Der alte Mann und sein Freund
© Janina Zölch
Weihnachtszeit! Romantische, besinnlich-stressige Zeit! Ich lebe in einer Großstadt. Die größte Einkaufstraße derselben, 10 Tage vor dem Fest, ist vor allem eines: hoffnungslos überfüllt! Nach einigem Gequetschte und Angestehe, nach andauerndem auf die Füße getreten werden und suchen, habe ich endlich alles beisammen. Beladen mit zwei großen, sowie drei kleinen Tüten und meiner Handtasche eile ich zur U-Bahn. Hier bietet sich das gleiche Bild: Wie in einem Ameisenbau wuseln Menschen hin und her, rennen die Treppen
herab und springen durch bereits schließende Türen in die Bahn. Sie drängeln, meckern, warten ungeduldig. Man hat doch keine Zeit! Schon gar nicht so kurz vor Weihnachten! Mitten in diesem Durcheinander sitzt ein Mann, wie der aus der Werbung bekannte Fels in der Brandung, auf einer der Bänke. Ich sehe ihn nur von hinten, denn ich warte auf die Bahn in die andere Richtung. Er ist nicht der einzige, der dort Platz genommen hat. Viele lassen sich erschöpft fallen, bitten bereits Sitzende, etwas zu rücken, um die
Zeit bis zum Kommen der Bahn etwas durchatmen zu können. Es ist also nicht verwunderlich, dass jener ebenfalls dort sitzt - seltsam aber ist, dass er nicht aufsteht, als der Zug einfährt. Wartet er auf jemanden? Ist er eingeschlafen? Meine Bahn verspätet sich, so habe ich noch mehr Zeit, über den Sitzenden nachzudenken. Seine Jacke scheint schon einige Jahre über zu wärmen, denn ihr Stil ist längst unmodern. Seine, etwas zu langen, Haare sind dunkel, leicht ergraut und fettig. Während ich denke und die anderen
hasten, schlendern zwei Sicherheitsleute über den Bahnsteig. Sie bauen sich schließlich vor dem Mann auf und sehen ihn kritisch von oben an. "Kommen sie bitte!", murrt der eine. "Sie belästigen die Passanten. Gehen sie!", zischt der andere überheblich. Beide sprechen so laut, dass ich jedes Wort hören kann, doch verstehe ich sie nicht. Für mich ist das ein Sitzender, aber doch kein Störender. Was ist auf der anderen Seite so anders? Warum soll er gehen? Ist er betrunken? Ist er Exhibitionist?
Schneidet er böse Fratzen? Meine Bahn lässt immer noch auf sich warten, meine Neugierde wächst. Die Bahnbeamten wiederholen ihre Worte, der Mann entgegnet nichts. Auch die Umsitzenden und Stehenden reagieren nicht. Ich ja! Ich gehe um die Bank herum, damit ich das Geschehen von vorne betrachten kann. "Kommen sie nun sofort!", klingt es jetzt drohend. "Warum?", höre ich mich sagen. "Er belästigt doch niemanden!" Ich bin kein mutiger Mensch. Für gewöhnlich bin ich einer von denen,
die "Ja, natürlich!" sagen, wenn eine Autorität etwas befiehlt. Dumm? Sehr dumm!, aber bisher ist es so gewesen. Diesmal konnte ich nicht anders und sowohl einige Wartenden, als auch die Beamten sehen mich verdutzt an. Bei letzteren macht dieser Blick rasch einem bösen Platz. "Das können sie nicht beurteilen!", will man mich abweisen. "Wie bitte? Ich habe vielleicht keine Uniform an, aber Augen im Kopf! Der Mann da ist völlig harmlos, ein lieber Alter!" Zu meinem Erstaunen geben
die beiden nach einigem Für und Wider auf. Mit den Worten: "Aber, wenn sich jemand beschwert, ist er weg!", setzten sie ihren Rundgang fort. Ein paar Meter weiter finden sie gewiss ihr nächstes Opfer. Wenn man will, findet man immer jemanden der stört, umso mehr, wenn man dafür bezahlt wird. Aber was ist nun mit diesem Mann? Er ist nicht allein. In seinen Händen, ganz dicht an seiner Brust, hält er einen Bären, einen ganz gewöhnlichen Teddy, wie auch ich als Kind einen hatte. Doch dadurch, dass man
ihn besitzt, verliert er seine Gewöhnlichkeit: er wird besonders. Auch für diesen Alten, scheint gerade dieser Bär außergewöhnlich zu sein. Er ist mittelgroß, hellbraun, mit schwarzen Knopfaugen und rotem Pullover. Der dazugehörige Besitzer hat einen dicken, gemütlichen Bauch und einen großen, etwas schwammigen Kopf mit weichen Konturen. Das Haar ist streng rechts gescheitelt, sein Hals von einem Schal umbunden. Welche Farbe haben seine Augen? Schwer zu sagen. Zuerst dachte ich, sie seinen braun -, doch sie sind
so funkelt, so glitzernd, wie ich es bei einem Erwachsenen noch nie gesehen habe. Sie sind zusammen mit seinem Mund zentral und bestimmend. Dieser wirkt wie der trotziger Mund eines kleinen Jungens. Die Unterlippe etwas vorgeschoben, mit sehr kindlichen Ausdruck. Als die Wachleute ihn anschrieen, war dieser schmerzlich verzogen, nun, da sie weg sind, lächelt er mich verschmitzt an. Darauf drückt der Mann den Teddy fester an sich, streichelt ihn, und reibt seine Nase zärtlich an dessen Hinterkopf. Er ist schon
