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Kasimir und Emilio oder: Der Streit der Handpuppen

© Petra Kramp


Ich weiß nicht, wer mit der Angeberei tatsächlich angefangen hat, und zunächst wollte ich an den prahlerischen Selbstbeweihräucherungen auch gar keinen Anteil nehmen, aber irgendwann änderte ich meine Meinung.
Denn Streitigkeiten zwischen den Handpuppen meines Sohnes hat es immer mal gegeben, und das nicht nur zur Weihnachtszeit.
Sie standen auf mehreren Handpuppenständern auf einem kleinen Tischchen direkt neben dem Kasperletheater, und in einer großen Rollbox lagerten noch etliche weitere plüschige und zum Teil tierische Kollegen, sprich Handpuppen, und zwar jene, die nicht so schnell zerdrückt werden konnten. So war es auch nicht verwunderlich, dass sich die Handpuppen auf dem Ständer, z. B. der aufwändig verarbeitete Zauberer, oder die elegante Prinzessin mit ihrem goldenen Krönchen, der liebevoll gefertigte Postbote oder der wie ein Professor für Privatpatienten dreinschauende Doktor, für etwas Besseres hielten. Sie wurden niemals etwas lieblos und dafür aber besonders schwungvoll in die besagte Box geworfen, sondern nach dem Spiel jedes Mal wieder sorgfältig auf den Holzstangen aufgehängt.
Die ständige Kabbelei und die stetigen Eifersüchteleien verwunderten mich also nicht im Mindesten, doch diesmal hörte ich bei ihrem Streitgespräch - war es ein Zufall? - genauer hin. Vielleicht lag es an der Weihnachtszeit, denn Streit hat meiner Meinung nach in dieser Zeit aber nun gar nichts verloren, und ich stellte mich schon darauf ein, diesmal schlichten zu müssen.
Der Kasper wiederholte gerade beharrlich, er sei aus einem Theaterstück ja nun gar nicht wegzudenken, schließlich trügen die meisten Stücke sogar seinen Namen im Titel, und er sei schließlich die Handpuppe, die nahezu immer ihren Auftritt hätte, wohingegen der Zauberer zum Beispiel viel häufiger auch Ruhepausen hätte …
Es entbrannte somit gerade ein kleines verbales Scharmützel zwischen den beiden, und ich war hin und her gerissen zwischen Eingreifen und einfach Weghören, denn ich wollte noch in Ruhe die frisch gebügelten Kleidungsstücke meines Sohnes in die Schränke räumen, als ich plötzlich aufmerkte.
Soeben meldete sich nämlich eine Stimme aus der Rollbox zu Wort: "Ich bin eure ständigen Streitigkeiten einfach leid, ihr glaubt gar nicht, wie sehr sie mir zum Hals heraushängen! Meint ihr allen Ernstes, es kommt auf die Häufigkeit an, d. h. wie oft man euch also in die Hand nimmt, um eure Wichtigkeit zu unterstreichen? Ist nicht viel mehr eure eigene Geschichte wichtig, eure persönliche Botschaft, wenn ihr es so nennen wollt?"
Wer da sprach, das musste Kasimir sein, Kasimir, das Kamel. Es war eine besonders ausgefallene Handpuppe, und mein Bruder hatte sie meinem Sohnemann im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt. Tobias hatte sich sehr über das Kamel gefreut, aber ich muss gestehen, mir fiel es schwer, ein Kamel in meine Geschichten einzubauen.
Und Kasimir fuhr fort: "Jeder von uns hat doch seine eigene Geschichte, seine Geschichte, die er schon mitgebracht hat, oder etwa nicht? Jeder von uns ist doch etwas Besonderes, etwas Besonderes für sich selbst und den - nennen wir es mal - den Handpuppenträger schlechthin, in erster Linie somit für das Kind, das so gerne mit uns spielt und mit unsere Hilfe seiner eigenen Phantasie dabei Flügel verleihen kann.
