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Die Alte und das Kind

© Antonia Stahn


Das große Haus am Ende der Villenstraße sieht unbewohnt aus. Über Jahrzehnte hat es sich ein verkommenes, ja hässliches Gesicht gegeben. Die breite Haustür aus Eiche hat unzählige Risse. Nur Jahre lang angelegte Patina verleiht ihr ein wenig Stabilität. Die wertvollen Möbel in den Zimmern sind mit Laken abgedeckt. Jeder Raum ist verschlossen. Kein Tageslicht dringt durch die geschlossenen Blendläden.
Die Anwohner der Villenstraße fühlen sich durch dieses äußerlich sehr herunter gekommene Haus erheblich gestört. "Diese alte Trutzburg sollte abgerissen werden", fordern sie den Bürgermeister während der Gemeinderatssitzung auf.
"Nichts zu machen. Wir können Frau Werther nicht zwingen, das Haus aufzugeben. Einen Platz im Seniorenheim ‚Ewige Sonne', lehnt sie kategorisch ab. Mit ihren fast neunzig Jahren ist sie erstaunlich gesund. Körperlich und geistig. Das hat der Entmündigungsversuch des Amtes erbracht. Wir können nur warten. Die Zeit läuft für uns. Ungeduld bringt uns hier nicht weiter", erklärt Bürgermeister Hoppe leicht gereizt. Wie gern möchte er der an dem Grundstück interessierten Supermarktkette endlich sein OK geben.
Ungern erinnert sich Claus Hoppe an das Gespräch mit der alten Dame. Frau Werther lassen die Argumente ‚Arbeitsplätze, mehr Wohlstand für die Gemeinde', völlig kalt. "Sollen die Leute doch sehen, wie sie fertig werden! Mir hat auch niemand geholfen! Bis zum heutigen Tag nicht! Kenne niemanden, der sein Kapital zusammen halten kann. Wie das Wasser beim Händewaschen fließt den Menschen das Geld durch die Finger. Alle wollen immer mehr von dem neumodischen Kram, der täglich auf den Markt kommt. Ihre Wünsche sind größer als ihr Geldbeutel, in dem dann irgendwann nur noch ein Schuldenberg Platz hat. Sparen und nochmals sparen! So habe ich es immer gehalten. Ich bin nicht auf die Hilfe anderer angewiesen. Und jetzt, mein Herr, verlassen Sie mein Haus. Ich möchte Sie hier nie wieder sehen!"
Die zornigen, schwarzen Augen der Alten sind dem Bürgermeister oft gegenwärtig. Sogar in seinen Träumen.
Die Alte wohnt schon seit Jahren in der ehemaligen Dienstbotenwohnung der Villa. Eine kleine Küche, ein winziges Bad und ein Wohn-Schlafraum genügen ihr. Sie denkt gar nicht daran, die restlichen Zimmer des Hauses zu beheizen. Wieder ein Kostenfaktor weniger. Die Feuchtigkeit, Schimmel oder Schwamm in den verschlossenen Räumen sieht sie ja nicht. Auch die kleine Wohnung ist nur mäßig warm. Hart ist die Frau. Ernährt sich sehr spartanisch. Fleisch isst sie schon lange nicht mehr. Zu teuer! Milch und Brot, gelegentlich ein Ei, hin und wieder ein Apfel aus dem Garten reichen ihr. Sie trägt nur Schwarz. Die uralten Kleider wirken immer etwas spakig, lassen sie sehr hager aussehen.
Eine spitze Nase, eingefallene Wangen, die schwarzen, stets blitzenden Augen der alten Dame, erinnern an den Charme eines Raubvogels.
Frau Werther macht sich ausgehfertig. Nichts Besonderes. Sie zieht nur den dünnen Wintermantel an. Ein paar altmodische Schutz-Schuhe - und ein Kopftuch auf dem spärlichen Haar sollen sie vor der Kälte schützen.
Einzig der Rollator ist ein Zugeständnis an das Alter. Natürlich gebraucht gekauft.
Der örtliche Sparkassenleiter Frank Fröhlich steht am Fenster seines Büros.
Er beobachtet das Spiel der Schneeflocken. Leise, aber stetig, verändert sich die Welt dort draußen. Gehwege und Strassen liegen unter einer weißen Decke.
