Jero
© Regina Hesse
Jero war ein betagter Esel. Jahrelang hatte er seinem Herrn in treuer Pflichterfüllung gedient. Jetzt schmerzten alle seine Knochen und er war froh, dass er die meiste Zeit im Stall bleiben durfte. Nur ab und zu holte ihn sein Herr, wenn er kleine Lasten von einem Ort zum anderen transportieren musste. Es war immer nur für kurze Zeit und das schaffte Jero gerade noch. Er bekam auch genügend zu fressen und hätte sich eigentlich ganz wohl gefühlt, wenn nicht neben ihm im Stall so ein mürrischer Geselle gestanden
hätte.
Es war Gor, ein Ochse. Den ganzen Tag hatte er etwas zu meckern, mal über das Heu oder auch über den Stallburschen, wenn er nicht als erster sein Futter bekam.
Außerdem verbrachte er ganze Nächte damit wiederzukäuen. Das raubte Jero den Schlaf. Nachts war sehr kalt und Jero war froh, dass er sein warmes Plätzchen nicht verlassen musste. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als den unbequemen Nachbarn in Kauf nehmen.
Eines Abends kamen ein Mann und eine Frau in den Stall. Das war merkwürdig, denn es waren wohl keine Hirten, denn sie brachten keine Schafe zum Übernachten mit.
Jero merkte, dass die Frau wohl sehr müde war, denn sie legte sich sofort auf einen Strohballen nieder. Kurz darauf sah er, dass sie ein Kind wickelte und es in die Futterkrippe legte.
Gor, der Ochse, wollte sofort protestieren, aber die Frau sah ihn nur einmal kurz an, da verbeugte er sich vor ihr und mit einem Mal leuchteten seine Augen.
Die Frau war sehr schön und ein kurzer Blick von ihr streifte auch Jero. Er fühlte sich wunderbar geborgen und selbst Gor kam ihm nicht mehr so widerlich vor.
Noch mehr staunte Jero als er spürte, dass von dem Kind eine Wärme ausging, sodass er keine Schmerzen mehr in seinen Knochen spürte. Wenn er es ansah, wurde er so froh, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen war. Das mussten wohl besondere Menschen sein, die da mit ihnen zusammen im Stall waren.
Draußen wurde es auf einmal sehr hell und wunderschöne Stimmen sangen ein Lied, dessen Inhalt Jero nicht verstand. Er kannte nur die Kommandos, die sein Herr benutzte und hatte noch nie etwas Ähnliches vernommen.
Kurz darauf kamen Hirten herein, die voll Staunen vor dem Kind standen.
Ari, ein Hirtenjunge, spielte auf seiner Flöte eine wunderschöne Melodie und Jero sah, dass es dem Kind gefiel, denn es lächelte.
Gor summte das Lied des Hirtenjungen mit. Es hörte sich zwar mehr wie ein Brummen an, aber das war nicht wichtig.
Es dauerte sehr lange, bis in dieser Nacht in dem Stall Ruhe einkehrte, denn auch Filipo, der Mäuserich, war von dem Kind ganz begeistert, denn er tanzte um die Krippe herum. Jero konnte es kaum glauben, aber es war wirklich so, das Kind klatschte mit seinen kleinen Händchen Beifall.
Jero wurde ganz traurig. Anscheinend tat jeder etwas um das Kind zu erfreuen, nur er wusste nicht, was er dazu beitragen konnte. Er konnte nicht singen und auch nicht summen, dafür war seine Stimme viel zu heiser und auch tanzen war nicht seine Stärke. Aber das Kind sah zu ihm auf und strahlte ihn an, und Jero wurde wieder froh.
So lebten sie einige Tage alle friedlich zusammen im Stall.
Inzwischen hatte Jero mitbekommen, dass die Frau Maria und der Mann Josef hieß.
An einem trüben Morgen kam der Besitzer von Jero in den Stall und sprach leise mit Josef. Jero wurde noch einmal von seinem Herrn gestreichelt und dann dem Mann Josef übergeben. Er war sehr erschrocken, denn er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
Josef führte ihn hinaus. Maria und das Kind setzten sich auf seinen Rücken. Vor Schreck zuckte Jero zusammen, aber seltsamerweise spürte er kein Gewicht auf sich. Auf Geheiß von Josef trabte er los. Er konnte es kaum glauben, aber er fühlte sich frisch und gesund wie lange nicht mehr.
"Siehst du" sagte das Kind, jetzt hast du mir ein noch größeres Geschenk gemacht als all die anderen im Stall."
Jero wusste genau, dass eigentlich er der Beschenkte war.
Eingereicht am 09. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.