älter, vielleicht 50 Jahre und offensichtlich behindert. Eine Belästigung stellt er jedoch ganz gewiss nicht dar. Er stört die Passanten nicht, spricht nicht mit ihnen, fasst sie nicht an. Er lächelt ihnen lediglich entgegen. Sonderbare Gesellschaft, in der das eine Belästigung darstellt! Sein Anblick rührt mich fast zu Tränen. Diese tiefe Liebe und Zärtlichkeit, die er dem Kleinen entgegenbringt, dieses beschützen wollen, in dem er ihm z.B. den Pulloverkragen hochzieht, damit er nicht frieren müsse, war wunderbar
anzuschauen. So rücksichtsvoll, innig und zärtlich, sollten alle Liebenden zueinander sein und sind es doch so selten. Ich lächle zurück und bereite ihm damit offensichtlich eine Freude, denn nun beginnt er mit geöffnetem Mund zu strahlen. Mich mit seinen Augen fixierend deutet er mit seinem Kopf dem Teddy entgegen. Nun grinse ich dem Bären an und lasse mich dazu hinreißen, ihm zu winken. Der Alte nimmt darauf das Ärmchen des Kleinen und winkt mir damit zurück. Meine Bahn fährt ein. Ich hebe noch einmal die Hand
zum Gruß, lächle und steige ein. Dieses Erlebnis hat mich tief bewegt. Vor allem die Feindseligkeit der Menschen beschäftigt mich. Ein kleines, vom Teddy begeistertes Mädchen, wurde von ihrer Mutter vom Alten weggezogen und anschließend tüchtig ausgeschimpft. Zudem das Drohen der Wachleute, die verächtlichen Mienen, das Kopfschütteln Vorbeigehender - nur Ablehnung. Kein Lächeln für den alten Mann und seinen Bären. Wer ist dieser Mann? Die altmodische Jacke und der dünne Schal weisen darauf hin, dass er nicht
viel Unterstützung erfährt. Hat er niemanden, der sich um ihn kümmert? Der Weihnachten mit ihm verbringt? Sicher ist er schrecklich einsam! Wo kommt er her? Warum sitzt er dort? Ich denke, dass er die Welt an seinem Teddy teilhaben lassen möchte. Er will, dass ihn alle sehen und sich über ihn Freuen können. Er will, in dieser stressigen Zeit, die Menschen an etwas Vergangenes, Ruhiges und Beruhigendes erinnern. Er will uns etwas geben und wird dafür mit Verachtung beschenkt. Vielleicht aber ist es auch anders.
Mag sein, dass er fürchtet, seinem Bären könnte es zu Hause langweilig sein. Die Ausflüge an die Bahnstation sollen diesem daher die Welt zeigen und Abwechslung bringen. Was macht der Mann an Weihnachten? Sicher ist er sehr einsam. Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich täglich an der Station vorbei. Während die Bahn am nächsten Tag dort hält, sehe ich ihn wieder. Der alte Mann sitzt wie gestern, als sei er nie fort gewesen. Er scheint mich wiederzuerkennen, lächelt und winkt erneut mit dem Arm des Teddys. Die Mitfahrenden
sehen mich kritisch an, ich erwidere das Lächeln nur kurz, dann geht die Fahrt weiter. Später tut es mir Leid, nicht stärker reagiert zu haben. War es mir peinlich? Ich beschließe beim nächsten Mal auszusteigen und dem Mann ein paar Minuten zu schenken. Jeden Tag sehe ich durch die Scheibe nach ihm, doch er ist nicht mehr da gewesen. Ich bin traurig...
-Ich bin sauer, weil ich dieses Jahr am 24. arbeiten muss. Noch nie hatte ich es am Heiligen Abend gemusst! Um ein Uhr verlasse ich daher schlechtgelaunt das Büro. Als ich an der Haltestelle vorbeikomme, denke ich gar nicht mehr an den alten Mann - doch er sitzt wieder da. Inmitten des Trubels der "Geschenke-in-letzter-Minute-Käufer" und "arbeiten-Müssender". Ich springe auf und schlüpfe gerade noch durch die bereits zugehenden Türen. Dann stehe ich ihm gegenüber und werde freundlich angelächelt.
Der Alte schien mir das letzte Mal nicht übel zu nehmen. Ich setzte mich auf den gerade frei geworden Platz neben ihm. Eine Minute oder länger gehen Blicke und Gesten hin und her. "Wie heißt er denn?", frage ich dann auf den Teddy deutend. Nicht wissend, ob der Mann mich überhaupt verstehen kann. Es kommt keine Antwort, er reibt lediglich wieder seine Nase zärtlich an dem Kleinen. Wir kommunizieren noch eine Weile auf diese besondere Art, ohne Worte und doch vielsagend. Dann stehe ich auf, um zu gehen.
Während ich mich noch einmal zu ihm umblicke sagt er leise: "Freund" und lächelt verschmitzt. Ich nicke ihm zu und sage: "Tschüß Freund!" Ich finde es ganz selbstverständlich, dass dies der einzig mögliche Name für seinen Begleiter ist. Während die Bahn sich in Bewegung setzt, winke ich noch einmal. Dieser Moment hat mir klar gemacht, dass ich mir keine Sorgen um den Mann zu machen brauche. Seine Weihnacht wird nicht traurig und einsam sein. Er ist nicht allein, denn sein Freund ist bei ihm!
Sein innig und zärtlich geliebter Freund. Mit ihm zusammen ist er viel weniger einsam, als so manches wortlos gewordene Paar es am Fest ist.
Der alte Mann und sein Freund werden ein schönes Weihnachten haben!!
Eingereicht am 11. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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