Ins Gesicht sehen
© Manfred Briese
Jan Martens hatte soeben die Haustür von innen verschlossen, als das Telefon noch nicht zuließ, dass endlich Ruhe einkehrte. Gesine? Wohl kaum, jetzt so spät noch.
"Herr Pastor!" Der Küster war dran. "Herr Pastor, hier ist was los! So was habe ich noch nicht erlebt! Zwei junge Leute stehen vor dem Altar und wollen nicht raus aus der Kirche. Sie weigern sich. Unglaublich. Als ich sie rausdrängen wollte, den Jungen an den Ärmel packte - fast zugehauen hätte der! Das habe ich wirklich in meinen dreizehn Jahren als Küster noch nicht erlebt! Sie werfen mit den großen teuren Kerzen herum, die Wutköppe! Schreien und weinen. Die spielen sich auf wie Verrückte! Ich
habe es schon bei der Polizei versucht. Aber da meldet sich keiner mehr!"
Das hatte Jan Martens gerade noch gefehlt, müde, wie er war. Zwei Andachten heute Abend. Wieder musste er den Kollegen vertreten. Wieder einmal hatte dessen Kreislauf schlapp gemacht. Was Wunder. Er trank oft zu viel, das war in dem Städtchen kein Geheimnis. Aber er wusste manchmal nicht wohin, aus Angst vor dem Gottesdienst, Angst, wieder alles zu vergessen oder durcheinander zu werfen. Doch das hatte bisher noch keiner im Ort mitgekriegt. Und wer musste in solchen Fällen einspringen? So wie früher auch schon?
Er natürlich, Pastor Jan Martens. Gesine war ziemlich enttäuscht darüber. Sie musste allein zu den Kindern fahren, ohne den Opa mit den Enkelkindern Bescherung machen, mit ihnen singen, Geschenke auspacken und die Kleinen glücklich sehen. Erst morgen konnte er nachkommen.
"Was sind das für Leute, sagtest du?", fragte Jan Martens bei dem Küster noch einmal nach. Ach, es half ja doch nichts. Er atmete tief ein. "Lass man, Gerhard! Ich habe die Jacke noch gar nicht ausgezogen. Bin schon unterwegs!"
Zwei Andachten, um fünf und um halb elf in der Nacht. Zweimal hatte er die Weihnachtsgeschichte vorgetragen, wie jedes Jahr. Lukas 2. Über die Gesichter huschte dann ein Lächeln, das Lächeln des Wiedererkennens. Aber Jan machte sich keine Hoffnungen, dass die Menschen, auf die er von der Kanzel hinabblickte, ihm länger zuhörten. Auch sie waren müde von der Weihnachtshetze. In ihren Augen konnte er eine Menge lesen. Auch, dass sie in Gedanken häufig ganz weit weg waren.
Beim Betreten der Kirche fiel Jan Martens Blick sofort auf die beiden, die sich mit den Armen umschlungen hielten. Wie voller Angst, dass man sie auseinanderreißen könnte.
Während er im Langschiff durch die Bankreihen zum Altar stürmte, steigerte er sich immer stärker in Rage: "Liebe Leute! So geht es nun wirklich nicht! Der Küster muss abschließen. Das kann er nicht, wenn ihr hier Ärger macht!"
Die einzige Antwort der beiden: Sie zuckten mit den Schultern, kaum merkbar. Das war alles.
"Seid doch vernünftig! Der Küster und ich, wir haben einen langen Tag hinter uns und sind hundemüde. Es ist nach halb eins. Ihr müsst doch auch nach Hause!"
Oh, da hatte er was gesagt! Nach Hause?, heulte das Mädchen. Sie hätten kein Zuhause!
"Ja, dann muss ich bei der Polizei anrufen. So Leid mir das tut."
Wieder Schulterzucken. Ihnen war wohl alles egal. Sie standen aneinandergeschmiegt, zwei blasse, verweinte Gestalten, ineinander verschmolzen. Jan Martens sah den Küster an und meinte: "Geh man los. Ich kümmere mich um die beiden. Du hast schon lange genug ausgehalten. Gib mir die Schlüssel. Und schlaf gut. Morgen früh musst du ja schon wieder hier sein. Ich hoffe, dass mein Kollege bis dahin auf dem Damm ist. Ich jedenfalls fahre zu meinen Kindern. Das steht fest."
