Der Weihnachtsmann und ich
© Felix Timtschenko
Der Weihnachtsmann und ich standen schon seit jeher auf Kriegsfuß. Er mochte mich nicht, ich mochte ihn nicht. Ich erinnerte mich an den Weihnachtsmann als einen dicken Mann im roten Bademantel, bei dem man auf dem Schoß sitzen musste und dann wurde ein Foto gemacht. Das war die sowjetische Variante des Weihnachtsmannes pünktlich zum Neujahr.
Ich zweifelte schon damals, dass dieser Mann es jemals schaffen würde, einen Sack zu schleppen, auf Elchen zu reiten oder sonst was Produktives zu tun. Er war nicht produktiv. Er erschien immer nur einmal im Jahr zur ungünstigsten Zeit, in der jeder sowieso Ferien hatte. Niemand glaubte an ihn den Rest des Jahres. Außer meinen Eltern schien er auch sonst niemanden zu begeistern. Die Eltern jedoch freuten sich immer wie Kinder, wegen mir wahrscheinlich.
Ich konnte dem nichts abgewinnen. Die Geschenke brachte der Weihnachtsmann am Heiligabend immer sehr unpassend, immer wenn ich gerade auf die Toilette musste oder Mittagsschlaf gemacht habe. "Schau doch mal, während du geschlafen hast, kam der Weihnachtsmann vorbei und hat dir Geschenke hier gelassen". Na toll!!! Ich warte 364 Tage im Jahr auf diesen Moment und er kommt, während ich gerade dem Ruf der Natur folge oder schlafe. Also Intuition hatte er nicht. Er schenkte immer Sachen aus dem Laden nebenan.
Ich war einfach enttäuscht. Er reist um die ganze Welt, fliegt über Afrika, macht eine kurze Pause auf Hawaii, überquert den Ozean, sieht runter auf den Mount Everest und dann kommt er zu mir und schenkt mir eines der Autos aus dem Laden direkt um die Ecke und dann leider immer die preiswertere Variante. Ich war nicht gut auf ihn zu sprechen. Nachdem die Geschenke verteilt waren, aßen wir meist und hörten auf Anraten meiner Mutter irgendeine "Passion" oder etwas Ähnliches auf Schallplatte.
So vergingen die Jahre und meine Beziehung zum Weihnachtsmann wurde immer schrecklicher. Unsere Gemeinsamkeiten beschränkten sich scheinbar darauf, dass er auch Geschenke mochte, ansonsten war er ziemlich peinlich. Weißer Bart, der rote Bademantel, die komischen Zwischenrufe: HO! HO! HO! Dazu kam noch, dass sich in der Sowjetunion sowieso keiner für Weihnachten interessierte, denn es gab ja keinen Gott. Ohne Gott kein Sohn von Gott, ohne den Sohn also auch keine Geburt und ohne Geburt kein Weihnachtsfest. Erst
später begriff ich, dass der Weihnachtsmann mit Gott genauso viel oder wenig zu tun hatte, wie der Osterhase mit der Kreuzigung. Egal. Ich bekam meine Geschenke trotzdem, denn meine Mutter pflegte die deutsche Tradition.
Nach einigen Jahren des Haderns mit dem Weihnachtsmann kam ich nach Deutschland und wurde im ersten Jahr gleich mit diesem Marketinginstrument konfrontiert.
"Weihnachten!!!" Die Deutschen nannten es seltsamerweise X-Mass. Ab Ende August sah man das Fest kommen. Überall dieser Lebkuchengeruch. Draußen waren es noch 25 Grad und in den Supermärkten stapelten sich bereits die Weihnachtsmänner aus Schokolade und verdrängten langsam die Osterhasenrestbestände, die noch in den Regalen vor sich hin vegetierten. Ob die die Schokolade wieder einschmelzen würden? Sie schmelzen die Hasen zu Weihnachtsmännern und Weihnachtsmänner zu Osterhasen. Bei dem Gedanken musste
ich schmunzeln. Das war schon ironisch. Die Freude über die Geburt Jesu währte in den Köpfen nicht lange, schon wurden daraus Hasen und erinnerten uns zaghaft an das nicht so erfreuliche Ende der Geschichte, mit Kreuzigung und allem was dazu gehört.