"Bei dem Wetter kommt sie bestimmt nicht. Möglicherweise kein ‚Werther-Tag' heute? Ach, zu früh gefreut. Da ist sie schon! Die kann weder Tod noch Teufel aufhalten, und das Wetter erst recht nicht. Viel zu dünn angezogen. Im teuersten Zobel, von einer Sänfte getragen, könnte die Alte hierher kommen. Ein Leben wie Gott in Frankreich könnte sie führen. Doch sie denkt nicht daran. Sie versteckt ihren Reichtum lieber hinter dem Aussehen einer Vogelscheuche. Widerlich! Allein von den Zinsen des riesigen Vermögens könnten etliche Familien gut leben. Unvorstellbare Gedanken für diese Frau. Bruder Geiz ist ihr Gefährte, Schwester Gier ihre Beraterin. Mitleid oder Güte gehören nicht zum Vokabular unserer Kundin."
Trotz der bitteren Gedanken geht Herr Fröhlich in den Schalterraum. Gleich wird er wie an jedem ersten Montag im Monat Frau Werther begrüßen, seine Honneurs machen, und das ewig gleiche Prozedere über sich ergehen lassen.
Nach der Durchsicht der Kontoauszüge, lässt sich Fröhlichs "Lieblingskundin" einen höheren Betrag auszahlen. Es darf nur Papiergeld sein. Sorgfältig, unendlich langsam nimmt sie Schein für Schein in die Hand. Der junge Mann ahnt nichts von den Gefühlen der Alten. Weiß nicht, dass das Knistern der Scheine zwischen den Fingern ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihr auslöst. Er wundert sich jedes Mal über den Glanz, der etwa zehn Minuten lang das Gesicht der alten Frau völlig verändert.
Ist die Ahnung von Schönheit und Jugend verschwunden, zahlt sie das Geld sofort wieder ein. Anschließend hält sie sich eine halbe Stunde im Tresorraum auf.
Niemand darf sie dort stören. Niemand kennt den Inhalt des Bankfachs.
Leidenschaftlich streichelt sie die Goldbarren, lässt die Perlenketten durch die Finger gleiten. Die kalten Diamanten geben ihrem Herzen Wärme.
"Meins. Alles meins." Nahezu euphorisch verlässt sie diesen Raum. In befremdlicher Geberlaune wirft sie dann 50 Cent in die Sammelbüchse der Caritas.
"Soll ich ihnen ein Taxi bestellen, Gnädige Frau? Es ist bald dunkel. Aus dem leichten Schneefall ist inzwischen ein heftiger Schneesturm geworden. Sie haben einen weiten Weg vor sich. Ich habe Angst, dass Ihnen auf dem Heimweg etwas zustößt."
"Mir etwas zustößt? Dass ich nicht lache. Ich halte jedes Wetter aus. Bin sehr abgehärtet. Nicht so ein Weichei wie die jungen Leute von heute. Ein Taxi ist mir viel zu teuer! Bis in vier Wochen, junger Mann."
Die Alte nimmt ihr Wägelchen und verlässt die Bank. Kopfschüttelnd schaut Fröhlich ihr nach. "Wahrscheinlich passiert ihr wirklich nichts. So verbissen wie sie sich gegen den Sturm anstemmt, schafft sie es auch, unversehrt nach Hause zu kommen", beruhigt er sich.
Schon früh hat die Alte die Blendläden vom Küchenfenster aufgemacht. Sie sitzt am Tisch. Heute leistet sie sich zwei Tassen Kaffee. Die Kälte des Heimwegs sitzt ihr noch in den Knochen. Sie schlägt die Zeitung auf. Das Lesen der Börsenberichte gibt ihr die fehlende Wärme zurück. "Warst wirklich gut, Selma, wieder mal richtig spekuliert, das Konto bekommt Zuwachs", freut sie sich. Nur wegen der Börsenberichte leistet sich Selma den Luxus Zeitung. Die anderen Berichte interessieren sie nicht. Das Welt und Tagesgeschehen, Schicksale ihrer Mitmenschen lassen sie kalt.
Selma wirft einen Blick in ihren verschneiten Vorgarten. "Ärgerlich! Muss wohl doch den ollen Heinrich anrufen. Zum Schneeschippen fehlt mir leider die Kraft. Aber was das wieder kostet!"
