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2005 - Als Weihnachten fast ausgefallen wäre

© Corinna Ketterling


Eines Tages, vor gar nicht allzu langer Zeit, saß der Weihnachtsmann in seinem Loft-Apartment in Manhattan an einem schweren Eichenholzschreibtisch, schlürfte einen Martini-Cocktail und starrte dabei auf den Bildschirm seines Laptops.
Als Rudi-Lì, sein kleines Rentier - ein Geschenk aus einer alten sehr reichen chinesischen Familie, eine "Bonsai-Art", die kaum größer wird als eine dicke Katze, mit seinen Hufen sachte an den Beinen des Weihnachtsmannes kratzte, weil es auf seinen Schoß wollte, klopfte sich der alte Herr bereitwillig auf seine dicken Schenkel.
Einer besonderen Laune folgend, drängte sich Rudi-Lì aber nach kurzer Zeit auf den Schreibtisch, rieb kurz seine feuchte Nase an der Fensterscheibe und bewunderte die Skyline im Sonnenuntergang, um sich dann zufrieden, zwischen Aktenordnern, Wunschzettelpacken, Namenslisten und Verteilungskonzepten zu einem Nickerchen in eine Nische zu kuscheln. Beim letzten genüsslichen Ausstrecken des Hinterteils war es dann passiert: das Martiniglas, durch seine Form ohnehin zum leichten Umfallen verurteilt, schwankte bedenklich, kippte, und ergoss seinen Inhalt auf die Tastatur des neuen Computers.
Wieder einmal hatte der Weihnachtsmann seine Gutmütigkeit teuer bezahlen müssen, wusste er doch genau, dass das tollpatschige Rentier einem potentiellen Katastrophenalarm auf vier Hüfchen gleichkam. Aber nun war der Schaden angerichtet, und es half kein Zetern. Wenig später hatte sich Rudi-Lì im Wandschrank versteckt, der Computer seinen Geist aufgegeben und der Weihnachtsmann stand in der Küche und rieb sich mit einem großen karierten Geschirrhandtuch den Fleck aus seiner Designerjogginghose.
Jetzt saß er in der Patsche.
Schuldbewusst dachte er nun an die Worte seines Chef-Elfen, der ihm von der Arbeit mit dem Computer dringend abgeraten hatte.
"Du bist zu alt dafür, du wirst nur Schaden anrichten!", hatte er gesagt und hätte dem Weihnachtsmann am liebsten verboten, den Südpol zu verlassen.
"Aber mit Internet kann man doch jetzt alles bequem in die ganze Welt verschicken, ich möchte nach Hunderten von Jahren endlich die Kinder, die ich beschenke nicht nur an Weihnachten sehen und nicht das ganze Jahr über in dieser verdammten Eiswüste wohnen."
Am Ende hatte Valentin, der stets schlechtgelaunte Wald- und Wiesenelf, der unter dem Klima am Südpol sicher viel mehr litt als der Weihnachtsmann selber, so wütend den Kopf geschüttelt, dass seine langen spitzen Ohren dabei bis auf seine schmalen giftgrünen Augen schlackerten.
Normalerweise lachte sich der Weihnachtsmann immer fast tot darüber, aber diesmal schaute er ihn ernst aus großen Augen an und wartete auf die Erlaubnis.
In einem unverständlichen Elfen-Kauderwelsch schimpfte der kleine Valentin vor sich hin.
Die ganze Arbeit würde wieder einmal an ihm hängen bleiben - andererseits wusste er, dass Weeman, wie er den Weihnachtsmann mangels eines richtigen Vornamens nannte, ein Recht hatte, sich etwas zu entspannen.
Die Traditionen mussten und würden erhalten bleiben, das war wichtig, und niemand wusste das besser als Weeman. Andererseits war es normal, dass auch die "Christmas-Crew" mit der Zeit ging. Nichts war so geblieben, wie es war: Heute wurden die alten Autos des verstorbenen Papst versteigert und Prinz Charles hatte Camilla geheiratet… Da konnte Weeman auch in New York arbeiten und seine Ferien auf Cuba oder in Mexiko verbringen.
Auch wenn der Elfenrat und das Zwergengremium sich an "Christmas Eve" gegen moderne Fortbewegungsmittel ausgesprochen hatten, weil das Fehlen von Schlitten und Rentieren der einhelligen Meinung nach einen zu großen Image-Verlust bedeutet hätte, würde es niemand wagen, dem Weihnachtsmann vorzuschreiben, was er während des Jahres zu tun und zu lassen hatte.
Valentin leckte sich über seine fahlgelben Lippen.
"Okay", sagte er heiser und grimmig, "aber auf deine Verantwortung!"
Der Weihnachtsmann hatte sich gefreut wie ein Kind und sofort die Koffer gepackt.
Jetzt dachte er bitter an Valentins letzte Worte:
"Mach dir Sicherheitskopien - IMMER!"