Er winkte die jungen Leute zu sich in die Kirchenbank. Zögernd folgten sie seiner Bitte, sich weiterhin umarmend. Erst mal Schweigen. Der Blick des Pastors Blick fiel auf den Weihnachtsbaum mit den gelöschten Kerzen, auf die Krippe mit dem Jesuskind unter dem Dach weit ausladender Zweige, auf Maria und Joseph. Denn sie hatten keinen Raum in der Herberge. Sein Blick fiel auf den Gekreuzigten über dem Altar.
Unvermittelt, ins Schweigen hinein: "Ihr habt bestimmt Hunger!" Er stand auf. "Kommt mit, in Gottes Namen!" Ganz langsam kam Leben in die beiden Gestalten. Sie lösten die Klammerarme voneinander und seufzten leise auf. Geräuschvoll wurde mit dem großen Schlüssel die Kirchtür verriegelt. Ins Auto des Pastors einsteigen und los. Es dauerte nicht lange, bis sie in der Küche des Pastorenhauses saßen und zaghaft vom gut belegten Wurstbrot abbissen.
Doch dann kam der Wasserfall ins Brausen. Beide sechzehn, aus Oldenburg, gingen aufs Gymnasium. Doch ihren Eltern würden sie nichts recht machen. Luise war in ihren Augen nicht fleißig genug, hinge den ganzen Tag mit Sascha herum. Da konnte nichts Vernünftiges bei herauskommen. Nicht mal zu Weihnachten wollte die Tochter sich wohl ordentlich benehmen, hatte der Vater geklagt. Ihm sei klar, dass Sascha sie am Weiterkommen in der Schule behinderte. In diesem Moment kam zu allem Unglück der Junge durch die Hintertür
herein. Da ging es erst richtig los. Schreien, Weinen, Türenknallen! Mit Schimpf und Schande fühlten sie sich aus dem Haus gejagt. Die Mutter weinend hinterdrein. Wollte sie zurückholen. Doch die Kinder rissen sich los. Am 24.Dezember. Weihnachten, das Fest der Liebe.
Sie waren mit dem Bus zum Bahnhof gefahren und hatten sich in den Zug gesetzt. Sie kamen erst wieder zur Besinnung, als es nicht mehr weiter ging. Endstation, das war dieses Gotteshaus.
Mit sich schleppten sie eine weitere bedrückende Last, die ihre Lage ausweglos machen würde. Luise schlug ihren Blick nieder: "Wir haben Pech gehabt. Ich bin sieben Wochen über der Zeit!" Jan Martens nickte kaum merklich den Kopf. Etwas in dieser Art hatte er schon erwartet. Warum sonst diese Verzweiflung, die Flucht ins Niemandsland. Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, kam ihm in den Sinn. Die Eltern eingeschlossen.
Eines wurde Pastor Martens klar: Die beiden Unglücklichen brauchten Hilfe. Sie waren bei ihm gelandet, also musste er etwas tun. Er würde ihnen beistehen, sagte er zu ihnen, dass niemand zu Schaden kam, auch das aufkeimende Leben nicht. Es trug an allem die wenigste Schuld.
Wie bei zwei durstigen Blumen, die ins Wasser gestellt werden und sich wieder voll saugen, fand Farbe zurück in die Gesichter von Luise und Sascha.
Es war sehr spät geworden. "Luise, du schläfst im Zimmer meiner Tochter. Und du, Sascha, leg du dich hier auf das Sofa. Kopfkissen und Decke bringe ich dir gleich."
Es sah ganz danach aus, dass er morgen in einem Telefonat seine Überzeugungskünste beweisen musste. Ehe nach einer Stunde Autofahrt endlich seine Enkelkinder mit Jubel aus der Haustür rannten und ihm in die Arme sprangen. Einfach würde es nicht werden. Oder - vielleicht war es auch besser, er brachte Luise und Sascha gleich selbst zu ihren Eltern. Ein Umweg zwar, ein beschwerlicher Umweg, aber Reden und Überzeugen gelangen gewiss eher, wenn es von Angesicht zu Angesicht geschah.
Eingereicht am 10. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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