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Der allerschönste Weihnachtsbaum

© Petra Kramp


Alle Jahre wieder war es so weit: Am Morgen des Heiligen Abend bekamen mein jüngster Bruder und ich den Auftrag, unseren künstlichen Baum vom Söller zu holen. Wenn ich heute nur daran denke, überkommt mich jetzt noch ein ganz eigenartiges, zwiespältiges Gefühl, doch in meiner Kindheit war eben dieser Moment noch um ein Vielfaches schlimmer für mich gewesen. Gemessen daran habe ich wohl heute fast schon Frieden mit ihm, dem künstlichen Tannenbaum, geschlossen.
Und jedes Jahr spielten sich auch fast die gleichen Dialoge ab. Ob wir ihn diesmal nicht mal oben lassen könnten, um einen "richtigen", d. h. einen echten Baum zu besorgen? Wir wären auch bereit, die ganze Zeit die Nadeln aufzulesen und Mama hätte bestimmt keine Mehrarbeit dadurch …
Aber Mutter blieb hart, und so holten wir schließlich dieses grüne Ungetüm herunter, bogen die künstlichen Zweige einzeln auseinander, denn der Baum steckte in einem röhrenförmigen, langen Karton. Dann hingen wir eine bunte Lichterkette hinein, behängten ihn mit bunten Kugeln und silbernem Lametta. Und last not least bekam dieses bunte Gebilde noch eine künstliche Baumspitze. Zum ganz guten Schluss fügte Papa der Kronenspitze noch etwas Engelshaar hinzu …
Überall kann man nachlesen, dass Kinder bunte Farben lieben und in diesem Sinne hätte ich vollauf zufrieden sein müssen, wenn nicht gar glücklich: Dieser Baum war bunt, und zwar wie!
Ich versäumte in der Weihnachtszeit keine Gelegenheit, bei meinen Freundinnen ins Wohnzimmer schauen zu können, ich wollte doch zu gerne - und wenn's nur für einen klitzekleinen Moment wäre - einen Blick auf deren Weihnachtsbäume erhaschen. Neidisch war ich, jawohl, richtig neidisch, auf die Freundinnen mit den echten Bäumen und die meistens geschmackvollen Baumgehänge.
Zum Zeitpunkt der Bescherung aber, wenn sich die gesamte Familie im Halbkreis um unseren Baum versammelte, um "Ihr Kinderlein kommet" zu singen, in diesem Augenblick, vergaß ich allerdings die Hässlichkeit und Widernatürlichkeit unseres Tannenbaums, weil das Weihnachtsgefühl sich im Zimmer ausbreitete, weil der Geist der Weihnacht durchs Zimmer schwebte und alles mit einem nicht zu erklärenden Glanz überzog, und auch vor ihm, dem Baum, dabei nicht Halt machte. Dann freute ich mich einfach nur noch. Ich freute mich darüber, dass die ganze Familie mit Oma und Opa zusammen war und natürlich auch über die zu erwartenden Geschenke.
Diese mildere Betrachtungsweise für unseren Weihnachtsbaum - wenigstens für die Bescherung am Heiligen Abend - fand aber ein jähes Ende am 1. Weihnachtstag. Dann hätte ich ihm - und an den übrigen Tagen natürlich auch - die "Künstliche-Tannenbaum-Beulenpest" an die Krone wünschen können, wenn es denn so etwas gäbe.
So hätten alle Weihnachten, zumindest was die Weihnachtsbaumsituation anbelangt, bis in alle Ewigkeiten vonstatten gehen können, wenn ... Ja, wenn wir es nicht doch eines Tages geschafft hätten, meinen Vater davon zu überzeugen, dass auch er diesmal einen echten Baum dringlichst bevorzugen würde.
Und nach Mutters verzweifeltem Nachgeben erhielten wir alle drei die Möglichkeit, uns e n d l i c h (!!) einen e c h t e n (!!) Weihnachtsbaum aussuchen zu können.
Aber: Es war mittlerweile Nachmittag - der Nachmittag des Heiligen Abends, und es erwies sich - aus verständlichen Gründen - als mehr als schwierig, um diese Zeit noch einen Baum käuflich erwerben zu können. Es schien, als seien sämtliche Weihnachtsbaumverkäufer nördlich und südlich der Ruhr - das roch nach einem handfesten Komplott - wie vom Erdboden verschluckt! Natürlich machten sich alle Weihnachtsbaumverkäufer zu gegebener Zeit endlich auch auf den Heimweg, um endlich, endlich ihre eigenen Bäume schmücken zu können, sollten sie nicht am Ende sogar die Nase voll haben von Weihnachtsbäumen …
Papa, Martin und ich hatten in der Zwischenzeit schon den sechsten Weihnachtsbaumstand verschlossen vorgefunden - und ich kannte alle Weihnachtsbaumverkaufsstände in der Stadt und näheren Umgebung: Schon oft hatte ich von weitem neidvoll im Hintergrund bei den Verhandlungen zugesehen, die einer solchen wichtigen Transaktion vorausgingen, denn ich hatte ja immer noch gehofft, eines Tages würden auch wir einen e c h t e n Baum kaufen. Und für diesen Fall wollte ich gut vorbereitet sein, die Örtlichkeiten kennen, die persönlichen Befindlichkeiten der Weihnachtsbaumverkäufer, die Qualität der verschiedenen Nadelbaumarten u. ä…
