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Zipfel, der Eiszwerg

© Ingrid Göbel


Es war kalt, eiskalt, an diesem lichtgedämpften Tag. Die Luft war erfüllt vom Getöse des aufgepeitschten Wassers - eine neue Generation von Eisbergen wurde in die Eigenständigkeit entlassen.
"Missgeburt! Jag ma's furt", und dazu eisiges Gelächter drang an sein Ohr, als er hochschnellte, nachdem ihn seine Mutter, eine riesige Gletscherzunge, knapp vorher unsanft von sich und ins Wasser gestoßen hatte, er also geboren wurde.
Erschrocken blickte er um sich. Eisberge in majestätischer Größe schaukelten bedrohlich in seiner Nähe und blickten verächtlich auf ihn hinunter. Spitz wie eine Zipfelmütze war er, der junge Eisberg und klein, so winzig klein zwischen diesen Riesen, auf denen Robben und Seemöwen Rast machten und sich angeregt unterhielten. Auf ihm, Zipfel, diesen Namen rief ihm seine Mutter noch zu bevor sie sich trennten, konnte es sich niemand, nicht einmal ein kleiner Vogel, bequem machen. Zipfel würde nie ihren Abenteuergeschichten lauschen und mit ihnen lachen und weinen können. Er war ja so ganz anders in seinem Aussehen, hässlich, wie sich seine Brüder ausdrückten. Einsam wird er sein, ein Leben lang. Er seufzte tief und war dem Weinen sehr nahe.
Da kamen sie wieder näher, die Quälgeister, und trieben ihren Spott mit ihm. Sie lachten höhnisch über seine Versuche, ihren Eismassen aus zu weichen. Jetzt wurde es langsam eng für ihn. Vor ihm versperrte eine gewaltige Eisplatte den Weg, hinter ihm kamen seine Peiniger. In dem Moment, als er sich seinem Schicksal, erdrückt zu werden, ergeben wollte, krachte es, das Eis brach auseinander und gab eine kleine Rinne frei. Schnell zwängte er sich durch diese Öffnung. Sie war gerade groß genug für ihn und die anderen … stießen zwar dagegen und brachten die Platte gehörig ins Schwanken, aber das war auch schon alles.
Zipfel erreichte unbehelligt das offene Meer. Wasser, wohin er auch blickte, nichts als dunkles Wasser. Müde von den Quälereien und Aufregungen schloss er seine Augen. Sanft atmete das Meer und wiegte ihn in einen tiefen Schlaf. Er träumte …
Zwei Ringelrobben kamen näher, nahmen ihn in ihre Mitte und erzählten frisch drauf los: "Da gibt es eine kleine Insel mit Tieren, die auf ihren zwei Hinterbeinen gehen und mit den Vorderbeinen andere, komische Dinge verrichten. Sie nennen sich "Menschen" und sie glauben, sie wären die Krone der Schöpfung. Dabei wissen sie von uns sehr wenig und verstehen nicht einmal unsere Sprache, wir Tiere aber verstehen sie sehr gut Und noch etwas! Sie stellen uns nach und töten uns, wenn wir in unserer Wachsamkeit nachlassen. Das aber so nebenbei! Ein schönes Fest, "Weihnachten" genannt, wird bei diesen Menschen gefeiert. Sie schmücken einen Baum mit Kerzen und Bändern, es wird gesungen, getanzt und gelacht. Aber heuer haben die Inselbewohner ein Problem. Die letzten Winter waren sehr lang und kalt, sie verheizten ihre Bäume, um nicht zu erfrieren. Kein einziger Baum bewohnt heute die Insel. Das Fest wird heuer wohl ausfallen müssen. Schade!! Aber wart einmal! Vielleicht ....?? JA!!!! So könnte es gelingen!"
Zipfl schien ganz tief zu schlafen, die Robben schoben ihn weiter in die Polarnacht hinein. Gegen Morgen an diesem ersten Weihnachtstag waren sie vor der baumlosen Insel angelangt. Sie deponierten ihn im kleinen Hafen, verabschiedeten sich ganz leise und tauchten unter.
Der Hafenaufseher, griesgrämiger Lars genannt, entdeckte bei seinem morgendlichen Rundgang den kleinen Eisberg. Gerade als er seinem Ärger über den Eindringling, der ihm die Hafeneinfahrt versperrte, Luft machen wollte, kam ihm eine Idee. Kurz entschlossen machte er den kleinen Eisberg mit Stahlklammern und Seilen an der Kaimauer fest, holte danach ein paar Kerzen aus dem Dorfkirchlein und den Herrn Pfarrer aus seinem warmen Bett. Mürrisch folgte er Lars zum Hafen. Dort angekommen, flüsterte Lars ihm etwas ins Ohr. Jetzt glättete sich das Gesicht des Pfarrers und er meinte: "Wohlan in Gottes Nam'." Gemeinsam schmückten sie das "Pfeilspitzbergerl", wie es der Pfarrer liebevoll, und mit dankbarem Blick zum Himmel, nannte.
Zipfel war inzwischen erwacht und sah tatenlos diesem Treiben zu. Er konnte sich ja nicht einmal mehr bewegen. "Vom Regen in die Traufe". Er war verzweifelt. Da hörte er ein Kichern und gleich darauf spürte er einen kleinen Schubs. Zwei Ringelrobben waren hinter ihm aufgetaucht, die zwei aus seinem Traum!? Merkwürdig!
"Pass auf", flüsterte die eine, "jetzt kommt die Überraschung. Keine Angst, wir bleiben selbstverständlich bei dir."
Die Kerzen wurden angezündet und er sah, wie viele große und kleine Menschen - das Wort hatte er im Traum gehört - herbei eilten. Sie sangen, manche falteten ihre Hände und murmelten dabei, andere tanzten und lachten. "Du bist einzigartig! Du bist so schön! Wir mögen dich, du eisiger Traumbaum," riefen sie immer wieder und viele kleine Hände streichelten ihn.
Zipfel war gerührt. Er, der Ausgestoßene, hatte Freunde gefunden, die ihn trotz seiner Andersartigkeit lieb hatten. Seine Eiskristalle blitzten und glitzerten mit den Augen der Kinder um die Wette bis spät in die Weihnachtsnacht hinein.
Es war weit nach Mitternacht, als die Menschen, mit dem Farbenzauber der Kristalle im Herzen, müde und zufrieden zu ihren Behausungen zurückstapften.
Zipfel spürte die Ringelrobben, wie sie sich eng an ihn schmiegten, er fühlte sich geborgen in ihrer Freundschaft und war nur noch glücklich.



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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