Das dreizehnte Fest
© Sabine Korf
Er sitzt am grob gezimmerten Holztisch in seiner Jagdhütte und starrt auf seine Hände. Es ist Weihnachten für die Anderen, für ihn ist es eine Qual. Seine Gedanken gehen zurück zu einem früheren Fest.
Man schreibt den 24. Dezember 1991. Das ganze Haus ist erfüllt von Geschäftigkeit, Aufregung und der hellen Stimme seiner Tochter Lisa. Seit sechs Uhr in der Früh ist das Kind wach. Erst kuschelt sie sich im Bett an ihn, dann an Susanne, dann wieder an ihn, schließlich zieht sie die Bettdecken fort. "Aufstehen, der Weihnachtsmann kommt heute. Ob er mir ein Fahrrad mitbringt?" Susanne erhebt sich lachend. "Okay, du kleiner Quälgeist", sagt sie zu ihrer Tochter. "Komm, steh auch auf, du
kannst schon mal den Baum schmücken", sagt sie zu ihm.
Später am Vormittag als Susanne und Lisa in die Stadt gefahren sind, um letzte Besorgungen zu tätigen, holt er die Kisten mit dem Baumschmuck vom Dachboden und beginnt mit einer Bestandsaufnahme Er liebt diese besinnliche Stunde und er liebt es, bunte Kugeln zu zählen sowie Rauschgoldengel, Krippenfiguren und Strohsterne zu inspizieren. Die Erinnerung an diese harmlose Freude wird ihn jahrelang verfolgen.
Noch später tritt er einen Schritt von der Tanne zurück und betrachtet sein Werk. Er ist zufrieden, der Baum ist ausnahmsweise mal gerade gewachsen, nicht zu groß, nicht zu klein.
Viel später starrt er die Zeiger der Wohnzimmeruhr an. Jedes Jahr das Gleiche. Immer musste Susanne noch auf den letzten Drücker einkaufen. Gleich werden Eltern und Schwiegereltern vor der Tür stehen und Kaffee, Kuchen und Aufmerksamkeit erwarten. Gerade als sein Ärger der Besorgnis weicht, klingelt es an der Haustür. Typisch Susanne, denkt er lächelnd, sie hat in der Hektik schon wieder ihren Schlüssel vergessen. Hauptsache es sind nicht die Schwiegereltern, die die unselige Neigung haben, zu früh zu erscheinen.
Er öffnet die Tür und schaut in die betretenen Mienen zweier Polizisten. Er registriert noch, was ihn später wundern wird, dass sie ihre Mützen abgenommen haben. Verlegen drehen sie sie in ihren Händen und dann weiß er nichts mehr.
In der Folgezeit versucht er, sein Leben wieder aufzunehmen, was ihm nicht gelingen will. In der Praxis kann er sich nicht auf die Nöte seiner Patienten konzentrieren und zu Haus ist es so still. Er irrt umher. Steigt Treppen hinauf und hinunter, tritt in die Zimmer, aber niemals in das Kinderzimmer, knipst Licht an und wieder aus, öffnet Schränke, schließt sie wieder, schaut aus dem Fenster, sein Blick fällt auf Lisas Schaukel, schnell schaut er weg.
Ein Jahr später verkauft er das Haus und seine Praxis und zieht sich zurück in die alte Jagdhütte. Hier hofft er den Erinnerungen entfliehen zu können.
Nun ist wieder Weihnachten, das Dreizehnte seit dem verfluchten Fest. Ihm ist kalt, er sitzt an dem grob gezimmerten Holztisch und weiß, er müsste dringend den Ofen anheizen. Die Temperatur ist in der vergangenen Nacht stark gefallen, es weht ein unfreundlicher Wind. Der Regen mischt sich bereits mit Schnee, wie er mit einem Blick aus dem Fenster des einzigen Raumes bemerkt. Aber er kann sich nicht aufraffen. Er müsste jetzt Holz aus dem Schuppen holen, stattdessen holt er sein Jagdgewehr. Er betrachtet es eingehend.
Dreizehn Jahre hat er es nicht mehr benutzt. Dabei ist er früher mit seinen Freunden gern zur Jagd gegangen. Ja, das war vor dem Tag X, seitdem hat ihn die Jagd nie mehr interessiert und er hatte auch keine Freunde mehr. Ob es noch funktioniert? Etwas angerostet, aber sonst sieht es funktionstüchtig aus. Er hält sich das Gewehr an die Schläfe und drückt ab. Ist ja nicht geladen, aber was wäre wenn? Was tat er hier eigentlich? Im dreizehnten Jahr wartete er in dieser zugigen Hütte auf eine Erlösung, die nicht
kommen will. Was wird sich geändert haben, wenn noch einmal dreizehn Jahre vergangen sind. Die Zeit heilt alle Wunden. Eine Lüge!
Ein Klopfen und bevor er etwas sagen kann betritt Henriette den Raum. Er fühlt sich seltsam ertappt. Er hätte es wissen müssen. Henriette, seine Nachbarin, wenn man bei knapp einem Kilometer Entfernung noch von Nachbarschaft reden konnte, ließ sich nicht abschütteln. Sie war alt und runzlig, verwitwet und von zupackender Tatkraft. Trotz ihres Alters bewirtschaftete sie ihren kleinen Hof nur mit Hilfe eines fast ebenso betagten Knechtes. In regelmäßigen Abständen klopfte sie an seine Tür und versorgte ihn mit
Kartoffeln, Möhren, Äpfeln und was ihr Hof sonst noch je nach Jahreszeit hergab. Anfangs hatte er versucht, sie zu vergraulen, gab sich betont unfreundlich, geradezu unwirsch. Bei allen seinen Bekannten, die ihn in der ersten Zeit seines Rückzuges besuchten, wirkte dieses Verhalten. Auf Henriette machte das keinen Eindruck. Unbeirrt kam sie immer wieder und gerade in der letzten Zeit bemerkte er, dass er auf ihre Besuche wartete. Heute aber hatte er nur an Susanne und Lisa gedacht.
Henriette wirft einen kurzen Blick auf den Mann mit dem Jagdgewehr, sagt aber nichts. Sie entfacht das Feuer im Ofen, kocht Tee und wischt den Tisch ab. Dann bereitet sie ein kariertes Leinentischtuch aus und stellt die Köstlichkeiten aus ihrem Korb auf den Tisch. Schale für Schale packt sie aus und er sieht, dass es schon dämmert. Er hat den ganzen Tag noch nichts gegessen, nicht einmal daran gedacht, aber jetzt verspürt er auf einmal Hunger. Henriette stellt einen Tannenzweig und eine Kerze auf den Tisch. Als
sie die Kerze anzündet, steigen ihm Tränen auf. Noch immer hält er das Gewehr fest umklammert. "Leg es weg", sagt sie sanft und er gehorcht. "Lass uns jetzt essen." Sie schaut ihn an, gütig und lebenserfahren. Er beginnt zu weinen, endlich, und es ist nicht schmerzhaft, wie er dachte, sondern tröstlich und - erlösend. Sie steht auf und legt ihm eine Hand auf die Schulter. "Ich wünsche dir eine frohe Weihnacht" sagt sie leise.
Eingereicht am 21. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.