Im September gab es kein Entrinnen. Wenn man es im Sommer noch geschafft hatte, den Gedanken an Weihnachten zu verdrängen, war man im September und Oktober bereits machtlos den Horden der Weihnachtsmänner, Tannenbäumchen, und Duftkerzen ausgeliefert. Ich war überwältigt! Deutschland musste das Land sein mit den meistverkauften Schokoladenweihnachtsmännern. Die Deutschen haben bestimmt auch kein Geruchssinn, denn dieser reagierte ab dieser Zeit nur noch auf Lebkuchen, Stollen und Marzipan. Alles andere war völlig
abgetötet.
Überall liefen Horden von Weihnachtsmännern in roten Bademänteln rum und verbreiteten gute Laune, oder das, was sie darunter verstanden. HO! HO! HO! Selber HO! Idiot!!!
Der Stress hatte mich voll im Griff. Ich kaufte mir ein T-Shirt mit der Aufschrift: "Tötet den Weihnachtsmann". Ich trug es leidenschaftlich gerne den ganzen September über, es war warm und Kinder, die mich anschauten, wandten sich von mir ab und manche weinten sogar … HO! HO! HO! Ich hatte schon im September keine Lust auf Weihnachten … die überfüllten Supermärkte gaben mir den Rest. Jeder schien nur mit einer Sache beschäftigt zu sein. Die Menschen reichten Urlaub zwei Wochen vor Weihnachten ein,
damit sie auch wirklich alle Geschenke kriegten. Jedes Jahr das gleiche Bild. Mich fröstelte es im Juli beim Gedanken an September, im Oktober überfiel mich Schüttelfrost, da fing man an, Weihnachtslieder über alle Kanäle im Radio und Fernsehen auszustrahlen, im November schienen die Supermärkte nur noch Weihnachtquatsch zu verkaufen, die ersten Herzinfarkte in überfüllten Läden gehörten ab jetzt zum täglich Pensum eines schwer arbeitenden deutschen Zivis bei den Johannitern, Maltesern und Co. Das Radio erinnerte
mich täglich daran, wie viel Tage es noch sind und machte mir ein schlechtes Gewissen wegen der Geschenke. Eine riesige Maschinerie aus Werbung, schlechtem Gewissen, Suggestion aus dem Radio und Anrufen meiner Mutter, brachten mich dazu, am 22. Dezember einen Supermarkt aufzusuchen. Wie ich später feststellen sollte, war dies nicht die Sternstunde der Geistesblitze, die mich zu dieser Entscheidung bewog. Ich bereute es bald, besser gesagt eigentlich bereute ich es gleich, als ich in meinen Wagen stieg.
Ich stellte sofort fest, dass es mir nicht gelingen würde, heute einen Supermarkt zu besuchen. Ein Rover. Mein Rover. Die Werbung sagte mir vor einigen Wochen: ROVER. British Luxory Cars. Dann stand noch was von: das ist das, was Sie brauchen, das schönste, schnellste und bla bla bla Auto der Welt mit toller Ausstattung. Klimaanlage! Wer um Himmels willen braucht jetzt eine Klimaanlage??? Er sprang nicht an. Das ist sehr ärgerlich, zumal am 22. Dezember. "British Luxory Cars". Ich musste lachen. Nein,
es war mehr ein gequältes Verziehen meiner Mundwinkel … British - Ja! Luxory - vielleicht, Car - NEIN!!!
Es regnete, wie sollte es auch sonst anders sein am 22. Dezember … in Deutschland. Ich wartete auf den ADAC. Der Mann traf nach drei Stunden ein - was soll man sagen - Weihnachten halt und erklärte mir, die Rover sind halt empfindlich was Feuchtigkeit anbelangt. Empfindlich??? Ich bin auch empfindlich. Deswegen gehe ich aber trotzdem zur Arbeit, auch wenn es regnet.
Ich überbrückte die Zeit mit einigen Schokoriegeln und fuhr dann mit der S-Bahn zum Supermarkt.
