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Fest der Gefühle

© Irene Komoßa-Scharenberg


Schon seit Wochen stand die etwas zu krumm geratene Tanne in der Eingangshalle unseres Altenheims, behängt mit grell bunten Kugeln und einer Überdosis an goldenem Lametta. Ich mochte lieber silbernes oder überhaupt keines. Aber mich fragte ja niemand. Die Schwestern hasteten mit einem merkwürdigen Grinsen herum. Es fiel nur aus ihrem Gesicht, wenn jemand ins Bett gemacht hatte.
"Bald ist es soweit", posaunten sie, als ob wir auf Weihnachten warten würden wie kleine Kinder.
Selbst Martha erzählten sie es immer wieder. Dabei verstand die sowieso nichts. Wir sollten uns freuen. Auf Kommando. Zumindest den Stoßtrupps von draußen zuliebe. Wohlmeinende Delegationen überschütteten uns im Advent mit Gebäck und Gesang - verschwanden wieder, noch ehe wir ihre Überfalle verarbeitet hatten.
"Bald ist es soweit", raunte mir auch Schwester Elfriede zu.
Die mochte ich von allen am liebsten.
"Ja, bald", antwortete ich, um sie nicht zu enttäuschen.
Traurig schaute ich in die andere Richtung. Nur noch drei Tage und ich hatte noch nichts von Charlotte gehört. Auch nicht von Lutz, erst recht nicht von Rüdiger. Wahrscheinlich war es ihnen peinlich, ihre Festtagspläne offenzulegen. Zumindest Charlotte. Sie war schon als Kind so sensibel. Während ich grübelte, schlich die verwirrte Martha den Gang entlang. Unaufhörlich wackelte sie mit dem Kopf, als sei der nicht richtig angewachsen. Ihr Mund murmelte dazu unverständliche Worte. Manchmal glaubte ich, ihr Geist lebt irgendwo jenseits von Hoffnung und Angst. Jenseits der Angst, wie verlockend. Dennoch will niemand dort leben. Plötzlich klingelte ein Telefon. Vielleicht meines? Erregt stürzte ich in mein Zimmer, trotz Arthritis fast rekordverdächtig.
"Hallo Mama, hier Charlotte!"
Mir verschlug es die Sprache. Charlotte, Charlotte, drehte sich alles in meinem Kopf. Hoffnung und Angst tanzten Ringelrein. Tanzten Ringelrein, bis die Hoffnung sich auf leisen Sohlen davonschlich. Gewissheit hatte ich mir gewünscht, selbst wenn sie kleine Löcher in meine Seele brannte. Doch jetzt hätte ich am liebsten aufgelegt, nur um an der Hoffnung festzuhalten. Zumindest kurz, ganz kurz nur. Dabei hatte mir der Klang von Charlottes Stimme doch schon alles verraten.
"Mama", fragte sie, "bist du noch dran?"
"Ja, Charlotte", antwortete ich möglichst gefasst.
Für Gefühlsausbrüche blieb später noch Zeit.
"Ich rufe an wegen Weihnachten."
"Wegen Weihnachten", echote ich, um meine Erregung nicht zu verraten.
Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
"Wir haben Gäste", fuhr sie zögernd fort, "gute Bekannte. Ich besuche dich dann nach den Feiertagen."
Hastig verabschiedete ich mich und ging hinaus zu Martha.
"Bald, bald, bald", plapperte sie vor sich hin.
Vielleicht freute sie sich doch, vielleicht mehr als manch anderer hier. Während ich mit den Tränen kämpfte, wetzte Schwester Gertrud den Gang entlang, eine Ansichtskarte in der Rechten.
"Urlaubsgrüße von Ihrem Sohn," schrie sie mir entgegen.
Das Postgeheimnis galt hier nicht. Tatsächlich, Rüdiger schrieb mir aus Thailand. Nach Neujahr wollte er zurückkehren. Die Weihnachtsgrüße hat er vergessen, dachte ich und wackelte mit dem Kopf wie die verwirrte Martha. Besorgt musterte mich Herr Klemm, der einzige Mann auf unserer Station.
"Ik bin ein Berliner", teilte er mir mit.
Dabei wußte jeder, dass er aus dem Sauerland stammte.
Meist sprach er überhaupt nicht. Doch er spürte immer, wenn jemand traurig war.
Im Festsaal brannten sicher schon die Kerzen. Der Organist stimmte die alte Hausorgel ein. Nüchterne Atmosphäre wich einem Hauch froher Erwartung. Mutig kämpfte ich alle Enttäuschung nieder. Mochte nicht zulassen, dass negative Gefühle die frohe Erwartung verdrängten. Mochte nicht zulassen, dass Hoffnung so verloren wirkte wie der lamettabehängte Weihnachtsbaum in der Eingangshalle. Bewusst zog ich mein bestes Kleid an, um damit ein Zeichen zu setzen. Ein letzter Blick in den Garderobenspiegel, dann wollte ich aufbrachen. Doch ehe meine knochige Hand das kalte Metall der Türklinke berührte, steckte Lutz den Kopf herein. Lutz mein Jüngster, immer noch mit der ungepflegten Hippiefrisur. Doch die Haare waren jetzt unwichtig.
"Bin auf dem Sprung", begrüßte er mich mit scheuem Augenaufschlag.
Den Blick kannte ich nur zu gut. Früher hatte er damit stets um Nachsicht gebeten.
"Wir sind auf dem Weg in den Wintersport", fuhr er fort. "Die Kumpels sitzen schon im Wagen. Aber ich wollte dir noch schnell frohe Weihnachten wünschen."
"Verstehe", entgegnete ich knapp und wandte mich von ihm ab zur Garderobe.
Meine Stimme klang fremd und irgendwie emotionslos. Zumindest passte sie zu den herben Gesichtszügen, die mir aus dem Spiegel entgegenblickten. Längst war der kurze Anflug eines freudigen Lächelns aus ihnen verschwunden. Lutz zog die Linke hinter seinem Rücken hervor, hielt mir einen Kalender mit frommen Sprüchen hin. Fromme Sprüche für jeden Tag, wie passend. Mit einem Seufzen humpelte ich zum Kleiderschrank. Im Wäschefach lagen die hübsch verpackten Geschenke für Kinder und Enkel, auch "Berge im weißen Gewand". Mit gemischten Gefühlen überreichte ich Lutz den Bildband. Ich hatte lange danach gesucht. Hastig nahm er ihn entgegen. Hinein schaute er nicht.
"Bis dann", verabschiedete er sich, wie eingangs mit scheuem Blick.
Flüchtig berührte ich sein langes, seidiges Haar. Spürte die Berührung noch auf den Fingerspitzen, als längst eilige Schritte in meinen Ohren hallten. Während meine Stirn sich langsam vom Türrahmen löste, sangen sie unten "Oh du fröhliche".



Eingereicht am 19. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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