Die letzte Gans. Erinnerungen an eine Power-Frau
© Klaus Herrgen
"Sie fliegt ja noch!", riefen wir wie aus einem Mund, aber da war sie schon unsanft auf dem Boden des Esszimmers gelandet, denn zum flüchtenden Flug fehlten unserer Gans nicht nur die großen Schwungfedern, nein, sie war bereits völlig ihres Lebens beraubt. Statt glänzend weiß war sie nun braun und kross; aber auch als gefallene Gans erschien sie uns sehr verlockend. Meiner Schwiegermutter war allerdings der Appetit vergangen. Sie ließ enttäuscht und erschöpft die Flügel hängen. Wie oft hatte sie die
köstlichsten Braten von der Küche über den Flur ins Esszimmer getragen und sicher vor ihren erwartungsvollen Gästen platziert! Das stattliche Gewicht der Festspeisen ließ sie ihren Schritt beschleunigen, doch diesmal hatte es mit der raschen, sicheren Landung nicht geklappt. Sie war mit der Platte am Rahmen der Esszimmertür angeeckt, was ihrem Vogel den unbeabsichtigten Auftrieb verschaffte, sodass er sich zu einem kurzen, letzten Flug erhob, vom spontanen Lachen derer begleitet, die dieses Missgeschick nicht
bierernst nahmen.
Unser Appetit war bereits geweckt, und der Vogel hatte offensichtlich nicht gelitten, aber die fleißige Köchin war bedient. Sie hatte es buchstäblich satt und sank ermattet und frustriert auf ihren Platz und ließ sich von unserem nicht zu unterdrückenden Lachen kein bisschen anstecken.
Sogleich bargen wir die begehrte Gans und setzten das Festtagsprogramm wie geplant fort. Unsere Stimmung war gelöst und heiter. Das gemeinsame Lachen, das unser Kauen immer wieder unterbrach, war dem geselligen Beisammensein nur förderlich. Meine Schwiegermutter muss sich währenddessen wohl bewusst geworden sein, dass die Zeit, in der sie uns Festessen auftischen konnte, nun zu Ende war. Einer Power-Frau, die souverän über Küche und Esszimmer geherrscht hatte, waren die Kräfte geschwunden.
Das Alter forderte seinen Tribut. Zunächst überließ sie das Servieren Jüngeren und beschränkte sich auf die Zubereitung. Es dauerte nicht lange und sie, die Meisterin am Herd, legte den Kochlöffel aus der Hand, um wie ein Gast am eigenen Tisch Platz zu nehmen. Zum Glück hat sie ihr Talent und ihre Kenntnisse auf ihre Kinder vererbt.
Wenn wir uns heute um den Tisch versammeln, den sie so viele Jahre hervorragend für uns gedeckt hat, dann sitzt sie in unseren Gedanken bei uns, und wir erinnern uns in Dankbarkeit an sie, die so viel Power für uns entfaltete, bis ihr die letzte Gans davonflog.
Eingereicht am 08. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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