Nachdenklich schaut sie noch einmal hinaus. Sie hat etwas gesehen, aber nicht wahrgenommen. Empört reißt sie das Fenster auf.
Da steht doch wahrhaftig ein Kind. Wie ist es über den Zaun gekommen? "Kannst du nicht lesen? Betteln und Hausieren verboten! Verschwinde von meinem Grundstück, aber dalli, sonst mach ich dir Beine", schreit die alte Frau.
Wütend schließt sie das Fenster. ,,Ziemlich dreist, dieses Bettelvolk", grummelt sie. Die wütenden Worte haben das Kind nicht vertrieben. Unbeirrt steht es da. Die großen, dunklen Augen auf die Alte hinter dem Fenster gerichtet.
"Selma, Selma hörst du mich?" Eine leise, recht dünne Kinderstimme überwindet die vierundzwanzig Meter des Vorgartens, dringt durch Mauern und Fenster.
Selma hält sich die Ohren zu. Sie will es nicht zulassen. Diese Stimme löst etwas aus in ihr. Stört ihr Denken. Bringt sie tatsächlich aus dem Gleichgewicht.
"Selma, heute ist der erste Dezember. Ein sehr wichtiger Tag."
"Was ist daran so wichtig? Ich habe viele erste Dezember-Tage erlebt. Bedeutungsvoll waren sie nie. Was fällt dir ein, mich zu duzen? Haben dir deine Eltern überhaupt nichts beigebracht! Sie heißt das. Sie und Frau Werther, wenn du mich ansprichst, klar?"
"Was ist ein ‚Sie'? Dort, woher ich komme, gibt es dieses Wort nicht. Wir haben auch alle nur jeweils einen Namen."
Die Alte schüttelt den Kopf. "Von den primitiven Völkern kann man eben keine Kultur erwarten", sagt sie sich.
Selma will sich wieder den Börsenberichten zu wenden. Ein unerklärlicher Zwang bringt sie immer wieder dazu, aus dem Fenster zu schauen. Das merkwürdige Kind steht noch da. Wie angewurzelt. Seine großen, dunklen Augen lassen das Gesicht der alten Dame nicht los, ziehen die Frau in ihren Bann. Beinahe verliert sie sich darin:
"Komm mit mir", sagen diese Augen. "Ich zeige dir die Welt, in der du nie Zuhause warst. Diese Reise bietet dir eine Chance. Die Letzte, die du in deinem Leben bekommen wirst."
Ärger steigt in Selma auf. Ihr braucht niemand zu sagen, wie man Chancen wahrzunehmen hat. Mit ihrem Zorn bricht sie den Bann. Ihre reale Welt ist zurückgekehrt.
"Mit diesem Trick könnt ihr bei mir nicht landen, Betrügerpack! Wollt ihr mir drohen? Verschwinde endlich, du freches Gör! Deine Eltern warten wahrscheinlich an der nächsten Ecke auf dich. Sag ihnen, dass bei mir nichts zu holen sei. Erpressen lasse ich mich auch nicht: Von wegen, letzte Chance! Tauchst du noch einmal hier auf, rufe ich die Polizei." Sie schreit ihre Wut nur noch in den Wind.
Das Kind ist nicht mehr da. Einfach verschwunden.
Der nächste Tag verläuft wie jeder Tag im Leben der Selma Werther. Noch spürt sie die Veränderung nicht. Langsam, schleichend, macht sich die Nervosität breit. Das Kind! Es geht ihr nicht aus dem Sinn. Erwartung liegt in den immer häufigeren Blicken aus dem Fenster.
"Guten Tag, Selma. Leider konnte ich heute nicht früher kommen. Hast du lange auf mich gewartet?"
Die leise, zarte Kinderstimme bringt eine unbekannte Saite im Herzen der Alten zum Klingen. Heftig wehrt sie sich dagegen. Sie reißt das Fenster auf. "Gewartet? Blödsinn! Ich habe weder auf dich, noch auf sonst jemanden gewartet."
Auch heute lässt sich das Kind nicht vertreiben. Ruhig steht es da. Zwei Meter liegt das Gartentor hinter ihm.
