die regionalen Mixgetränke versuchen müßte, wovon das Beste Caiprinha wäre, der mit den Schwestern der Zitronen, nämlich Limetten, gemacht wird. Die machten mir richtiggehend die Klappe wässrig, wo ich doch bloß unsern "Wurzelpeter" von zu Hause kenne und der war mir damals als junger Knacker immer zu bitter gewesen.
In Mexiko gabs jedenfalls alles: schöne Frauen, gelben Sand und sogar Pyramiden. Aber das glaubte ich denen nicht so ganz. Denn in der Nussknackerschule hatten wir gelernt, die Pyramiden ständen in Ägypten.
Überhaupt Ägypten, das wär ne Reise wert. Ab jetzt, so beschloss ich, würde ich mein Ziel bestimmen! Dieses New York, dass wahrscheinlich so klein war, dass es keiner finden konnte, hakte ich endgültig ab.
Ich dachte mir einen Plan aus. Ich musste einfach im passenden Moment vom Band springen und so lange warten, bis wieder eine ägyptische Maschine abgefertigt wurde. Dann würde ich einen auf Mitleid machen und so lange klappern, bis mich jemand mitnehmen würde.
Doch dann kam alles ganz anders. Ein paar Tage darauf trafen Landsleute ein und ich freute mir ne Nuss, als ich die vertrauten Laute hörte.
Die kamen sogar aus Berlin und es waren Riesengummibären aus Spandau und ein Sandmann aus Mitte.
"Hallo, ich bin auch aus Deutschland" rief ich und erzählte denen meine Geschichte. Wir waren mitten am Neuigkeiten austauschen, als wir abgeholt wurden. Im Flugzeug lag ich neben dem Sandmann.
"Sag mal, wohin fliegen wir eigentlich?" fragte ich.
"Na in die Staaten natürlich", antwortete er mit wackliger Stimme und ich hörte, dass der ziemliche Flugangst hatte.
Na, den Ägyptenurlaub konnte ich vergessen, dachte ich und tröstete den Kleinen mit ein paar aufmunternden Worten. Dessen Karton war wohl undicht, denn ich wurde kurz darauf so was von müde und war auch bald im tiefsten Schlaf.
Ich schrak hoch, weil einer der Gummibären laut aufschrie:
"Der Fernsehturm , das Brandenburger Tor."
Sofort war ich hellwach und sah aus dem Fenster. Tatsächlich, unter uns tauchten die Wahrzeichen Berlins auf. Ich bin nicht gefühlsduslig, aber in diesem Moment hatte ich mit den Tränen zu kämpfen.
Am nächsten Tag holte SIE mich von der gleichen Post ab, von der ich Monate zuvor abgereist war. Sie sah auf die Stempel auf meinem Karton, schneuzte sich und sagte: " Das gibt es nicht."
Dann packte sie mich vorsichtig aus und freute sich ne Nuss, dass ich trotz meiner Odyssee heil geblieben war. Sie stellte mich auf ihren Wohnzimmertisch direkt neben die Vase mit den Kirschzweigen, an denen so kleine runde Dinger hingen, die ich zwar kannte, deren Namen mir aber bei der ganzen Umherreiserei entfallen war.
"Sieh doch nur, unser Nussknacker ist wieder da", sagte sie zu ihrem Mann, "vor Weihnachten ging er auf Reisen und Ostern kehrt er zurück."
"Nun bleibst du bei uns", sagte sie und zog beinahe liebevoll an meiner Klappe. Mir wurde ganz warm ums Herz und eigentlich fand ich sie auch gar nicht mehr so übel, hatte ich mich doch manchmal zu ihr zurück gesehnt.
Sie brachte mich zu einer großen grünen Truhe, öffnete den Deckel und legte mich behutsam hinein.
"Im November hole ich dich heraus, dann wirst du endlich eingeweiht", versprach sie und boxte mich schelmisch auf den Kopf.
Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, da sah ich Fritz Rauch neben mir, meinen Bruder, das Räuchermännchen.
Und wir hatten uns so viel zu erzählen, dass die Zeit bis zum nächsten Weihnachtsfest wie im Fluge verging und wenn uns nichts mehr einfiel, spielten wir Post.



Eingereicht am 23. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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