Weiß der Teufel, warum
© Uta Opel
Verflucht, ich kann mich nicht mehr an den Tag erinnern, ich weiß nicht mal mehr die Jahreszeit, aber diese Geschichte, das weiß ich, sie hat mein Leben umgekrempelt.
Kalt muss es gewesen sein, eine Portion Winter wehte durch den Kippspalt meines Fensters und weckte mich endgültig auf. Mein Kopf dröhnte vom gestrigen Absinth oder sonstigen undefinierbaren Drinks, die mir der Barmixer mit spöttischem Lächeln ohne Auftrag zugeschoben hatte. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht mehr erinnern, mit wem ich den Abend verbracht hatte. Beunruhigend, wenn das eigene Hirn so nutzlos hinter der Stirn hockt und Geheimnisse eigensinnig für sich behält.
Ehrlich gesagt, ich war auf dem besten Wege zu verwahrlosen. Meine Eltern ahnten von alledem nichts. Sie zahlten reichlich für mein Hamburger Apartment mit Oberlichtern und allerlei Schnickschnack.
Zufrieden lehnten sie sich 1000 km südlich bei München zurück in dem Bewusstsein, wirklich alles für ihren begabten Sohn zu tun. Ich konnte jeden Tag auswärts essen gehen, wenn ich wollte. Nur war das in letzter Zeit eher auswärts saufen geworden. Meine Eltern glaubten, dass ich bald ein berühmter Kunstmaler oder so was Ähnliches sein würde. Eltern sind unglaublich naiv, was den eigenen Nachwuchs betrifft.
Es war ihr unerschütterlicher Glaube, der mir oft die Tränen in die Augen trieb. Zur Uni ging ich schon lange nicht mehr. Dort wimmelte es nur so von selbstverliebten Egozentrikern. Manchmal schickte ich meinen Eltern Schwarzweißfotos, in denen ich farbig herumgepfuscht hatte. Die zeigten sie dann stolz herum. Zum Kotzen. Einmal entwarf ich ein Ausstellungsplakat von meiner Ausstellung, die nie stattfinden würde.
Die Kälte jedenfalls ließ mich an diesem Morgen nicht wieder einschlafen und so stieg ich in Hose und Pullover, trat meinen übervollen Mülleimer um, fluchte, sammelte Bananenschalen und zerknülltes Papier wieder ein und beschloss, die vier Stockwerke runterzutoben, damit mir das Ding endlich aus den Augen kam. Im Hauseingang stolperte ich über eine braune Decke, schlug der Länge nach hin, der Müll verstreut, schon wieder! Dazu eiskalter Regen! Ich war jetzt hellwach, in meinem Kopf spielten sie Trommelwirbel
und ich hatte eine Heidenangst: Die Decke, die war nicht bloß ein weicher Haufen, es war ein fester Körper darin eingewickelt. Vielleicht ein großer Hund? Ich sammelte meinen Müll wieder ein und schielte ab und zu in Richtung Deckenhaufen, verflucht, ich konnte nicht klar denken. Mein erster Impuls war, einfach wieder hochzugehen und ein paar Tabletten einzuwerfen. Wie beinahe jeden Tag.
Aber irgendwas zog mich zu dem Klumpen, weiß der Teufel, was mich ritt, als ich die Decke anhob. Dabei hatte ich mehr Schiss als sonst was. Es war ein Mädchen oder zumindest etwas Ähnliches. Es krallte sich an der Decke fest. Ich musste ziemlich brutal zerren und rucken, bis ich überhaupt was sehen konnte. Es sah sehr bleich und mager aus und hatte blitzblaue Lippen. Geruch nach Schimmel stülpte mir fast den Magen um.
Ich glaube, wenn es gekonnt hätte, wäre es weggerannt. Aber es war einfach zu steif dazu. So lag es wie ein erlegtes Wild vor mir. Lange sahen wir uns an. Erschrocken und ratlos. Ich zeigte auf die Haustür, sie schüttelte den Kopf. Ich hob die Schultern, stieg über sie hinweg und verschwand im Haus. Aber weiß der Teufel, ich hatte das Gefühl, mir bohrte jemand einen Speer in den Rücken. Also ging ich wieder raus zu ihr und brummelte was von reinkommen und was Warmes trinken. Sie hustete sich die Lunge aus dem
Leib und schüttelte den Kopf.
Flüsterte was von Heilsarmee und Suppe. Ich hatte zwar keinen Schimmer, wo die Heilsarmee stecken mochte, aber es war mir sehr recht, sie nicht in meiner Wohnung zu haben. Sie hätte bestimmt Flecken auf mein weißes Ledersofa gemacht. Also hakte ich sie unter und schleifte sie samt Decke die Straße entlang. Sie wog kaum was. Niemand sprach uns an.