Ihr wisst alle, ich heiße Kasimir. Diesen Namen gab mir jedenfalls Tobias' Mama, die, wie ihr ebenfalls wisst, ein Faible für Alliterationen hat. Und sie traf mit diesem Namen sogar ins Schwarze. Aber was sie und was ihr nicht weiß bzw. wisst, ist, dass ich ein echter Nachfahre von Kishan bin, einem der drei Kamele, die die Heiligen drei Könige mit Schätzen beladen nach Bethlehem begleitet hatten. Sie kamen aus einem fernen Land und brachen auf, um den neuen König aufzusuchen und um ihn zu ehren und anzubeten. Es war ein sehr langer und beschwerlicher Ritt damals, so ist es überliefert, und der König Herodes in Jerusalem, der war dem Kishan schon damals ein Dorn im Auge gewesen. Instinktiv schien er zu ahnen, dass dieser allzu Schreckliches im Schilde führte. Und die Historie gab ihm Recht. Doch die Heiligen drei Könige, der Kaspar, der Melchior und auch der Balthasar, die waren ja damals so naiv … aber ich schweife ab …
Na ja, und Kishan jedenfalls brach unter der Last der Geschenke für das Jesuskind beinahe zusammen, was für ein Kamel schon etwas Außerordentliches ist, denn wir Kamele sind ja zum Lastentragen wie geschaffen." Kasimir machte eine kleine Pause, wie um sich zu versichern, dass nun alle auch mal ihm zuhörten, aber darüber brauchte er sich nun wirklich keine Sorgen zu machen: Alle Handpuppen, ob flauschig oder weniger flauschig, hörten mit ihrem ständigen Getuschel auf und hingen nahezu an Kasimirs Lippen.
"Aber als Kishan dann endlich - immer dem Stern folgend - nach einem endlos langen Ritt durch die Wüsten an der Krippe mit dem Jesuskind stand, da waren alle Strapazen vergessen, wie weggeblasen waren sie, und es blieb nur noch Raum für Liebe, Wärme, Geborgenheit und unendliches Vertrauen ob des kleinen Menschenkindes, des Königssohnes, des Kindes, das jeden - ganz gleich ob Mensch oder Tier - nur freundlich anlächelte."
Kasimir wollte noch weiter ausholen, als sich plötzlich noch eine andere Stimme aus der Rollbox vernehmen ließ: "Verzeih, Kasimir, dass ich dich hier unterbreche, aber zum Thema Liebe und Menschlichkeit kann ich auch etwas beitragen:
Ich denke, die wenigsten von euch wissen, dass ich ein Nachfahre von Enrico bin, jenem Esel, der damals die Jungfrau Maria mit Josef von Nazareth nach Bethlehem begleitete, bzw. trug. Und Enrico war es auch, der die Anwesenheit des Engels Gabriel dank seines Instinkts schon eher spürte, bevor Maria ihn bemerken konnte. Maria kam mit Enrico gerade vom Wasserholen, als dieser auf einmal sehr, sehr unruhig wurde. Maria versuchte noch, ihn zu beruhigen, aber zunächst vergeblich. Und von Eselgeneration zu Eselgeneration wird überliefert, dass nach dieser Erscheinung des Engels, Enrico so leicht nichts mehr aus der Ruhe bringen konnte.
Ja, und Enrico war es auch, der bei der eigentlichen Geburt des Jesuskindes im Stall von Bethlehem zugegen war. Auch er erzählte, genau wie du, Kasimir, es von Kishan gehört hattest, dass diesem einfachen Stall ein eigener besonderer Zauber innewohnte. Und dieser Zauber, dieses Wunder der Weihnacht, ging tatsächlich von diesem Kindlein aus. Es selbst muss eine Wärme und ein Licht ungeahnten Ausmaßes ausgestrahlt haben, und der Wunsch, dieses kleine neugeborene Menschenkind zu berühren, war bei Mensch und Tier gleichermaßen fast übermächtig."