"Hoffentlich traut es sich nicht weiter. Ins Haus lasse ich es nicht! Sobald ich die Tür aufmache, steht sicher die ganze Familie auf der Schwelle. In Sekundenschnelle wird sie mich überwältigt und ausgeraubt haben."
Mit Schwung knallt Selma das Fenster zu. Sie versucht, das fremde Kind nicht mehr zu beachten.
"Ich komme morgen wieder, Selma. Dann bleiben dir nur noch einundzwanzig Tage. Denke über deine Chance nach!"
Genau wie gestern, ist das Kind plötzlich verschwunden.
Jeden Tag besucht es die alte Frau. Meter um Meter des Vorgartens bringt es hinter sich. Als es nur noch neun Meter von der Haustür entfernt steht, wird Frau Werther ungeduldig. "Lass mich doch einfach in Ruhe! Ich brauche deine letzte Chance nicht. Verschenke sie, an wen du willst. Ich hatte genug Chancen in meinem langen Leben. Habe sie alle genutzt."
"Aber Selma, du bist auserkoren. Niemand sonst! Willst du mich nicht verstehen?" Ernst und sehr traurig ruhen die riesigen, dunklen Augen auf Selma.
Drei Tage vor dem vierundzwanzigsten Dezember gibt die alte Frau ihren Widerstand auf. Sehr zögerlich fragt sie das Kind nach seinem Namen.
"Ich heiße Jesus."
"Also ein Junge bist du. Mit deinen langen Locken und dem merkwürdigen, weißen Kleid, siehst du eigentlich wie ein Mädchen aus. Jesus! Wieder so ein neumodischer Name. Können die Menschen ihren Kindern keine vernünftigen Namen geben. Heinrich, Josef oder Johannes klingt doch erheblich schöner."
"Mein Name ist nicht neu, Selma. Ich trage in schon sehr lange. Viele Menschen mögen ihn. Auch du könntest ihn lieben."
"Was heißt schon lieben? Mit der Liebe bringt man es nicht weit. Da bin ich mir sicher", brummt die Alte.
Trotzig schaut sie in das blasse Kindergesicht. Jesus lächelt. Das Funkeln seiner Augen zieht Selma magisch an. Sie kann nicht mehr denken. Haltlos versinkt sie in den tief schwarzen Seen.
"Jetzt beginnt unsere Reise, Selma. Mach die Augen auf. Du sollst sehen und lernen!"
"Ich sehe sehr gut. Aber lernen! Alte Leute brauchen nichts mehr zu lernen, Jesus."
"Um die Wissenschaft geht es auch nicht. Das Leben will ich dir zeigen. Schau hin, Selma, und begreife. Versuche in die Herzen der Menschen zu blicken. Dann schaue in dein eigenes. Dort liegt, tief im Verborgenen, der Schatz, nachdem du immer gesucht hast."
Den Sinn der Worte versteht die Frau nicht. Nur das Wort "Schatz" hat sie behalten. Lange sind die beiden unterwegs. Selma sieht unendlich viel Not und Elend.
Es berührt sie kaum. Der Reichtum umso mehr. Auch dort gibt es Not. Allerdings nur seelische. Für die Seelennöte anderer Menschen hat die Frau noch nie Verständnis aufgebracht. Warum sollte sie jetzt ihre Gedanken daran verschwenden?
Verwirrt schlägt sie die Augen auf. "Ich bin wohl eingeschlafen. Seltsamer Traum." Die Alte schüttelt sich, steht energisch auf. Unter der Haustür liegt ein Brief. Wie jedes Jahr hat die Großnichte aus Süddeutschland geschrieben.
‚Liebe Tante Selma!' mehr liest die alte Frau nie. Sie legt den Brief zu den anderen in eine Schuh-Schachtel. "Auch nur eine Erbschleicherin. Die bekommt nichts von meinem Geld. Doch halt, eine Kleinigkeit vermache ich ihr. Sie bekommt die Schachtel mit ihren Bettelbriefen", kichert die Alte boshaft.
Am nächsten Tag steht der Junge fast vor dem Fenster. Selma möchte nicht, dass er ins Haus kommt. Sie fürchtet sich vor ihm. Er ist ihr unheimlich. Da sind ihr die frechen Kinder aus der Nachbarschaft lieber. Der Kleine dort spricht und benimmt sich nicht wie ein Kind.
