www.online-roman.de       www.ronald-henss-verlag.de
Weihnachten Weihnachtsgeschichte Weihnachtsgeschichten Kurzgeschichte Weihnacht Advent

Der freie Platz. Oder: Das umgefallene Glas

© Petra Kramp


Vor einigen Jahren unterhielten sich einige Mütter im Kindergarten meines Sohnes über Weihnachtsrituale und der Brauch einer Polin gefiel mir so gut, dass ich ihn in den Jahren darauf auch in meiner Familie übernahm:
Die Polin legte an Weihnachten stets ein Gedeck mehr auf, als Personen anwesend waren bzw. erwartet wurden. Und dieser freie, aber eingedeckte Platz war entweder für einen dann unerwartet erscheinenden Gast gedacht oder aber für den Geist eines verstorbenen Familienangehörigen. Auf diese Weise konnte beispielsweise der verstorbene Großvater - besonders am Weihnachtsfest, dem Fest der Familie schlechthin - niemals in Vergessenheit geraten. So, wie die gemeinsame mit den Kindern durchgeführte Grabpflege das Vergessen eines lieben Verstorbenen verhindern helfen, so hält ein solches Ritual mit dem frei gehaltenen und komplett eingedeckten Platz am Tisch die Erinnerung lebendig.
Mir gefiel aber auch die zweite damit verbundene Möglichkeit: Sollte sich ein zusätzlicher, unerwarteter Gast einstellen, so fände er direkt - im wahrsten Sinne des Wortes - seinen Platz am Tisch.
Mein Mann hatte die Einführung dieses Rituals nicht unbedingt gerne gesehen, er hielt dieses alles für Quatsch, aber ich ließ mich nicht beirren, geschweige denn davon abbringen …
So vergingen die Jahre, ohne dass sich etwas Nennenswertes oder gar Außergewöhnliches ereignet hätte. Bis … ja, bis ich erneut schwanger wurde und im hochschwangeren Zustand das Weihnachtsessen vorbereitete.
Ich war in den letzten Tagen vor Weihnachten zugegebenermaßen sehr unruhig gewesen, hatte mir Sorgen über die bevorstehende Geburt gemacht, schließlich war die erste auch nicht ohne Komplikationen verlaufen. Darüber hinaus musste ich in letzter Zeit sehr oft an meine schon vor zehn Jahren verstorbene Mutter denken. Wo war sie nur jetzt? Ging es ihr da, wo sie jetzt war, gut? Hatte sie mein bisheriges Leben weiter mit verfolgen können von dem "Ort", an dem sie sich befand? Hat sie unser erstes Kind, ein Mädchen, heranwachsen sehen können? Sah sie "von oben" herunter, wenn Klein Carolin mit ihren Händchen die Vergissmeinnicht auf Mamas Grab pflanzte? Ach, diese Gedanken machten mich wieder so traurig und ich vermisste sie so sehr!
Es war wieder Heiligabend und ich hatte vier Gedecke aufgelegt - ein Gedeck mehr, als Personen anwesend sein sollten. Das Essen war im Ofen und wir gingen gemeinsam zum Kindergottesdienst. Als wir zurückkamen, nahm jeder seinen Platz ein. Carolin war natürlich ganz aufgeregt. Was verlangen wir Erwachsenen bloß von den Kindern? Da sollen sie doch tatsächlich noch vor der Bescherung "in Ruhe" speisen und weiterhin geduldig sein!
Wir prosteten uns gegenseitig zu, wünschten uns nochmals eine Frohe Weihnacht, und - da geschah es: Das vierte Glas kippte ohne erklärlichen Grund plötzlich um und rollte etwas über den Tisch in meine Richtung! Mein Mann behauptete natürlich sofort, Carolin wäre dagegen gekommen, aber sie leugnete es und fing sogar an zu weinen. Vielleicht, weil sie es anscheinend wirklich nicht war? Ich glaubte ihr jedenfalls und rückblickend betrachtet hätte sie es rein technisch gesehen auch gar nicht gewesen sein können: Ihre Ärmchen reichten gar nicht bis dahin!
Fast im gleichen Moment glaubte ich wiederum eine ganz sanfte Berührung am Arm zu spüren. Ich bekam eine Gänsehaut! War es vielleicht Mama gewesen? Wollte sie mir etwas mitteilen? Oder war es nur meine Schwangerschaft, meine kurz bevorstehende Geburt und der damit verbundene Hormoncocktail, dass ich "nun völlig am Rad drehte", wie mein Mann manchmal behauptete?
Voller Unruhe verbrachte ich den Rest des Abends. Nur während der eigentlichen Bescherung ließ ich mich durch die kindliche Aufregung und das grenzenlose Erstaunen Carolins ob der Herrlichkeit der Geschenke ablenken.
Aber in der Nacht waren sie wieder da, meine Unruhe und meine bohrenden Fragen: Warum fiel das Glas um? Hat es doch jemand "von uns" umgeworfen? Was hatte das alles zu bedeuten? Und wer hatte mich am Arm gestreichelt? Oder war das alles nur Einbildung gewesen?
Ich schlief sehr schlecht ein in der Nacht, aber irgendwann holte sich der Schlaf doch noch sein Recht.
Und im Traum hörte ich eine Stimme, die aus einem Licht kam. Sie sprach zu mir: "Hab keine Angst. Deiner Mutter geht es gut, ja, sie begleitet dich sogar in gewisser Weise. Natürlich kennt sie auch Carolin. Und sie lässt dir ausrichten, dass du schon bald - problemlos - hörst du - Deine Christina zur Welt bringen wirst!"
Dann erwachte ich. Ich hatte Schmerzen und in meinem Bett war alles ganz nass - meine Fruchtblase war geplatzt. Ich weckte meinen Mann, irgendwie ganz ruhig jetzt, fast schon ein wenig zu ruhig, fast abgeklärt und sagte zu ihm: "Es ist so weit, wir müssen ins Krankenhaus."
Er war sofort hellwach, sprang hektisch in seine Hose. Ich telefonierte noch mit einer Nachbarin, die versprochen hatte, herüberzukommen, um sich um Carolin zu kümmern.
Dann fuhren wir ins Krankenhaus. Es war mittlerweile 2.35 Uhr.
Um genau 4.45 Uhr gebar ich unsere zweite Tochter - Christina - unser Christkind! Völlig ohne Komplikationen!
Dies liegt nun wiederum zwei Jahre zurück. Noch immer trage ich - einer lieben Gewohnheit folgend - zu Weihnachten ein zusätzliches Gedeck auf. Doch jetzt "weiß" ich ja, dass es genau so richtig ist. Und dass dieser Platz eigentlich die ganzen Jahre schon - symbolisch - für meine Mutter vorgesehen war und ist. Denn davon bringt mich jetzt keiner mehr ab!



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

»»» Weitere Weihnachtsgeschichten «««
»»» Weitere Weihnachtsgeschichten «««

Weihnachts-Blogs
»»» Blog Weihnachtsgeschichten
»»» Blog Weihnachtsmarkt
»»» Blog Weihnachtsmuffel
»»» Blog Weihnachtsgedichte
»»» Blog Weihnachtsbuch
»»» Blog Wintergedichte
»»» Blog Wintergedichte
»»» Blog Weihnachtsgedichte 1
»»» Blog Weihnachtsgedichte 2

»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» HOME PAGE «««