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Kekse

© Thomas Steiner


Franz streifte schon seit Stunden durch den Stadtpark. Nicht weil es ihm hier besonders gefiel, sondern weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Zu Hause hielt er es nicht aus und unter Leuten wollte er nicht sein. Jetzt im Winter war es ruhig im Park, er konnte über abgelegene Wege gehen, ohne jemanden zu treffen. Es nieselte, Novemberwetter kurz nach Weihnachten. Nicht einmal die Hundehalter waren unterwegs.
Vor drei Tagen hatte sich alles verändert, gleich nach den Weihnachtsfeiertagen. Franz hatte noch nichts davon verdaut. Er hatte seine Arbeit verloren, nun gut. Viel schlimmer war, dass er mit einem Schlag eine Unsumme Schulden hatte, Dreißigtausend ungefähr. Wie viel genau, stand noch nicht fest. Er würde die Forderung schriftlich bekommen, ist ihm gesagt worden, wenn alle Einzelheiten geklärt wären. Dreißigtausend, das würde ihm das Genick brechen.
Begonnen hatte die Geschichte vor fast zwei Monaten, am 1. November, als er seine neue Stelle antrat. Eine Stelle als Mäusepfleger. Diese Arbeit war neu für ihn. Er hatte schon viele Berufe gehabt, aber Mäuse hatte er noch nie gepflegt. Auch sonst keine Tiere. "Das macht nichts", wurde ihm gesagt, "das ist ganz einfach, das lernen sie sehr schnell." Morgens musste er die Käfige sauber machen und Futter und Wasser nachfüllen. Dabei waren auch die Mäuse zu zählen. An jedem Käfig hing ein Kärtchen mit der Anzahl der Mäuse und Franz musste nachsehen, ob noch alle lebten. Wie es ihnen ging, konnte ihm egal sein, darum kümmerten sich andere, wichtig war nur, ob sie noch lebten.
War eine tot, nahm Franz sie heraus, notierte ihre Nummer und gab sie bei einem Kollegen ab. Das ging so bis zum Mittagessen. Nach der Pause wurden dann die Mäuse gewogen. Franz nahm sie am Schwanz aus dem Käfig, wog sie und schrieb das Gewicht mit der Nummer der Maus in eine Tabelle. Weil es viele Mäuse waren, brauchte er dafür den halben Nachmittag. Danach zog er noch einmal eine Runde durch die Käfigreihen und inspizierte jeden einzelnen, er prüfte, ob für die kommende Nacht alles in Ordnung war, und zählte noch einmal die Mäuse. Das war es dann, mehr war nicht mehr zu tun. Eine leichte Arbeit also, er hätte zufrieden sein können. Nur vielleicht eine etwas einsame Arbeit, es gab nur einen Pfleger pro Mäusetrakt, er sah oft stundenlang keinen Menschen. Und abgeschottet war seine Arbeit, abgeschottet von draußen: keine Fenster, nicht einmal Luken, keine frische Luft, kein Lärm, kein Straßenstaub.
Manchmal taten ihm die Mäuse Leid, aber das musste er beiseite schieben.
Gleich am ersten Tag hatte er zu hören bekommen: "Hier tun Ihnen die Mäuse vielleicht Leid, aber wenn Sie welche in ihrer Küche haben, was machen Sie dann? Was machen Sie mit Mäusen in Ihrer Küche oder Ihrem Keller? Nun, sehen Sie ..., na also." Das hatte ihn zwar nicht überzeugt, aber was sollte er tun? Letztlich fand er sich schnell in alles ein. Es war leicht verdientes Geld, zwar nicht viel, aber leicht, und das war ihm recht.
Was mit den Mäusen geschah, erfuhr er nicht genau. Das war eine Sache für die Fachleute. Er bekam sie nur selten zu sehen, die Fachleute, sie kamen einmal vormittags und einmal am Nachmittag, brachten Scharen von neuen Mäusen, die sie in frisch geputzte Käfige setzten, leerten andere Käfige und nahmen die Mäuse mit, schauten kurz in manche der Käfige hinein, blätterten in Tabellen und Protokollen und verschwanden wieder. An den ersten Tagen stellte er ihnen noch Fragen, aber die Antworten kamen so unwillig und kurz angebunden, dass er es bald bleiben ließ. Er verstand: Pfleger und Fachleute lebten in verschiedenen Welten und das sollte so auch respektiert werden.
