Die entmystifizierende Tante
© Marta Bern
Als ich sieben Jahre alt war, setzte mich mein Vater in einen Zug und der brachte mich zu Tante Hilde aufs Land. Es war ein milder Wintertag ohne Eis und Schnee kurz nach Weihnachten. Meine wunderbaren Geschenke begleiteten mich und ließen mich völlig vergessen, dass meine Mutter mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht wurde und dass ich Tante Hilde gar nicht mochte.
Tante Hilde wartete schon mit ihrem alten Drahtesel auf dem trostlosen Bahnsteig auf mich. Trotzdem galt ihr erster Blick der alten Bahnhofsuhr und nicht mir. Ihr zweiter Blick streifte übertrieben gleichgültig mein neues Fahrrad. Erst ihr dritter Blick traf mein Gesicht, zumindest einen Teil davon, nämlich die untere Hälfte. Stolz präsentierte ich mich mit meinem funkelnagelneuen Fahrrad und Tante Hilde bewunderte uns säuerlich lächelnd. Ich spürte ihren Neid und empfand diabolische Freude dabei. Auf dem Weg
zu ihrem Gehöft redeten wir nicht sehr viel miteinander. Das zügige Tempo nahm ihr und die ungewohnte Steigung mir die Luft. In ihrer guten Stube angekommen, erzählte ich ihr beim Tascheauspacken begeistert von unserem grandiosen Weihnachtsfest. Kindisch stolz zeigte ich ihr all meine fantastischen Geschenke. Und da war eine ganze Menge zu zeigen. Noch nie hatte ich derart viele Geschenke bekommen. Selbstverständlich lobte ich den fleißigen, lieben Weihnachtsmann über alle Maßen, obwohl er mir, ehrlich gesagt,
tüchtige Angst eingejagt hatte. Dieser Weihnachtsmann war kein gütiger stiller alter Mann in einem von Rentieren gezogenen Schlitten. Oh nein, dieser Weihnachtsmann war ein ungewöhnlich lauter und poltriger Mann. Weder dick noch dürr stapfte er zu Fuß von Tür zu Tür, ohne Schlitten und Rentiere. Dieser Weihnachtsmann stand am Weihnachtsabend mitten in unserem Wohnzimmer, brüllte und fuchtelte derart heftig mit der Rute herum, dass sie sich in seinem weißen Bart verfing und flauschige Stücke herausriss. Aber bei
Tante Hilde mochte ich keinen Weihnachtsmann kritisieren oder kritisieren lassen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass ich mich vor diesem wilden Manne ängstlich hinter dem Sofa verkroch.
Wer gibt schon gerne zu, dass er wahnsinnige Angst vor dem Weihnachtsmann hat?
Meine Tante störte meine phantasiereiche Ausschmückung eines der schönsten Tage des Jahres erheblich. Mit hinterhältig lauernden Blicken stellte sie mir sehr eigenartige Fragen, deren Sinn ich nicht erfasste: "Glaubst du wirklich an den Weihnachtsmann? Meinst du im Ernst, dass es einen Weihnachtsmann gibt?"
Verdutzt antwortete ich das Selbstverständlichste von der Welt: "Ja, natürlich!!!" Ich dachte nicht weiter über diese komischen Fragen nach. Aber als sie mich immer wieder und wieder das Gleiche fragte, wunderte ich mich schon. Einmal platzte ich empört mit der Gegenfrage heraus: "Du etwa nicht?!"
Auf diese rein polemische Äußerung schien sie die ganze Zeit nur gewartet zu haben. "Nein, natürlich nicht! Nur Kleinkinder glauben noch an den Weihnachtsmann."
Ein Kleinkind! Ich? Sieben Jahre war ich alt! Ich war schockiert. Ich war sogar äußerst schockiert und wollte sofort nach Hause zurück fahren.
Wie mich Tante Hilde damals besänftigte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls reiste ich nicht ab. Jedes Mal jedoch, wenn ich mit meinen Geschenken zu prahlen begann, spottete sie über mich und meinen Weihnachtsmann. Also prahlte ich immer großkotziger und sie verhöhnte mich immer himmelschreiender. Sie verlachte mich, weil ich an einen Mann glaubte, den ich mit meinen eigenen Augen gesehen, mit meinen eigenen Ohren gehört und von dem ich, mit meinen eigenen Händen, Geschenke empfangen hatte.
Trotz meiner detaillierten Beschreibung konnte ich sie nicht von der Existenz des Weihnachtsmannes überzeugen. Sie redete dauernd von unserem Nachbarn, einem schwerhörigen Alten, den ich nicht sehr mochte, weil er offensichtlich nichts weiter zu tun hatte, als Kinder zu beobachten und sich dann bei deren Eltern über sie zu beschweren.
Es klingt vielleicht unsinnig, aber ich begann nach und nach selbst an der Existenz des Weihnachtsmannes zu zweifeln. Je lauter ich der Tante gegenüber argumentierte, desto mehr zweifelte ich. Diese Weihnachtsmann-Geschichte beschäftigte mich nun schon Tag und Nacht. Außerdem konnte ich den Anblick von Tante Hilde längst nicht mehr ertragen.
Ich sehnte mich unendlich nach Hause zurück. Aber zu Hause gab es niemanden. Mein Vater halte sich für unbestimmte Zeit im Ausland auf, meinte Tante Hilde. Ich verdächtigte diese Tante mittlerweile tatsächlich schon, die Unwahrheit zu sagen. So viel wusste ich allemal; mein Vater reiste nie gerne, schon gar nicht ins Ausland. Was meine Mutter betraf, da mochte die Tante wohl die Wahrheit sagen. Mutter lag höchstwahrscheinlich immer noch im Krankenhaus, denn sie rief uns zwei Mal an. Natürlich hatte ich ihr von
diesem schlimmen Weihnachtsmann-Streit mit Tante Hilde berichtet und sie gefragt, ob es stimme, dass es gar keinen Weihnachtsmann gebe. Die Telefonstimme meiner Mutter klang sehr schwach. Jedenfalls glaubte ich ein "Na ja" zu vernehmen. Aber was hieß hier "Na ja"?
Meine Mutter musste wirklich ernsthaft krank sein, wenn sie so unverständlich und leise daherredete.
Als meine Mutter kurze Zeit später starb, wusste ich plötzlich, dass Tante Hilde Recht hatte. Es gab keinen Weihnachtsmann. Es hatte nie einen Weihnachtsmann gegeben. Alles war nur Lug und Trug und die Illusion eines kleinen dummen Kindes, das nicht erwachsen werden wollte.
Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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