Weihnachten bei Maria und Josef
© Enrico Andreas Brodbeck
Sein Kommen war ersehnt, sein Kommen war bis ins kleinste Detail geplant. Nun war der kleine Junge endlich bei ihnen und erfüllte ihre Hoffnung mit tiefer Dankbarkeit, nachdem sie so lange auf ihn gewartet hatten. Entrissen von einem fernen Ort, war der kleine Junge nun in einer Stadt mit Menschen, die ihm fremd und nicht bekannt war. Von den Ämtern war es so beschlossen und besiegelt, dass er nun bei diesem Mann und seiner Frau leben sollte, die ihm fremd waren und die er nicht lieben konnte. Die Frau, die ihn
fürsorglich auf ihre Arme trug, kannte er nicht. Sie war ihm nicht vertraut und doch so lieb. Es war nicht die Frau, die ihn neun Monate im Leibe trug und ihn unter Schmerzen zur Welt gebracht hatte. Es war auch nicht die Frau, die ihn als Säugling aufwachsen sah und ihn tröstete, wenn er einmal traurig war und weinte. Aber, sie war die Frau, die nie ein eigenes Kind austragen würde. Er erkannte nicht ihre Glückseligkeit und Freude in diesem Moment, da seine Erschrockenheit und die Verwunderung über die neuen
Gegebenheiten anhielt. Es war an einem Abend, am vierundzwanzigsten Tag im Dezember. Festlich läuteten die schweren Kirchturmglocken der örtlichen Kirchen und riefen die Gläubigen der Stadt zur Christmette. Leise fielen kleine Schneeflocken vom Himmel hernieder und überzogen das graue Land und die Stadt mit ihrer weißen Pracht. Ruhig war es nun in den Straßen und Gassen geworden und Friede legte sich über das Land und die Herzen. Die Frau stand mit dem kleinen Jungen vor einem festlich geschmückten Weihnachtsbaum,
des Jahres 1962. Silberfarbene Lamettagirlanden und buntschimmernde Christbaumkugeln vollendeten mit ihrem Glanz das Aussehen des Weihnachtsbaumes, der auf einem kleinen Tischchen seinen Platz, für das erste gemeinsame Weihnachtsfest, gefunden hatte. Bunt verspielte Tierfiguren aus feinem Blech wiegten sich im Luftzug, der von der geöffneten Wohnzimmertür herein wehte. Kleine weiße Kerzen mit gelb leuchtenden Flammen spiegelten sich nicht nur in den großen Christbaumkugeln, sondern auch in den großen braunen
Augen des kleinen Jungen. Und oben auf dem Weihnachtsbaum strahlte in hellem Glanz eine silberfarbene Christbaumspitze, die als krönender Abschluss dort angebracht war. Neben dem Christbaumständer, der mit einer feinen Decke überspannt war, stand eine kleine Holzkrippe mit filigranen Figuren, mit denen die biblische Geschichte, um Maria und Josef und dem Jesuskind, dargestellt wurde. Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen drang von der Küche seicht in das Wohnzimmer herein, und das Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit
erfüllt die Herzen. Jetzt in diesem Moment, als der kleine Junge zur Krippe herabschaute und das Jesuskind in der Krippe sah, waren all die beklemmenden Ereignisse vergessen. Es waren Ereignisse gewesen, die er ein paar Wochen zuvor erleben musste, und nun bemüht war, seine innere Ruhe wieder zu finden. Nie zuvor hatte er solch eine anheimelnde Festlichkeit erlebt, die in ihm das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit aufkommen ließ. Noch waren die Erinnerungen frisch an eine Gegebenheit, vor dem jetzigen Leben. Mit
anderen Heimkindern, die sein Schicksal teilten, lernte er das Fest der Liebe, auf eine für ein Heim typischen Art und Weise, kennen. Dort, an dem fernen Ort, war seine große Heimfamilie mit seiner Mama, den Jungen und Mädchen und den Fürsorgerinnen, die sie betreuten. Eigentlich fehlte dem kleinen Jungen nichts um glücklich zu sein, denn jeder in dieser Heimfamilie war für den anderen da. Die großen Kinder trösteten die Kleineren, wenn die einmal traurig waren und weinten. Und die kleinen Kinder gaben den Größeren
Trost, Hoffnung und Wärme, die sie suchten in einer kalten Welt. Verletzte Seele wohin er auch schaute. Diese scheinbar heile Welt, gaukelte ihm und den Kindern etwas vor, das ihre Erwartung auf mannigfaltiger Weise enttäuschen sollte. Es war eine trügerische Sicherheit und Geborgenheit auf Zeit. Es sollte eine Sicherheit und Geborgenheit sein, die Eltern ihren Kindern im Kreise einer intakten Familie geben. Aber über sein Geschick und das der kleinen Heimfamilie bestimmte eine unsichtbare Macht, die den Zusammenhalt
der Gruppe ständig bedrohte. Es waren die Ämter mit ihren Vorschriften und Verordnungen, die, im Sinne "zum Wohle des Kindes", über deren Zukunft entschieden. Durch laufende Vermittlungsverfahren erfuhr der kleine Junge und seine Heimfamilie ein ständiges Kommen und Gehen, das von ihnen stets als eine Bedrohung empfunden wurde. Dann, wenn eine Adoption ihren Höhepunkt erreicht hatte, begleitete ein Weinen und Wehklagen den Tagesablauf der Kinder, gefolgt von einem inneren Gefühl aus Angst und Furcht.
