Niemals geht man so ganz
© Rudolf Jagusch
"Das ist also der Kerl."
Schruppke kippte den Rest seines lauwarmen Kaffees hinunter, zerknüllte den Plastikbecher und schmiss ihn gekonnt in einem hohen Bogen in den Mülleimer, der drei Meter von ihm entfernt stand.
Sein Kollege nickte zustimmend. Sie waren in einem Nebenraum des Vernehmungszimmers und blickten durch einen einseitig durchsichtigen Spiegel.
"Ja, den haben wir heute im Kaufhaus aufgegriffen, mitten im Weihnachtstrubel. Scheint ein wenig abseits der Wirklichkeit zu stehen."
"Haben wir schon den medizinischen Dienst informiert?"
"Ja, der Doc kommt ein wenig später. Willst du noch einen Versuch wagen."
Schruppke studierte den Mann, der vor ihm im angrenzenden Zimmer saß. Er wirkte ruhig und ausgeglichen, die feingliedrigen Hände hatte er gefaltet vor sich auf den Tisch gelegt. Seine schulterlangen Haare spiegelten in einem seidigen Glanz die Deckenbeleuchtung wider. Bekleidet war der Mann mit einem schlichten weißen Hemd und einer Bluejeans.
"Ist er gewalttätig?"
"Nein, nicht direkt."
Schruppke strich sich mit Daumen und Zeigefinger nachdenklich über die geschürzten Lippen. Dann kam er zu dem Entschluss, dass ein kleines Gespräch mit dem Mann ja nicht schaden könnte.
"Gut, ich versuch mal mein Glück."
Schruppke verließ den Raum, nickte kurz seinem Kollegen zu, der vor der Tür saß und Wache hielt, und ging dann in das Vernehmungszimmer. Kurz nach dem Eintreten blieb er abrupt stehen. Der Mann vor ihm blickte ihn ohne Scheu aus den leuchtendsten hellblauen Augen an, die Schruppke je bei einem Menschen gesehen hatte. Nach einer kleinen Ewigkeit hatte Schruppke sich wieder gefangen und setzte sich dem Mann gegenüber. Das Vernehmungszimmer war ansonsten ohne störendes Mobiliar eingerichtet. Auf Schruppkes rechter
Seite zog sich der Spiegel die Wand entlang, durch den er eben noch geblickt hatte. Von dieser Seite sah er wie ein ganz normaler Spiegel aus. Schruppke bemerkte, dass ihm der Raum heute wärmer als sonst vorkam. Er ließ sich ein wenig Zeit, gab dem Mann Gelegenheit, zuerst das Wort zu ergreifen. Dieser ließ sich aber nicht verleiten und schwieg beständig. Nach einiger Zeit seufzte Schruppke und begann schließlich das Gespräch.
"Sie wissen, warum Sie hier sind?"
Der Mann schüttelte den Kopf, wobei seine Haare in der Neonbeleuchtung des Raumes schillernd aufflammten.
"Na ja, wenn ich ehrlich bin, nicht so ganz. Ich habe ja lange keine Erfahrungen mehr sammeln können. Aber ich habe gehofft, nein, sogar damit gerechnet, dass sich in meiner Abwesenheit einiges geändert hat. Es scheint aber nicht so zu sein."
Schruppke versuchte, plaudernd an mehr Informationen zu kommen. "Sie waren also verreist?"
"So kann man es auch nennen, aber üblicherweise wird es einfach Himmelfahrt genannt."
"Sie meinen sicherlich ein Himmelfahrtskommando?", fragte Schruppke.
Der Mann zuckte mit den Schultern. "Klar, ein Kommando war es auch irgendwie, um Begrifflichkeiten möchte ich mich nicht streiten."
Schruppke merkte, dass er so nicht weiter kam. "Also gut. Sie haben auf der Straße einen gebrechlichen Penner überfallen und ihm die Krücken abgenommen. Einem Blinden haben Sie die Binde vom Arm gerissen und den Blindenstock zerbrochen. Habe ich die Taten richtig wieder gegeben? Mann, schämen Sie sich eigentlich nicht?" Schruppke funkelte sein Gegenüber an.
Dieser ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und antwortete: "Ja. Nein".
"Wie was, ja, nein?", fragte Schruppke verwirrt.
"Ja, Sie haben alles richtig geschildert und nein, ich schäme mich nicht."
Schruppke spürte Ärger aufsteigen. Ein intellektueller Besserwisser also. Er konnte solche Leute einfach nicht leiden, die sich als etwas Besseres empfanden, nur weil ihr Wortschatz ein wenig größer als bei den meisten anderen war.
"Mittlerweile konnten wir zwar festhalten, dass die beiden Opfer keine Anzeige erstatten werden, aber trotzdem wird sich der Staatsanwalt um diese Sache kümmern."
Bevor Schruppke fortfahren konnte, fragte der Mann: "Warum zeigen die beiden mich nicht an?"