"Geh endlich nach Hause! Sicher vermisst man dich schon. Morgen ist doch Weihnachten. Der Heilige Abend ist das Fest der Familie, habe ich gehört."
"Stimmt, Selma. Wir wünschen uns alle, dass auch du endlich daran teilnimmst. Aber leider hast du deine Chance nicht wahrgenommen. Unsere Reise hat nichts erbracht. Seit dreiundzwanzig Tagen bin ich Schritt für Schritt auf dich zugegangen. Morgen werde ich diesen mühevollen Weg zum letzten Mal gehen."
"Ja, ja, und dann wirst du mir endlich meine Chance erklären. Ich habe dein Gefasel nie verstanden. Bis heute weiß ich nicht, was du eigentlich von mir willst", schreit Selma dem Jungen wütend nach.
Die alte Frau hat schlecht geschlafen. Stundenlang dem Sturm zugehört. Sie fühlt sich unbehaglich. Dennoch gönnt sie sich heute ein opulentes Frühstück. Ein Ei und zwei trockene Brotscheiben.
Zufrieden schaut sie aus dem Fenster. Der Wind hat nicht nachgelassen. Dicke Schneeflocken treibt er vor sich her.
"Gott sei Dank. Bei diesem Wetter jagt man nicht mal einen Hund vor die Tür. Und kleine Jungen müssen zu Hause bleiben", denkt Selma hoch erfreut.
Sie geht ihren täglichen Arbeiten nach. Heiligabend ist auch nur ein x-beliebiger Tag.
Selma hält die Weihnachtsgeschichte für ein sentimentales Märchen. An Märchen hat sie als Kind schon nicht geglaubt.
"Hättest du geglaubt, wäre dein Leben reicher gewesen."
Oh nein! Das Kind ist wieder da! Vorsichtig dreht sich die Alte zum Fenster. Wahrhaftig. Der Junge steht direkt unter dem Küchenfenster. Die nackten Füße stecken in einer Schneewehe. Die feine Stimme, der intensive Blick bereiten Selma fast körperliche Qualen. Die Schneeflocken berühren ihn nicht, die dunklen Locken halten dem Wind stand.
Das golddurchwirkte Kleid verbreitet ein helles Licht. Die alte Frau schließt die Augen. Seltsame Gefühle drängen sich auf. Sie denkt plötzlich über ihr Leben nach, sieht es wie einen Film vor ihrem inneren Auge ablaufen.
"Nun Selma, bist du zufrieden mit dir?"
"Ich weiß es nicht, ich weiß nicht mehr, was ich denken oder gar tun soll."
Schüchtern, beinahe demütig schaut sie Jesus an. Sie hat endlich begriffen, wer dort vor ihrem Fenster steht.
"Keine Angst, Selma. Ich will dir helfen, die letzte Gelegenheit auf Glück in deiner neuen Existenz, wahrzunehmen. In dieser Welt hier, hast du deine Zeit durch Geiz und Raffgier verschwendet. Fast am Ende deines Lebens, stehst du allein und mit leeren Händen da. Lass mich ausreden! Deine Hände sind leer. Du hast sie zu früh verschlossen. Versuche zu geben. Noch heute. Nimm von dem Geld aus deinem Versteck im Schlafzimmer. Es gibt viele arme Familien in der Stadt. Sie werden dir für deine Hilfe dankbar sein. Das Leuchten in glücklichen Augen ist das schönste Licht der Welt, Selma. Es wird dich wärmen in dieser stürmischen Nacht, dir den Zugang zum verschütteten Schatz in deinem Herzen erleichtern."
Das Gesicht der alten Frau wird leichenblass. Fiebrig glänzen die kleinen Vogelaugen.
Sie presst die dünnen Lippen aufeinander, versucht das hektische Atmen unter Kontrolle zu bringen.
Das Sprechen fällt ihr schwer. "Welcher Schatz?"
Traurig schaut der Junge die Alte an. Das bösartige Zischen ihrer Stimme bekümmert ihn sehr.
"Liebe, Güte, Verständnis, Mitleid, auch geben und nehmen können, sind die wertvollsten Kleinodien, die jedem Menschen mit auf den Weg gegeben wurden. Auch dir, Selma!"