Zumindest die genaue Ortskenntnis der Weihnachtsbaumverkaufsstände erwies sich nun als sehr, sehr hilfreich, denn den siebten Stand schließlich fanden wir noch nicht verlassen vor: Der Verkäufer war lediglich im Begriff, sein Areal, das hermetisch mit hohen Zäunen abgeriegelt war, abzuschließen.
"Nein, nein, bitte noch nicht!", schrie ich verzweifelt und warf mich ihm fast vor die Füße. Er schien verärgert, um nicht zu sagen mordsmäßig wütend zu sein. Sein Blick schien zu sagen: "Wieder so eine total verrückte Familie, die erst dann aus dem Quark kommt, wenn Weihnachten fast schon vorbei ist. Diese Gestalten kenne ich doch zur Genüge. Und dann wollen sie womöglich noch alles umsonst haben…"
Wir beknieten ihn und versprachen ihm, in nur einem Bruchteil einer Sekunde unseren Baum ausgesucht zu haben und er solle uns doch bitte noch reinlassen.
Er tat es widerwillig, und Martin und ich zeigten fast zeitgleich auf ein kleines, verhutzeltes Bäumchen, das verloren in der Ecke lehnte. "Den wollen wir, genau den!" Der Verkäufer schüttelte nur ob so viel Schwachsinns den Kopf, aber natürlich innerlich sicherlich froh darüber, jetzt doch endlich gehen zu können. Papa drückte dem Mann ein paar Münzen in die Hand, und Martin und ich trugen unser Bäumchen mit stolz geschwellter Brust nach Hause.
Bei näherer Betrachtungsweise war dieser Baum wirklich eine Katastrophe: Er war mehr als schief gewachsen, hatte nahezu zwei Spitzen und zudem noch ungleichmäßig gewachsene Äste. Aber das sahen wir alles gar nicht!
Wir sahen nur, dass er e c h t war, sich echt anfühlte, echte Nadeln hatte und - hallo!! - echten T a n n e n d u f t verströmte. Es roch so herrlich jetzt, wenn wir ins Wohnzimmer kamen, und mit Feuereifer und Hingabe schmückten wir diesen Baum. Und auf einmal machten mir die bunten Lämpchen mit den bunten Kugeln auch nicht mehr so viel aus. Und das Lametta, das trug unser Bäumchen anscheinend mit einer solchen Grazie, dass man meinen könnte, es wäre schon mit diesem Glitterkram auf die Welt gekommen!
Es wurde ein wunder- wunderschönes Weihnachtsfest und das schönste Geschenk, das stand auf einem kleinen Hocker, war tannengrün, windschief und roch "wunder-herrlich".
Unsere Hoffnung jedoch, im darauf folgenden Jahr ebenfalls wieder einen echten Baum zu bekommen, erfüllte sich leider nicht.
Aber seitdem ich erwachsen bin und von dem Zeitpunkt an, wo ich eine, kleine Wohnung hatte, stand und steht dort immer eine wunderschöne Tanne. In meiner allerersten Wohnung, meinem "Wohnklo mit Kochnische", stand z. B. sogar eine zwei Meter hohe Blautanne.
Mein Mann allerdings begleitet mich heute leider nicht mehr bei meinen Weihnachtsbaum-Exkursionen, weil ich alle Weihnachtsbaumverkäufer nördlich und südlich der Ruhr mit meiner Pingeligkeit und meinem Anspruch auf einen "Traumbaum voller Schokoladenseiten" zur Verzweiflung getrieben habe und wohl auch noch in Zukunft treiben werde und weil ich nicht gewillt war, von diesem Anspruch auch bei größtem Schneesturm auch nur einen Deut abzuweichen… Dieses Theater hätte er einmal mitgemacht, sagt mein Mann, einmal und nicht wieder!
So befasse ich mich alljährlich alleine mit der Suche nach dem schönsten Baum, stelle diesen dann sicher, d. h. ich lasse ihn reservieren, bezahle ihn, damit ihn mein Mann später nur noch abzuholen braucht. Schade ist nur, dass mir oft die dritte Hand fehlt, die für mich den Baum dreht, um etwaige Unregelmäßigkeiten besser erkennen zu lassen, denn die Verkäufer kennen mich und meine "Weihnachtsbaum-Neurose" leider inzwischen…
Doch rückblickend betrachtet, hat es den schönsten, ja, den allerschönsten Weihnachtsbaum meines Lebens an jenem Weihnachtsfest gegeben, an dem Mutter sich hatte erweichen lassen…
Und haben Bäume eine Seele, wovon ich schon irgendwie überzeugt bin, dann erstrahlte unser Bäumchen damals ganz in gold - trotz seines silbernen Lamettas - seiner goldenen Seele wegen. Und dieses Bäumchen hatte die Chance seines Lebens erhalten und zugleich seine letzte große Rolle gespielt, die Rolle des Weihnachtsbaumes, in unserem Wohnzimmer. Und er hat Freude und Zuversicht gebracht, und das ist - aus Sicht eines Baumes - vielleicht mehr, als man erwarten kann.



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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