Wahrscheinlich stempelten uns alle als total bekifftes Pärchen ab. Ich erinnerte mich, dass die Mission ein Haus in der Talstraße hatte.
Kürzlich stand erst was in der Zeitung darüber. Also mitten auf dem Kiez zwischen Reeperbahn und Großer Freiheit. Gar nicht mehr weit. Wir wateten durch matschige Pommes und Pizzarinden. Dauernd traf ich auf Müll und Dreck. Dabei hasste ich nichts mehr. Endlich, 'Jesus lebt' stand in Leuchtschrift über einem weißen Hauseingang. Hinter einer Glastür hantierten dralle Frauen in eng sitzenden Uniformen, rot mit goldenen Knöpfen.
Sie murmelten ‚Oh, Gott,' nahmen mir das Bündel ab und legten sie auf eine Bank. Fleißige Hände zauberten trockene Wolldecken und eine Schüssel mit warmer Nudelsuppe herbei. Ich blieb im Türrahmen stehen und beobachtete, wie die Frauen sich abmühten, dem Mädchen Suppe zwischen die steif gefrorenen Lippen zu flößen. Das Meiste lief an den Mundwinkeln herunter. Ich musste hier dringend raus, Iief ziellos durch die Straßen.
Wie hässlich Sankt Pauli doch war! Überall Müll, zerfetzte halbabgerissene Plakate, festgetretene Fressalien, Zigarettenschachteln, gebrauchte Kondome. Ich wurde immer depressiver. Bekackte Welt. Ja, nachts überstrahlten die Neonreklamen den Dreck, nachts war der Kiez eine Königin. Am Tag eine Bettlerin. Jesus lebt, schwer zu glauben. Ich lief nach Hause, betäubte mich mit 'ner Flasche Rotwein aus dem Bestand meiner Eltern und ein bisschen Flimmerkiste. Ich kriegte ihre traurigen Augen nicht aus dem Kopf.
Schätze, so zwei Tage später war ich mürbe und guckte mal bei der Mission vorbei. Sie war nicht da, aber eine der Dicken lächelte und führte mich in ein Hinterzimmer. Dort lag sie auf einer schmalen Pritsche, das Gesicht rosarot und die Augen glänzende Kerzenlichter. Sie sah aus wie ein Puttengelchen auf einer Liebesmarke. Diese Dinger, die man früher haufenweise in die Poesiealben geklebt bekam. Nur waren ihre Wangen nicht apfelrund sondern hohl wie kleine Näpfe.
Die Dralle redete was von Lungenentzündung und dass sie partout nicht ins Krankenhaus gewollt hätte. Und das ich ihr das Leben gerettet hätte.
Was ich nicht glaube.
Da ich sowieso nichts zu tun hatte, besuchte ich die Mission regelmäßig.
Obwohl ich mit der ganzen Jesus-lebt-Kacke nichts am Hut hatte, waren alle so nett zu mir. Meistens setzte ich mich in eine Ecke und beobachtete die Geschäftigkeit um mich herum. Am Interessantesten waren die Suppesuchenden. Meistens ältere Männer mit silbrigen Stoppelbärten, denen der feuchte Geruch nach Klo und Straße anhaftete. Eine Frau war dabei, sie breitete immer zuerst ihre zehn Plastiktüten auf der Bank aus, strich die strähnigen Haare hinter die Ohren und lächelte ihr zahnloses Lächeln. Am niedlichsten
war ihr auf- und nieder wippen in Erwartung der warmen Mahlzeit. Wie ein kleines Kind. So wohltuend unbewusst. Ich begann, meine Beobachtungen in ein Notizbuch zu kritzeln.
Weiß der Teufel, warum. Sie hieß Elli und ab und zu redeten wir sogar ein paar Worte. Ich wünschte mir tatsächlich, dass sie mich bald besuchen käme.
Ein paar Tage später stand sie vor meiner Tür. Mittags, ich war noch im Schlafanzug. Sie trug ausgeblichene Jeans, einen zerfetzten Wollpullover und einen Stoffbeutel über der Schulter. Ich kochte ihr Kaffee, den sie sogleich wieder erbrach. Sie blieb, denn außer der Heilsarmee hatte sie kein Zuhause. So kam es, dass ich wieder ein Mädchen im Bett hatte.
Aber es war anders als sonst. Wir schliefen nicht miteinander, dazu war Elli zu schwach. Es war ganz anders, wenn ich es mit früheren Beziehungen verglich. Andrea hatte mich immer mit ihrer Beinschere umklammert, dass mir die Luft wegblieb. Petra hatte an meinem Schwanz herumgerubbelt, bis es wehtat. Ellis Berührungen waren so zart, als sei ich aus Glas. Ich fasste ihren dünnen Körper gar nicht an, weil sie es nicht wollte. Ich war ganz froh darüber, ihre Knochigkeit nicht so genau zu erforschen.