Die übrigen Handpuppen hatten auch bei Enricos Ausführungen gleichsam staunend und andächtig zugehört, als sich die dritte Stimme meldete.
"Entschuldigung, dass ich da jetzt so hereinplatze, aber auch ich habe euch etwas zu erzählen, etwas, was ich noch keinem anderen anvertraut habe…"
Ich horchte auf meine innere Stimme. Wer war denn das jetzt? Welchem der vielen Handpuppen hatte ich denn diese Stimme verliehen?
Da öffnete sich langsam der Deckel der Rollbox und Rico, das Rentier, lugte hervor. Zunächst noch ganz schüchtern, dann aber immer mutiger werdend. "Hallo, hier bin ich", sagte er wieder leiser werdend. "Auch ich möchte euch etwas erzählen - eine wahre Geschichte! Wie ihr wisst, heiße ich Rico, doch jetzt lüfte ich wirklich ein Geheimnis: Ich bin ein veritables Rentier vom veritablen Weihnachtsmann! Wer an den Weihnachtsmann oder an das Christkind glaubt, der tut recht daran, denn viele glauben leider nicht mehr an die beiden, bzw. haben den Glauben daran u. U. schon vor vielen Jahren verloren. Aber bitte glaubt mir: Es gibt sie, den Weihnachtsmann mit seinem achtspännigen Rentierschlitten als auch das Christkind. Die beiden haben sich die Erdkugel nur in Zuständigkeitsbereiche aufgeteilt.
Und nur derjenige, der seine Träume noch nicht verloren hat, kann sie sehen…"
Rico hatte plötzlich einen ganz feierlichen Glanz in seinen Augen und geriet nun erst richtig ins Erzählen:
"Wisst ihr übrigens, wie die Geschichte ausgegangen ist, als der Weihnachtsmann einmal ganz plötzlich vor Weihnachten erkrankte?" Alle Handpuppen schüttelten betreten ihre Köpfe. Natürlich kannten sie sie nicht, diese Geschichte. Aber sie waren ganz gespannt darauf, diese zu erfahren. Ganz authentisch - sozusagen! Das sah man ihren aufmerksamen Gesichtern an.
Ich hatte beiläufig beim Zuhören wieder alle Kindersachen in die Schränke einsortiert und schaute auf die Uhr. Gleich würde schon Tobias vom Kindergarten abgeholt werden müssen, und ich, ich hatte die Zeit einfach vertrödelt und das Mittagessen war noch nicht vorbereitet. Dabei hatte der Knirps doch immer so einen Bärenhunger, wenn er dann nach Hause kam.
Kein Wunder, er war nicht umsonst in der "Bären-Gruppe"….
Aber hatte ich die Zeit wirklich vertrödelt? Nein, natürlich nicht. Ich hatte wieder eine ganze Menge dazu gelernt von Tobias Handpuppen, jenen zauberhaften Wesen, die auch mir so sehr ans Herz gewachsen waren.
Und ich beschloss, in Zukunft noch genauer hinzusehen um mir ihre Gesichtchen anzusehen, um sie zu studieren und um ihnen selbst zuzuhören, und um sie dann wiederum Geschichten erzählen und vergangene Zeiten wieder aufleben zu lassen. Geschichten, die mit "Es war einmal" beginnen, aber auch so genannte "wahre Geschichten" , die sich allerdings nur dem erschließen können, der sich seiner Phantasie und seiner kindlichen Wahrhaftigkeit bedient oder zumindest seinen Glauben daran bewahrt hat.
Tobias Handpuppen jedenfalls habe ich seit diesem abgelauschten Gespräch niemals mehr weitere Streitgespräche ob der eigenen Wichtigkeit führen hören.
Sie (und auch ich) hatten eines begriffen: sie waren alle gleichermaßen wichtig und etwas Besonderes - und das nicht nur zur Weihnachtszeit, wenn das Kasperlespiel Hochkonjunktur hat.



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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