Advent im Weltall
© Ewa van Heigel
Wir schreiben das Jahr 2084.
Wir wussten kaum noch, ob es Weihnachten, Ostern, Winter oder Frühling war und steuerten ziellos durchs Weltall. Mannomann - hatten wir ein Tempo drauf! Ich vermutete, wir befanden uns schon in der zweiten Adventswoche.
Irgendwie funktionierte an Bord überhaupt nichts mehr. Meine Mannschaft war deprimiert, weil sie seit Jahrzehnten nichts zu tun bekam. Aber dass mein Steuermann Johannis - völlig mit Pigmentflecken übersät - vor Eitelkeit ins Bett musste, machte mir Angst. Natürlich kannten wir die gefährliche Wirkung der Sonne; daher trugen wir ja auch alle eine Sonnebrille. Johannis aber, dieser eigenwillige Kerl, hatte sich in einem Anfall von Übermut ins Freilichtmuseum begeben und das Märchen von "Schnupfelchen und
Hustelchen" gelesen. Die Sonne dort hat ihm den Rest gegeben.
"Soeben haben wir den Jupiter rechts liegen gelassen", äußerte Kamillo, das ist unser Masseur, der am liebsten schon wieder auf der Erde gegen die Gesundheitsreform protestieren will.
"Wenn wir endlich den Steuermann aus dem Bett bekommen würden", sagte ich, "und er die Erde ansteuern könnte, gäbe ich dir gerne einen oder zwei Tage frei. Also versuche bitte, ihn zu überreden, endlich auf zu stehen. "Kamillo war ein Schlaumeier. Er nahm Bergamotte, die schönste Frau an Bord und unsere Expertin für "Kneipp'sche Güsse", mit. Die Quartiere waren am Bug des Raumschiffes. Kamillo und Bergamotte kamen an der Freizeitstätte vorbei. Eukalyptus und Fenchel spielten ziemlich
lahmes Tennis. Salbei schwamm seine 100-Meter Bahnen, Thymian war vom Trampolin nicht runterzukriegen. Peterle und Kerbel saßen als Zuschauer auf der Bank. Die Handball-Mannschaft der Citrusfrüchte spielte gegen die Fußball-Mannschaft der Zitronenmelissen. Es stand unentschieden - niemand hatte Lust, die Tore zu zählen.
Johannis lag in seiner Hängematte, als Bergamotte eintrat. "Johannis", sagte sie, "hast du Lust, mit mir in die Sauna zu gehen?" Johannis legte den Spiegel beiseite, mit dessen Hilfe er eitel seine Pigmentflecken zählte. Er lief beim Anblick von Bergamotte knallrot an; von den Flecken in seinem Gesicht war nichts mehr zu sehen. "Ja, gerne" strahlte er. "Gerne. Ich packe nur eben meine Sachen."
"Johannis. In der Sauna brauchst du keine Kleidung. Außer uns beiden und Fichtennadel ist zurzeit keiner drin". Johannis war gerettet.
Zwei Stunden später waren wir im Landeanflug. "Wo landen wir?", fragte Basilikum, die Tochter von Hibiscus. Ich antwortete sofort: "In Nordrhein-Westfalen, da gibt es bestimmt etwas zu tun."
Alle sahen mich ungläubig an. "Was zu tun? Wer braucht uns denn heutzutage noch? Wer will denn überhaupt noch etwas mit uns zu tun haben. Sag', wer will mich Knoblauch noch in seiner Nähe haben?". Knoblauch war am deprimiertesten. Er war der Einzige weit und breit, den die Menschheit seit Jahrzehnten mied. Wartet ab", beruhigte ich meine Mannschaft, "denkt doch ein bisschen positiver."
Wir landeten in einem winzigen Ort inmitten von Autolärm. Majoran sah zuerst den Weihnachtsmarkt. Dann stieg mir der Duft von vergangenen Zeiten in die Nase. Engel und Weihnachtsmänner schlenderten mit Schlitten und dicken Säcken darauf die Fußgängerzone auf und ab. Dann stimmte meine Vermutung also doch. Die vorweihnachtliche Zeit hatte bereits begonnen.
"Senf, bleib hier. Wo willst du so schnell hin?" Ich musste meine Mannschaft zurück halten - Ihr wisst schon.
"Da", rief Senf und zeigte mit seinem Finger auf eine Bude, geschmückt wie eine Berghütte. "Da isst einer Würstchen!"
"Ja und?" Tomato war sauer. "Woher willst du wissen, dass die Frau dich und nicht mich will?"
"Dann komm doch auch mit" - Senf packte Tomato am Arm und weg waren sie.
"Juhu, da humpelt jemand. Der hat bestimmt Muskelkater."
Wacholder war Sprinter und nicht mehr zu sehen. Kamillo lief zu seinem Fahrrad, als er hörte, dass die Kinder auf der Bahnhofstraße vom Schluckern Bauchschmerzen hatten. "Spring auf, Fenchel, ich nehm dich mit. Wir werden gebraucht."
"Märchen werden wahr." Thymian schnallte sich seine Roller-Skates unter, als der Cantus-Chor kaum noch Stimme war. "Die haben fast alle Husten", rief er.
"Warum weint Ihr Baby so?" fragte Lavendel die besorgte Mutter.
"Meine Tochter hat Mittelohrentzündung. Die geht und geht nicht weg."
"Versuche es doch mit mir", antwortete Lavendel.
Ringelblume fand keinen Job. Sie tat mir schon fast Leid. Dann sah ich eine alte Frau auf der Bank sitzen. Sie war offensichtlich traurig. Ich sagte: "Ringelblume, setz dich doch mit deinen Freunden zu der Frau auf die Bank".
"Klar, mach ich."
Beim Anblick dieses goldgelben Blumenstraußes erstrahlte das Gesicht der alten Frau zu einem Lächeln.
"Lorbeer - da kocht jemand. Sieh mal nach, ob du helfen kannst. Und vergiss nicht, Beifuß mitzunehmen."
Eine Gruppe italienischer Jungen ging die Morgenstraße hinunter. Sie hatten Hunger und suchten nach etwas Leckerem. "Was ist mit euch los?"
"Ach, das Essen in diesem Dorf ist nicht so berauschend. Wir haben noch keine Restaurants gefunden. Nur Pommes-Buden."
"Wir können helfen." - Tomatinchen, die Schwester von Tomato, Oregano und Knoblauch witterten ein Abenteuer. Sie zeigten ihnen die Pizzerien.
Ich war begeistert. Meine Mannschaft war glücklich wie nie zuvor. Die Nacht- und Königskerzen strahlten wie Sterne am Himmel. Wir hatten den Weg nach Hause gefunden.
Ach wer ich bin? Entschuldigt bitte meine Unhöflichkeit. Mein Name ist Melissa. Ich bin schon uralt. Man nannte mich früher einmal Kräuterhexe.
Eingereicht am 10. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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