Einmal redeten wir über die Zukunft, über Wünsche und all son Zeug. Sie hätte gerne ein Haus am Meer, ein kleines Schaf zum Streicheln und Klamotten, aber am meisten wünschte sie sich einen Diamant. Das kapierte ich überhaupt nicht. Von all den anderen Sachen hatte man was, aber ein Stein konnte einen wohl kaum auf Dauer glücklich machen.
Sie antwortete versonnen, dass selbst ein ganz kleiner Diamant im Licht in allen Farben funkelt. Und jedes Mal, wenn sie ihn anguckte, würde sie funkelnde Farben sehen. Sie könnte sehen, wie schön es im Jenseits ist, denn das Geheimnis sei, dass es überall strahlendes farbiges Licht gäbe. Nur könnten wir es nicht immer sehen. Ich glaubte kein bisschen davon, eher an Müllberge überall. Ich wollte ihr gern ein paar neue Anziehsachen kaufen. Es machte Spaß, mit ihr loszugehen. Sie freute sich über alles, drehte
sich kokett vor den Spiegeln und sah einfach toll aus in einem feuerroten Parka, einer braunen Cordhose und honiggelben Boots.
Wir schliefen abends Hand in Hand ein. Am Tag schleppte ich sie in Museen und sie begann mit meinen Farben zu malen, sie liebte intensive Farben. Sie hätte Kunst studieren sollen, nicht ich.
Eines Morgens war sie weg. Verdammt, weiß der Teufel, warum. Ich lief zur Mission, aber da war sie auch nicht. Eine Schwester konnte mir schließlich Auskunft geben: Sie war im Krankenhaus, aber keiner wusste etwas Genaues. Als ich das Krankenhaus fand, wollte man mich nicht zu ihr lassen. Ich sei ihr Bruder, log ich. Sie lag auf der Intensivstation, die Lungenentzündung war wieder aufgeflammt. Wenn ich ehrlich war, hatte ich ihr rasselndes Atmen einfach nicht hören wollen, es aus meiner Wahrnehmung verbannt ...
Sie konnte nicht sprechen, aber sie lächelte ein bisschen, als sie mich sah. Ich versprach ihr einen richtig fetten Diamanten, der so strahlen würde, dass einem die Augen wehtaten. Ich blieb noch lange bei ihr sitzen, ihre schweren Atemzüge kamen von tief unten aus dem Meer. Sie klangen wie das An- und Abschwellen der Brandung. Der Monitor blinkte gleichmäßig und etwas wie flüssiger Bernstein tropfte in ihre Vene. Ein Weilchen nickte ich daneben ein. Eine seltsame Familie waren wir.
Am nächsten Morgen klapperte ich die Juweliere ab, prüfte Diamanten und begutachtete sie unter hellen Lämpchen, bis ich einen steifen Nacken hatte. Ich gab schließlich 1000 Euro für einen goldgefassten Diamanten an einem Ring aus. Den Ring fand ich wichtig, denn an ihrer Hand hatte sie den Stein sooft sie wollte vor Augen.
Sie war weg, wieder einmal. Ich irrte durch die Gänge, riss Türen auf und polterte in Schwesternzimmer. Einer im weißen Kittel bat mich endlich in ein kleines Büro, faselte irgendwas mit monotoner Stimme. Das Meiste prallte an mir ab, aber irgendwann bekam ich mit, dass sie gestern Nacht gestorben war, kaum nachdem ich gegangen war.
Zum ersten Mal in meinem Leben organisierte ich ein Begräbnis. Ich wollte, dass sie mit all ihren neuen Klamotten in den Sarg kam. Sie anzusehen traute ich mir nicht. Nur ein Grüppchen der Heilsarmee und ich waren bei der Beerdigung. Den Ring schmiss ich auf ihren Sarg. Plong.
Plötzlich hatte ich ein ganz ruhiges, fast heiteres Gefühl. Ich glaube tatsächlich, es geht ihr gut jetzt. Weiß der Teufel, warum.
Ich habe inzwischen endlich meinen Eltern geschrieben, dass ich nicht mehr studiere. Sie haben eigentlich ganz gefasst reagiert und nur gefragt, was ich nun zu tun gedenke: Mein Liebstes wäre, glaub' ich, Suppe und Brot auszuteilen in der Bahnhofsmission, wie Jesus das früher mal eine Weile gemacht hat.
Jetzt fällt mir wieder ein, dass die Geschichte in der Weihnachtszeit passiert ist. Denn da stand ein Tannenbaum in der Mission und die Lichter sahen immer ganz verschmiert aus durch den Regen auf den Fenstern oder auch durch meine Tränen, weiß der Teufel, warum.
Eingereicht am 29. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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