Apathisch, und mit einer inneren Anspannung, nahmen die Kinder diese Phase wahr. Tief brannte sich das Geschehen in die verletzten Seelen, woran ihre kleine Kinderwelt zerbrach. Untrügerisch aber waren die Vorzeichen einer Adoption, wenn das Schicksal eines der Kinder ereilen sollte. Vorlieben der Erwachsenen für kleine Babys, verschonten die älteren Kinder und klammerten sie zunehmend von den allgemeinen Verfahren aus. Ihnen blieb nur die Enttäuschung und die bittere Erkenntnis, von dieser Welt nicht geliebt
zu werden. Wut, Hass und Ablehnung erlebte der kleine Junge durch seine geliebten Geschwister in den darauffolgenden Tagen. Verstört war seine Seele, verstört war auch sein Verstand.
Der kleine Junge wurde am neunten Tag des Monats Dezember, 1959 geboren. Der kleine Junge wurde an einem sechsten Tag des Monats Dezember 1962 erneut geboren, als seine Mutter den Kampf um ihr einziges Kind, gegen die starre Amtsbürokratie, gänzlich verloren hatte. Ihr fehlte die notwendige Sicherheit und Geborgenheit einer intakten Familie, um dieses Gefühl an ihren Sohn weiter zu geben. Drei Jahre währte ihr Kampf, um den Erhalt eines familiären Kleinods in dieser Heimfamilie, an das sie sich so sehr klammerte
- und sie verlor. Drei Jahre lang war sie seine Mama. - Doch unsichtbare Mutterfäden reißen nie. - Das Schicksal nährt sich von den Geschichten der Menschen. So nahm das Schicksal des kleinen Jungen seinen Lauf, als an einem anderen fernen Ort zwei Menschen darum kämpften, in dieser Gesellschaft als Familie zu gelten. - Im Sinne von Vater, Mutter und ein Kind. - Das Schicksal ihrer Kinderlosigkeit grenzte sie geistig aus der Gesellschaft aus. Zu zweit, erfüllten sie nicht den Inbegriff einer Familie, in einer
normgeprägten Gesellschaft, die auf bedrückender Weise darüber befand. Am sechsten Tag des Monats Dezember 1962 war der kleine Junge derjenige, der aus den Reihen seiner kleinen Heimfamilie gerissen wurde. Dies unabwendbare Los, löste bei ihm eine unsägliche Trauer aus, die es galt auszulöschen. Doch sein Schicksalskreis sollte sich endlich schließen.