Die Wut brodelt, jagt einen Adrenalinstoss nach dem anderen durch den Körper der Frau. "Das beste Kleinod hast du vergessen, mein Junge", platzt sie heraus.
Endlich kann sie wieder reden, Dampf ablassen!
"Auch Verstand ist uns Menschen mehr oder weniger gegeben worden. Trotz meines hohen Alters habe ich ihn nicht verloren. Beinahe wäre ich auf dein scheinheiliges Getue herein gefallen. Ich soll mein Geld verschenken? Dass ich nicht lache! Einen tollen Trick habt ihr euch ausgedacht. Mit Gefühlsduselei und sentimentalen Weihnachtsmärchen den alten Menschen das mühsam Ersparte aus der Tasche ziehen. Nicht mit mir! Da habt ihr euch verrechnet. Von mir bekommt niemand etwas, nicht den kleinsten Cent! Noch heute werde ich mein Testament schreiben. Sollte ich irgendwann diese Welt verlassen, nehme ich mein Vermögen mit. Das Geld soll verbrannt, der Schmuck zu Staub gemahlen und nach der Feuerbestattung mit meiner Asche vermischt werden. Jetzt verschwinde Junge! Du und deine Familie habt eure Zeit mit dem falschen Opfer vertan. Sucht euch ein paar Dümmere. Viel Glück! Und wie sagt man so schön? Frohe Weihnachten!"
Das boshafte Kichern der Alten treibt dem Kind Tränen in die Augen. Unendliche Trauer liegt in seinem Blick.
"Du tust mir Leid, Selma. Du bist verloren! Niemand wird um dich weinen. Leb Wohl."
Der Junge namens Jesus wendet sich ab. Mit langsamen Schritten verlässt er den Vorgarten. Zufrieden schaut die Alte ihm nach. "Der kommt bestimmt nicht wieder", denkt sie und schließt das Fenster mit ungewohnter Behutsamkeit.
Auf dem Küchentisch liegen Block und Füller. In kurzen, knappen Sätzen schreibt die Frau ihr Testament. Mit Erleichterung und hämischer Freude nimmt sie das Blatt in die Hand um den Text zu kontrollieren. Aber was ist das? Nur ein Wort steht auf dem Papier. "… habe ich doch nicht geschrieben! Was soll das?" Wieder und wieder versucht Selma ihre Verfügungen nieder zu schreiben. Blatt um Blatt reißt sie von dem Block. Verloren! Nur dieses Wort ist zu lesen. Verwirrt starrt die Frau auf die Lettern, die von Mal zu Mal größer werden. Plötzlich ist die Erkenntnis da! Angst steigt auf. Sie rollt mit sengender Hitze durch die Adern. Selma springt auf, läuft zu Haustür.
"Warte, Junge, warte auf mich!" Jeder Schritt durch den hohen Schnee kostet Kraft.
Dennoch erreicht die Alte ihr Gartentor. Die dünnen, eiskalten Finger umklammern die Gitterstäbe. Tränen strömen über die runzligen Wangen. "Oh, bitte, Jesus, komm zurück! Ich habe dich endlich verstanden!" Immer wieder ruft sie. Aus dem Schreien wird langsam ein ängstliches Flüstern. Die Hände verlieren ihren Halt. Selma fällt in den Schnee.
Sie versucht noch einmal den Kopf zu heben. Es gelingt ihr, auf die Straße zu schauen. In weiter Ferne sieht sie das Kind. Es scheint immer kleiner zu werden.
"Bitte, höre mich, Jesus!", flüstert Selma zum letzten Mal.
Ihre Worte erreichen niemanden mehr. Es wird sehr still in dem Vorgarten der alten Villa.
Die Großnichte in Süddeutschland bedauerte den plötzlichen Tod ihrer Tante sehr.
"Eine Antwort auf meine Briefe habe ich nie bekommen. Aber ich glaube, dass meine Mitteilungen über unser Leben hier im Waisenhaus sie interessiert haben. Endlich ist das Betteln um Spenden für die armen Kinder hier vorbei. Das große Vermögen der lieben Tante Selma wird all unseren Schutzbefohlenen zu Gute kommen", erklärt Nina dem Notar freudestrahlend.



Eingereicht am 27. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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