Schruppke zögerte, kam aber schließlich zum Ergebnis, dass die Antwort nicht weiter verfänglich war. "Angeblich kann der Penner wieder ohne Probleme laufen, obwohl er vorher jahrelang an einer Gehbehinderung litt und der Blinde hat uns erzählt, dass er endlich sehen kann. Dies das erste Mal überhaupt seit seiner Geburt. Wir prüfen das zurzeit"
Der Mann lehnte sich erleichtert auf seinen Stuhl zurück. "Sehen Sie, daher schäme ich mich auch nicht."
Schruppke war verblüfft. Er hatte eher erwartet, einem psychisch labilen Menschen gegenüber zu sitzen, jemandem, der keine klaren Gedanken und richtige Schlussfolgerungen fassen konnte. Alles was der Mann bisher bei den anderen Vernehmungen von sich gegeben hatte, konnte nur den Schluss zulassen, dass der Mann unter Schizophrenie litt. Jetzt aber, wo er das erste Mal mit ihm persönlich sprach, schlichen sich erste Zweifel ein.
"Hm, na ja. Aber wie sieht es aus mit dem Toten? Sie können sich doch noch daran erinnern, auf dem Friedhof, gestern, gegen Mittag?"
Der Mann nickte.
"Sie sind in die Trauerhalle eingedrungen und haben wüst auf die Trauergemeinde eingeredet. Dann haben Sie den aufgebahrten Leichnam herunter gestoßen und schließlich..."
Der Mann unterbrach ihn mit aufblitzenden Augen. "Was wollen Sie mir eigentlich anhängen. Holen Sie den Mann doch einfach her. Er lebt, er atmet, isst, liebt, lebt und wird für mich mit einhundertprozentiger Sicherheit fürsprechen!"
"Mag ja alles sein. Aber trotzdem haben sie..."
Plötzlich sprang der Mann auf und hieb mit geballter Faust auf den Tisch: "Was ist hier los? Der Mann wäre jetzt unter der Erde. Ich habe ihm das Leben gerettet und Sie reden von irgendwelchen Straftaten, die ich begannen haben soll. Zählt denn heutzutage immer noch nicht das Ergebnis? Haben die Menschen nicht dazu gelernt? Ich vermute mal, dass auch hier kein Familienangehöriger Anzeige erstattet hat, liege ich richtig?"
Die Tür des Vernehmungszimmers sprang auf und der wachhabende Polizist schaute herein. Schruppke drehte sich um und bedeutete ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung, dass er alles im Griff hat. Schweigend nickte der Polizist und zog sich wieder zurück. Schruppke griff in seine Jackentasche und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Zwar rauchte er nicht, doch er bot denjenigen, die er vernehmen muss, gerne eine Zigarette an. Oft hatte er damit Erfolg, kam so an seine Informationen, die er haben wollte. Doch
der Mann lehnte das Angebot ab, schien sich aber ein wenig beruhigt zu haben und setzte sich wieder.
"Entschuldigen Sie bitte. Das letzte Mal, dass ich so aufgebracht war, war im Tempel von... Ach, vergessen Sie es einfach. Was kommt als nächstes, was werfen Sie mir noch vor. Das ich am Bahnhof die Hungernden betreut habe?"
Schruppke nickte. "Ja, darüber wollte ich auch mit Ihnen sprechen. Um Sie zu beruhigen, Sie können natürlich Essen verteilen wie Sie möchten. Es interessiert uns einfach nur. Sie hatten doch nur eine Brötchentüte dabei. Wie haben Sie das gemacht? Die Überwachungskamera hat Sie aufgenommen. Wir haben neununddreißig Bedürftige gezählt, die Sie verpflegt haben und Sie haben sich nicht einmal von der Stelle bewegt, immer nur in die eine Tüte gegriffen"
Der Mann blickte zur Decke und öffnete mit geöffneten Handflächen die Arme. "Das weiß nur er. Alter Trick, hat schon bei einigen Tausend mehr funktioniert."
"Ich sollte Sie dem örtlichen Sozialamt überstellen", sagte Schruppke mit einem sarkastischen Unterton, "Aber noch etwas Ernsteres. Wir haben Beschwerden der ortsbekannten Alkoholiker vorliegen, dass Sie ihnen ihr Gesöffs weggenommen und dafür Wasser ausgeteilt haben. Stimmen diese Vorwürfe?"
Der Mann seufzte."Nicht so ganz. Damit meine ich, nicht physisch entwendet. Es geht auch ohne direkten Kontakt. Ich konnte einfach nicht mehr mit ansehen, wie sie ihr Leben versaufen. Viele von ihnen haben eine Familie. Ich weiß, dass ich damit nur einen Tropfen auf den heißen Stein..."
Schruppke unterbrach: "Ja, Ja, steter Tropfen und so weiter, ist bekannt. Aber auch hier die Frage: Wie haben Sie es gemacht?"
