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Die Geige

© Ernst-Edmund Keil


Er stand im Dunkeln vor der Tür. Allein. Das Herz klopf-te ihm bis unter den Hals. Und es machte ihm schreckli-che Angst. Immer lauter klopfte es in der Dunkelheit, bis es dröhnte in den Ohren. Er hätte weinen oder schreien mögen. Aber er wusste, es war immer so und das glei-che: Vater war drinnen mit der Geige, und Mutter würde ihn gleich an die Hand nehmen. Und er würde mit ihr hi-neingehen, mit kleinen Schritten, in den festlich ge-schmückten Raum und würde erlöst von der Angst und mit ihnen singen unterm Lichterbaum. Es konnte nicht mehr lang dauern, eine Minute oder zwei, nicht mehr. Und Mutter war ja nicht weit. Sie hantierte irgendwo hin-ter ihm in der Küche und bereitete das Essen vor. Aber die Minuten wurden lang, eine kleine Ewigkeit. Er ver-suchte angestrengt, das Dunkel zu durchdringen, Kon-turen zu entdecken oder wenigstens einen Strahl, der aus dem Schlüsselloch fiel. Er wollte sich nicht bücken, nicht die heiße Stirn gegen den kalten, metallenen Tür-beschlag pressen, um durch die enge Öffnung zu spä-hen. Es war ihm untersagt. Und er hatte bislang der Versuchung auch immer tapfer widerstanden. Nein, das wollte er nicht. Er suchte nur ein wenig Halt im nächt-lichflutenden Raum, wo sich nichts unterschied, sich al-les vermischte und in eins verschwamm. Oder lag es daran, dass er so aufgeregt war vor Ungeduld und sein Blick nirgends halt machen konnte? Oder daran, dass die Erinnerung sich Jahr um Jahr ein gutes Stück weiter zurück tasten musste in die Vergangenheit? Und sie je-des Mal ein wenig hilfloser und unsicherer wurde und immer mehr das Gefühl für den Raum und die Zeit ver-lor?...
So viele Jahre, so viele Orte: Sie waren mehrmals um-gezogen, die Stadt und die Provinz wechselnd. Die Er-innerung hatte nirgends Fuß fassen können und trieb wie ein Kork auf der Flut. Und was von der Brandung an den Strand gespült wurde, zersprang blasig, zerging, bevor er's noch greifen konnte. Ein Vorraum war wie der andere, eine Wohnzimmertür wie die andere. Der Versuch, Halt zu finden im Dunkel, wiederholte sich, wie die Angst mit allem, was zum Fest gehörte: Vaters Gei-genspiel, das gemeinsame Singen, die Umarmungen, Glückwünsche und Tränen, das Suchen und Auspa-cken der unterm Baum sich stapelnden Geschenke, die Umarmungen und Danksagungen, endlich das gemein-same Essen und Erzählen. Immer wieder. Und das hät-te ihn doch beruhigen müssen wie alles, was jährlich mit roten Ziffern im Kalender stand und unfehlbar wieder-kehrte. Aber es beruhigte ihn nicht. Es regte ihn viel-mehr auf, als wär's das erste Mal, seltsam genug. Und das wollte heute, wo es dieses Dunkel und diese Angst doch gar nicht mehr gab, nicht in seinen Kopf...
Alle jene frühen Jahre dieselbe Angst und auch diesel-be Freude, die es nun nicht mehr gab, seit Vater tot und er selbst in die Fremde gegangen und alles anders ge-worden war. Sogar der Himmel über ihm, der sommers wie winters sonnig und blau war und nicht Schnee ver-hangen und dunkel. Nicht voller Geheimnis und Erwar-tung, wie damals, als er Jahr um Jahr klein vor der Tür stand mit klopfendem Herzen, bis sich Leere und Stille des dunklen Vorraums mit Musik füllten. Erst leise und von weither wie eine heran rollende Woge, die langsam wächst und sich dann mit letzter Anstrengung schäu-mend ans Ufer wirft, den Sand überrollend, seine Angst, das Treibgut des Jahres. Wie lang war es her!