Immerhin hatte er herausbekommen, dass hier Ernährungsversuche durchgeführt wurden. Man ernährte die Mäuse auf ganz bestimmte Art und Weise, mit bestimmten Futtermischungen und Futterzusätzen, und in bestimmten Futterintervallen. Manche der Mäuse bekamen Mangelnahrung, der es an gewissen Stoffen fehlte, Calcium, Phosphor, Vitamine, Proteine, weiß der Teufel, und andere wiederum bekamen irgendetwas im Überfluss. Man wollte sehen, welche Folgen solch ein Mangel oder Überfluss hat. Mehr konnte Franz nicht erfahren, aber das genügte. Es ging um Tierfutter, effizienteres und billigeres Tierfutter, aber auch um Nahrungsmittel für Menschen, um Vitaminpräparate und solche Dinge.
So ging es siebeneinhalb Wochen. Siebeneinhalb Wochen ist keine lange Zeit, aber Franz hatte bereits alles gesehen, was es hier zu sehen gab. Er kam sich schon vor, wie altgedient. Nach diesen siebeneinhalb Wochen war Weihnachten, und am 24. Dezember war er zum Dienst eingeteilt. An jedem Tag musste ein Pfleger Dienst tun, und am 24. hatte es eben ihn getroffen.
Wahrscheinlich, weil er der Jüngste war. Er nahm sich vor, sich einfach einen ruhigen Tag zu machen. Die Kantine war geschlossen, also hatte er sich Proviant mitgebracht, Wurstbrote und eine Rolle Kekse.
Als er die Käfige geputzt und die Mäuse gezählt hatte, machte er eine Pause. Er öffnete die Keksrolle und sofort schoss ihm durch den Kopf, dass er der Einzige hier war, der etwas so Gutes zu essen hatte. Kekse! So etwas Gutes! Diese Mäuse würden in ihrem Leben keinen einzigen Keks bekommen, und dabei lieben doch Mäuse Kekse über alles. Franz saß mit einem Keks in der Hand da, und sein schlechtes Gewissen ließ ihn nicht weiter essen. So saß er eine oder zwei Minuten und dann entschloss er sich: er würde die Kekse den Mäusen schenken. Das war ein schönes Weihnachtsgeschenk! Und was für ein schönes Geschenk das war, auch für ihn selbst, endlich ein Geschenk, mit dem er wirklich jemandem Freude machte. Endlich ein wirklich schönes Geschenk!
Und so ging er durch die Käfigreihen und warf in jeden Käfig einige Stücke Keks, er bröselte sie bedacht und mit Genuss durch die Stäbe. Die Mäuse stürzten sich mit Begeisterung darauf. Sie strahlten ihn an, ihre Augen leuchteten durch die Stäbe und Franz war glücklich. Er war nicht oft glücklich, aber jetzt war er es.
Das Ende kam drei Tage später, am 27., dem ersten Arbeitstag nach Weihnachten. Schon am Vormittag, während der Käfigputzens, wurde er in das Büro des Chefs gerufen. Dort saßen noch zwei andere Herren, einer der Fachleute im weißen Kittel und noch ein anderer. Der Chef herrschte ihn an, auf einen Bildschirm zu sehen: "Schauen Sie sich das an, was soll das hier sein?"
Der Bildschirm zeigte einen Videofilm, wie Franz gerade Kekse in die Mäusekäfige bröselte. Der Chef wartete kurz. "Die Mäuse werden mit Kameras überwacht, wissen Sie! Also, erklären Sie jetzt bitteschön, was Sie da gemacht haben. Hier, am 24. Was war das? Also? Was haben Sie in die Käfige gegeben?"
"Kekse. Kekse für die Mäuse, zu Weihnachten", antwortete Franz und schluckte, "ich wollte ihnen eine Freude machen."
Die Herren waren sprachlos. Der Fachmann erholte sich als erster und meinte, durch diesen Schwachsinn seien alle Versuche wertlos geworden. Man schickte Franz vor die Tür, damit die Herren die Sache besprechen konnten.