"Nun, ich habe auf einer Hochzeit das Gleiche schon einmal bewerkstelligt, nur umgedreht. Dann können Sie sich ja vorstellen, dass Wein zu Wasser sicherlich einfacher ist."
Schruppke stöhnte auf. Er bekam zwar Antworten, aber es war, wie sein Kollege schon vor ihm festgestellt hatte. Nichts Konkretes, nichts, was der Aufklärung der ganzen Sache diente. Er wollte schon aufstehen, um den Raum ergebnislos zu verlassen, da fiel ihm plötzlich noch eine Frage ein. Es hing mit einem ungeklärten Fall aus dem letzten Sommer zusammen. Er überlegte einen Moment, wie er sie geschickt vorbringen konnte und entschied sich dann für eine offene Frage. Er war gespannt, wie sein Gegenüber darauf
reagieren würde.
"Beim letzten Volkslauf hier in der Stadt haben wir Dutzende Anrufe bekommen. Sie haben nicht zufällig daran teilgenommen?"
Der Mann warf seinen Kopf nach hinten und lachte laut auf. "Gratuliere, gut kombiniert. Ja, es stimmt, ich habe an dem Lauf teilgenommen und ja, um Ihrer Frage zuvorzukommen, ich habe die Strecke leicht abgeändert. Als wir an die Brücke kamen, war der Zugang durch die Menschenmenge versperrt. Ich habe dann den parallelen Weg gewählt."
Schruppke wartete auf eine weitergehende Erklärung, die aber ausblieb. So fragte er schließlich: "Etwa zehntausend Menschen können bezeugen, dass Sie einfach über den Fluss gerannt sind. Sie sind nicht geschwommen, nicht geflogen, hatten keine sichtbaren Hilfsmittel, einfach über die Wasseroberfläche." Schruppke wurde immer erregter. "Der Lauf musste fast abgebrochen werden. Unsere Telefone glühten. Wie? Wie? Wie, frage ich Sie?
Der Mann winkte ab.
"Kleinigkeit. Ich gebe zu, da habe ich meine Fähigkeiten aus niederen Beweggründen eingesetzt, dafür schäme ich mich. Da fällt mir ein, dass ich nach unserem Plausch gerne mit einem Geistlichen darüber sprechen möchte. Sie haben doch einen Geistlichen hier, oder?"
"Ja, kann ich Ihnen...", Schruppke sprang auf. Der Mann war ja ungeheuerlich. Auf alle Fragen fielen ihm ausweichende Antworten ein, wickelte ihn um den Finger und strahlte dabei noch eine Überzeugung aus, dass Schruppke vergaß, nachzuhaken. Er wusste gar nicht mehr, was er glauben sollte und was nicht. Wütend schmiss Schruppke den Stuhl um, verließ den Raum und schmiss die Tür hinter sich zu. Auf dem Flur traf er den Arzt, der ihn am Ärmel festhielt.
"Wie geht es...", er schaute auf seine Kladde, wo der Name mit einem dicken schwarzen Filzschreiber notiert war, und sprach dann weiter, "Herrn von Nazareth. Ich denke, das ist nicht sein richtiger Name, oder? Vorname Jesus". Der Arzt lachte. "Habe schon viele von denen behandelt, hab alles schon dabei gehabt, Nero, Kleopatra, Napoleon."
Schruppke hatte sich wieder ein wenig gefangen, rieb sich mit der rechten Hand das Kinn und fragte: "Würden Sie auch erkennen, wenn keine Krankheit vorliegt?"
Augenblicklich hörte der Arzt auf zu lachen. Der Polizist an der Türe zum Vernehmungszimmer schaute nun ebenfalls zu ihnen herüber. Schruppke konnte deutlich das Summen des Getränkeautomates hören, der hinter der nächsten Biegung stand.
"Ich verstehe nicht, was genau wollen Sie damit sagen."
"Nun, was wäre, wenn wir alle daneben liegen. Wenn tatsächlich die Buddhisten Recht haben mit der Reinkarnation? Hätten wir überhaupt die Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen oder würden wir es einfach als eine Krankheit bezeichnen?"
Der Arzt öffnete tonlos den Mund. Er schluckte einige Male kräftig, wobei sein Adamsapfel gut sichtbar auf und nieder sprang. Nach einem ausgeprägten Räusper antwortete er: "Schruppke, kommen Sie nach den Feiertagen mal bei mir vorbei. Sie scheinen überarbeitet zu sein". Er hatte seine Fassung wieder gewonnen und ergänzte: "Was Sie da erwägen, ist doch religiöser Unsinn!"
Schruppke lächelte und tippte dem Doktor energisch auf die Brust: "Das habe ich bisher auch immer gedacht, aber da bin ich mir gar nicht mehr so sicher."
Eingereicht am 14. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.