Wohlbehütet und in den Armen einer besorgten und glücklichen Frau, schaute der kleine Junge neugierig auf das Tischchen mit dem Weihnachtsbaum und der Krippe. Spielsachen, die nicht eingepackt waren, sorgfältig zurecht gemachte kleine Päckchen und wunderschön dekorierte Weihnachtsteller mit Süßigkeiten und Gebäck, weckten sein Interesse, welches in der neuen Umgebung täglich aufs neueste gefordert wurde. Der Mann, mit einem merkwürdigen Apparat in den Händen, feuerte ständig Lichtblitze in ihre Richtung, die
den Neuankömmling gelegentlich blendeten. Dann kam der Höhepunkt an diesem Heiligen Abend. - Die Bescherung. - Der kleine Junge beobachtete höchst interessiert das Geschehen, dessen Zeremonie er in dieser Weise noch nicht erlebt hatte. Die Frau stellte den Jungen auf den Boden, um anschließend zum liebevoll hergerichteten Gabentisch zu gehen. Mit der rechten Hand schwenkte sie ein kleines Glöckchen, das mit seinem lieblichen hellen Klang die gemeinsame Bescherung einläuten sollte. Der Mann hatte für den feierlichen
Anlass den Plattenspieler bereitgestellt. Als das Lied "süßer die Glocken nie klingen..." erklang, stellten sich der Mann und die Frau vor die Krippe und nahmen den kleinen Jungen liebevoll in ihre Mitte. Bei dem Lied "freuet euch ihr Christen, oh freuet euch all..." stimmten die beiden an und sangen inbrünstig aus tiefstem Herzen heraus mit. Andächtig stand der Junge vor ihnen, hielt ihre Hände und lauschte aufmerksam ihrem Gesang. Er wunderte sich über den Text, da er den Sinn des Liedes
nicht verstand. Der kleine Junge schaute sich den Weihnachtsbaum an und dachte in diesem Moment an seine Heimfamilie. Er dachte an die Jungen und Mädchen, an die Führsorgerinnen und an seine Mama, die er seit seiner Ankunft in dieser fremden Stadt nicht mehr gesehen hatte. Würde seine Heimfamilie zu diesem Zeitpunkt ebenso schön Weihnachten feiern wie er? Der Gedanke an seine Mama ließ, für einen kleinen Moment, ein sanftes Lächeln über sein Gesicht huschen. Vielleicht, so dachte er, vielleicht würde seine Mama
an diesem besonderen Abend hierher kommen und mit ihm, dem Mann und die Frau zusammen Weihnachten feiern. Danach, dass wünschte er sich, würde er mit seiner Mama fortfahren, fort zu dem fernen bekannten Ort von dem man ihm vor Wochen abholte. Seit einiger Zeit dachte er öfters an seine Mama und es war sein sehnlichster Wunsch gewesen, sie einmal wieder zu sehen. Es machte ihn traurig, dass durch die neuen Eindrücke der letzten Tage und Wochen, die Erinnerungen an seine Mama langsam weniger wurden. Er sah zu dem
Gabentisch herüber und war sich sicher, dass später noch mehr Kinder kommen und an dieser schönen Feier teilnehmen. All seine Gedanken und die Fragen die aufkamen, verwirrten ihn sehr und er atmete einmal tief durch. Angst? Angst brauchte er wohl nicht zu haben, denn der Mann und seine Frau waren immer sehr nett zu ihm. Er schaute vertrauensselig zu den beiden empor und sah, dass sie sich nach dem Singen liebevoll umarmten und küssten. Dann bückten sich beide zum Jungen herunter und drückten ihn herzlich an sich.
Er wusste nicht, ob er sich über die Herzlichkeit freuen sollte, da ihm seine Heimfamilie und seine Mama in diesem Moment fehlten. Mit einer bedrückenden Erwartung, überreichte die Frau dem Jungen sein erstes Geschenk. Lichtblitze flammten wieder auf, die den Jungen etwas verunsicherten. Ergriffen von der Begeisterung des Jungen, der sich über die Geschenke in nie gekannte Weise freute, wischte sich die Frau heimlich ein paar Freudentränen aus ihrem Gesicht. All die Vorbereitungen, für dieses erste Weihnachtsfest,
hatten die beiden bis ins kleinste Detail geplant und mit größter Sorgfalt und Geheimhaltung ausgeführt. Ihrem neuen Familienmitglied, ihrem Sohn, sollte es an nichts mangeln. Gespannt schauten sie dem kleinen Jungen beim Spielen zu und waren gerührt von der Freude, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Der Wunsch, den die beiden seit langer Zeit hegten, hatte sich an diesem Abend erfüllt, ihr Sohn war endlich zu Hause. In diesem Jahr, dass stand für den Mann und die Frau fest, sollte nicht nur die Geburt
Christi gefeiert werden, es sollte auch die Geburtstunde einer neuen Familie sein. - Im Sinne von Vater, Mutter und einem Kind. - Die Frau und der Mann hießen Maria und Josef und waren von nun an die neuen Eltern des kleinen Jungen. Vor nicht all zu langer Zeit holten sie den Jung ab. - Von einem fernen Ort mit fremden Menschen. - Ende -
Eingereicht am 21. Mai 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.