Nach zehn Minuten wurde er wieder hineingerufen und ihm wurde eröffnet, dass er als unverantwortlicher Krimineller, als richtiger Verbrecher, natürlich sofort entlassen sei. "Sie sind ein richtiger Verbrecher, das müssen Sie sich schon sagen lassen!" Er solle schleunigst seine Sachen packen und verschwinden. Die Rechnung würde ihm zugeschickt werden. Der Chef wollte ihn sofort aus dem Zimmer werfen, aber der Fachmann wollte noch etwas erklären.
Er war einer von denen, die sich gerne reden hören. Er plusterte sich auf und hielt Franz einen Vortrag: das Keksfüttern habe alle Versuchsreihen zerstört, erklärte er, es sei ungemein wichtig, dass die Mäuse nur die vorgesehene Nahrung erhielten und sonst nichts.
"Sonst nichts, verstehen Sie, sonst nichts, das müssen Sie doch verstehen! Wir müssen jetzt alle Versuche abbrechen und von vorne beginnen. Die Mäuse, die Sie mit ihren Keksen gefüttert haben, sind für uns wertlos geworden.
Alle Ergebnisse werden durch die Keksnahrung verfälscht, auch wenn sie nur einmal verabreicht worden ist. Einmalige Verabreichung genügt, um alle Ergebnisse zu verfälschen. Was sollen wir jetzt mit den verfälschten Mäusen machen? Überlegen Sie doch! Was sollen wir mit diesen Mäusen machen? Wollen Sie die Mäuse vielleicht haben? Wollen Sie uns diese verfälschten Mäuse abkaufen? Nein? Sehen Sie - wir brauchen Sie nicht, sie brauchen Sie nicht, und auch sonst braucht Sie niemand. Sie müssen alle getötet werden, die Käfige müssen frei gemacht werden, damit wir die Versuche von vorn beginnen können. Aber das werden nicht Sie machen, Sie werden hier überhaupt nichts mehr machen. Und bedenken Sie, was das alles kostet. Dabei sind die Mäuse noch das Billigste, die Mäuse sind nicht so teuer. Aber die Zeit. Die Zeit!
Wissen Sie, was die Zeit kostet? Die Zeit! Viele Versuche sind termingebunden, verstehen Sie, termingebunden, alles verzögert sich, Termine verzögern sich, Ergebnisse verzögern sich, Anmeldungen bei der Behörde verzögern sich, die Konkurrenz überholt uns, wegen IHNEN kann uns die Konkurrenz überholen! Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Sie angerichtet haben, nicht die geringste Ahnung haben Sie! Wissen Sie, was uns das alles kosten kann? Nicht die Mäuse, die Mäuse kosten nicht viel, aber das ganze Drumherum, die Zeit, die Arbeitszeit, die Fristen, die Fristverletzungen, das kostet mindestens Dreißigtausend, mindestens, wahrscheinlich Hunderttausend, vielleicht Dreihunderttausend, vielleicht noch mehr. Ich bin ja nicht so, ich bin dafür, dass man ihnen nur Dreißigtausend berechnet, das ist die Untergrenze. Eigentlich sollte man ihnen Hunderttausend berechnen, das wäre gerechter. Aber nun gut, man soll es bei der Untergrenze belassen. Dreißigtausend. Das werden Sie aber schon aufbringen müssen ..."
Die beiden anderen Herren wurden allmählich ungeduldig und schließlich unterbrachen sie den Fachmann. Man müsse in der Arbeit weitermachen, warfen sie ein, bitte, man möchte dieses unangenehme Gespräch beenden, und sie beendeten es. Franz wurde hinausgebracht. Das war es also. Jetzt stand Franz hier, im Stadtpark, und schaute auf die Büsche im Regen. Dreißigtausend. Das war viel, sehr viel, er war erledigt.
Die Mäuse waren jetzt schon tot, sie waren schon seit zwei Tagen tot.
Wenigstens hatten sie in ihrem Leben schöne Augenblicke gehabt. Für ein paar Augenblicke hatten sie es schön gehabt, und er selbst hatte es auch schön gehabt. Immerhin war es Weihnachten gewesen. Franz stand zwischen den Büschen und dachte wieder an die glücklichen Mäuseaugen, und es war ihm tatsächlich ein Trost.



Eingereicht am 31. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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