Nach einer vierstündigen Odyssee mit drei Ellenbogen im Gesicht, einem in den Rippen, einem dreifachen Versuch mit sechs Tüten in den Händen, in eine S-Bahn zu steigen war es so weit. Ich hatte es geschafft. Für dieses Jahr war Weihnachten also gelaufen. Natürlich fehlte mir noch ein Geschenk für meine Frau, meine Schwiegermutter und meinen Bruder, meine Schwester, meine drei Tanten und meine Schwägerin aber ich hatte schon viel geschafft. Leider hatte ich kein Geld mehr, es ging ja alles für die Reparatur an
meiner verfluchten britischen Luxuslimousine drauf. War ein Schnäppchen. Zu Weihnachten fiel mir, wie jedes Jahr nur eines ein: "Scheiße". Bestimmt findet man einen schöneren Ausdruck, aber mein Gemütszustand sagte nur dieses eine Wort.
Es war ein kalter Novembertag, als mein Bild von Weihnachten ein neues Gesicht bekam. Ich schaute Nachrichten und war in Gedanken vertieft in die Krise eines kleineren unbedeutenden Staates, als meine Gedanken unterbrochen wurden. "Weihnachten ist das aller Allerschönste was es gibt auf der ganzen Welt", mein Sohn stand mit halboffenem Mund vor mir und kaute auf irgendetwas herum, was schon eine sehr eigenartige Konsistenz zu haben schien. "Das Schönste auf der Welt, warum das denn?", fragte
ich und schaute weiter Nachrichten.
"Weil alle kommen", sagte er, drehte sich um und ging kauend in sein Zimmer. "Der Farbe nach muss es wohl eine Brezel sein", dachte ich. Später dachte ich noch mal nach. Weil alle kommen. Kann das wirklich einen Vierjährigen interessieren? "Alle kommen"… Es stimmte - das was mir und meiner Frau schon lange Kopfzerbrechen bereitete, das war es. "Alle" - das waren alle unseren Verwandten, die sich diesmal angekündigt hatten, zu uns zu kommen. Irgendjemand fand es wohl eine
tolle Idee. Ich weiß nur eins - ich war es nicht. Meine Frau machte sich schon seit Wochen Sorgen, ob wir genügend Essen hätten, von guter Qualität und ob es auch abwechslungsreich genug sei, dabei schien sie die Tatsache nicht zu stören, dass es wohl nur zwei Tage sind, die unsere Verwandten sich hier aufhalten würden.
Ich sah meine Eltern nur noch zu Festlichkeiten, meine Schwester sah ich so gut wie gar nicht, man muss ja unbedingt im Ausland studieren. Meine Schwiegereltern besuchten uns im Sommer und wir fanden keine Zeit, sie zu besuchen. Man war irgendwie immer auf Arbeit oder auf dem Weg dorthin oder auf dem Weg zurück von der Arbeit.
Aber einmal im Jahr traf man sich. Auch wenn es noch so gezwungen schien, sich im Juli Urlaub für Weihnachten einzureichen, auch wenn der Stress schon fast unmenschlich war, neben der Arbeit sich noch Gedanken über Geschenke zu machen, die sowieso nicht passten, die falsche Farbe oder und Aussehen hatten. Jeder konnte darauf zählen. Mein kleiner Sohn, meine Eltern, meine Frau, meine Schwester im Ausland. "Alle werden kommen".
Auch wenn vermutlich die Freude meines Sohnes über die Geschenke von allen Verwandten überwiegen würde und nicht die Freude, die eine oder andere Tante wieder zu sehen. Es spielt keine Rolle. Einmal im Jahr, nimmt sich jeder Zeit. Jeder zwingt sich Urlaub zu nehmen, besucht Supermärkte, kauft Geschenke, gibt sich Mühe, freundlicher zu sein und fährt zu seiner Familie. Auch wenn keine Zeit ist. Bei uns ist das so. Jeder gibt sich einen kleinen oder großen Ruck und dann kann man sich austauschen, über die Geschenke,
über das Studium im Ausland, die Arbeit und mein neues T-Shirt, welches zum Gesprächsthema Nummer eins des ersten Weihnachtages wurde. Und für jeden ist ein wenig was Besonderes dabei. Weihnachten kommen alle.
Eingereicht am 21. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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