Eine Tür ging auf. Glocken läuteten. Die vielen und schweren der Geburtsstadt am Rhein, die wenigen und leichten am Rand einer sauerländischen Kleinstadt. Die wuchtigen und erzenen Glocken von Berlin, bevor sie untergingen in Sirenengeheul und Feuerstürmen. Zag-haft und leise klang es aus der Zeit seiner Evakuierung, Dorfkirchenglocken aus Thüringen und Sachsen, und, noch kurz vor Kriegsende, aus dem ländlichen Bayern, als er wieder mit der Mutter zusammen war, die alles unter den Trümmern der Hauptstadt zurückgelassen hatte, bis auf ein Photoalbum, ein altes Bild, ein Wä-schepaket.
Und von den Wertsachen war am Ende nur die Geige gerettet worden, die Vater 1940 nach Frankreich mitge-nommen hatte und zurückbrachte mit der vom Atlantik zurückflutenden Hitlerarmee. Seine italienische Geige, die er Anfang der zwanziger Jahre für Goldmark erwarb, als er schwerverwundet aus einem englischen Kriegsla-zarett heimkehrte ins Zivilleben und heiratete. Sie hatte die Inflation überstanden, die Aufrüstung, den Krieg und die Abrüstung. Und Vater hatte sie auch dann nicht hergeben wollen, als sie hungerten und die Mutter auf den Schwarzmarkt ging und in die Seifenfabrik. Auch später nicht, als er, der Sohn, studierte und Geld fehlte für Bücher, Mensa und Miete...
Dafür klang sie alle Jahre wieder. Aber nur einmal. Wenn es dunkel wurde um ihn und die Glocken klangen im Land und die Kerzen am Baum brannten. Nur ein-mal. Denn Vater hatte, seit der Sohn auf die Welt ge-kommen war, keine Zeit mehr zum üben gehabt oder auch keine Lust, weil Mutter sich bei seinen Übungsläu-fen die Ohren zuhielt und er, der Knirps, zwischen Va-ters Beine tretend, ungeduldig an dessen Hosen zerrte. Und Vater spielte auch nicht mehr im Quartett, sondern zog die Uniform an und kam abends erst spät vom Dienst, wenn er, winzig, schon in seinem weiß lackier-ten Bettchen lag und schlief. Und nach dem Kriege war Vater zu alt, zu krank und zu müde, um noch einmal mit dem regelmäßigen Üben anzufangen. So blieb es bei einem Mal im Jahr...
Wenn er lange genug vor der Tür gestanden hat. Im Dunkel. Mit klopfendem Herzen, das am Ende die vielen Glocken übertönen, bis auf einmal Stille eintritt. Tiefe Stille. Und die Tür sich öffnet wie von unsichtbarer Hand (hat Vater sie von innen leise aufgezogen, oder ist Mutter, ohne dass er es selbst bemerkt hätte, aus der Küche kommend hinter ihn getreten und hat sie sanft aufgedrückt?). Und jetzt hört er auch die Geige, erst lei-se, dann immer kraftvoller: "Macht hoch die Tür, die Tor' macht weit". So klingt es ihm in den Ohren, während er mit kleinen, zögernden Schritten über die Schwelle der geöffneten Tür tritt. Aus dem tiefsten Dunkel in den hellsten überirdischen Glanz, der ihn wie eine branden-de Woge hochhebt und weiterträgt an das sichere Ufer. Da sieht er auch schon die tausend Lichter am Baum. Und oben an seiner Spitze den silbernen Engel mit den goldenen Flügeln. Und er weiß: Er, der all unsre Not zum Ende bringt, ist gekommen: Ein König aller König-reich', ein Heiland aller Welt zugleich. Noch in der brö-ckelnden Erinnerung des alten Mannes, der sich, ans Ende und an den Anfang denkend, in seine Schreib-klause zwischen den Weinbergen an der Ahr einge-schlossen hat. Noch heute. Nach so vielen Jahren und Jahrzehnten. Seltsam genug, nicht wahr?



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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