Aber nein…er hatte es nicht getan. Warum wohl? fragte er sich jetzt verzweifelt. Es war so, als ob man ein Glas - in der festen Überzeugung Herr der Lage zu sein - auf dem Boden abstellt, um es dann kurz darauf umzutreten. Wie hatte ihm das passieren können?
Wurde er langsam menschlich?
Müde stierte Weeman auf seinen Großwand-Plasmabildschirm, während Rudi-Lì ihm treu die Füße leckte.
Für kurze Zeit verlor er sich in einem leisen Kichern, weil es unendlich kitzelte, aber dann verbot er sich sofort seine gute Laune. Schließlich hatte sich eine Katastrophe zugetragen, und da gab es nichts zu Lachen, auch wenn er als Weihnachtsmann einfach immer gut gelaunt war - das gehörte zu ihm wie der Sand in die Wüste.
Schwerfällig erhob sich Weeman und schlich zum Computer.
Der Verdacht wurde schnell zur Gewissheit:
Das martinigetränkte Luxusarbeitsgerät gab keinen Mucks mehr von sich - absolut keine Reaktion. Der schöne neue Laptop war so tot wie eine ägyptische Mumie.
Nach der ausführlichen Begutachtung durch einen Techniker (Rudi-Lì hatte im Badezimmer gewartet), gab es keinen Zweifel mehr:
Die Arbeit von Monaten war dahin… Ende Oktober und keine Chance zeichnete sich ab, das Chaos wieder zu beheben.
Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich der Weihnachtsmann ausgelaugt und traurig.
Nach einem langen Spaziergang im Central-Park ging er nach Hause und schickte ein Fax an Styx, seinen Schatzmeister und ersten Sekretär.
Viel zu kurze Zeit darauf, der Weihnachtsmann hatte noch nicht einmal seinen Peperoni-Wodka ausgetrunken, den er sich zur Ermunterung eingegossen hatte, schrillte auch schon das Telefon.
"Ja, Otto hier", meldete sich Weeman mit seinem Decknamen.
"Bei allem Respekt, Sir Weeman, aber was soll denn das verflucht noch mal heißen: ‚Weihnachten fällt aus'? Bist du denn vollkommen übergeschnappt?", brüllte Valentin mit sich vor Wut überschlagender Stimme.
"Nein, nein…ich…hab' mir das schon gut überlegt… Anhand einer Studie, die ich Gelegenheit hatte, hier in den vereinigten Staaten von Amerika durchzufü-"
"Bullshit!", unterbrach Valentin in rasendem Ärger.
"Hoho! Komplimente für deine moderne Ausdr-"
"Versuch' nicht abzulenken! Was hast du angestellt? Du hast nicht auf mich gehört, und anstatt den Mac zu benutzen, hast du einen PC gekauft, und jetzt bist du voll von Viren!"
"Nein…" Die sonst so tiefe gemütliche Stimme des Weihnachtsmanns klang dünn.
"Datenverluste durch Stromausfall?"
"Nein…"
"Was in drei Grimmdexbuckelsnamen ist passiert?"
"Rudi-Lì hat…", Weeman ließ den Satz unvollendet, und Valentin zog mit einem scharfen Zischen die Luft durch seine krummen gelben Zähne, dann stöhnte er:
"Verflucht! Rudi-Lì…"
Wenn das Bonsai-Rentier im Spiel war, würde das Ausmaß der Katastrophe schlimmer sein, als er zu hoffen gewagt hatte.
"Wie hoch sind die Verluste?", fragte der Elf sachlich, nachdem er sich gefasst hatte.
"Ich habe alles verloren. Die Arbeit von Januar bis jetzt. Alle Wunschlisten, alle Bravheitsbefunde, die Bestätigungen der Aufträge für die Spielzeugindustrie, die Geschenkwiederholvermeidungsstudien, die Freudeauslösungsanalysen der einzelnen Kinder. Alles, einfach alles. Jetzt hilft nicht mal ein Wunder - die Arbeit von fast 10 Monaten ist hin. Das aufzuholen schafft niemand. Vollkommen unmöglich."
"Dann mach es möglich, verflucht! Du bist der verdammte Weihnachtsmann! Suche nach Alternativen! Finde Kompromisse! Bitte Freunde um Hilfe!", brüllte der Elf.
Weeman war schon drauf und dran gewesen, das schnurlose Telefon irgendwo abzulegen und den Giftzwerg alleine weiter schreien zu lassen, jetzt wurde er jedoch stutzig.
"Freunde?", wiederholte er.
"Klar! Frag' halt den Osterhasen! St. Nikolaus! Die Befana!"
"Diese hirnlose italienische Süßigkeitenhexe? Das hätte mir noch gefehlt! Mir so eine Blöße zu geben! Das ist mein Job, ich brauche diese Pfuscher nicht dazu!", entrüstete sich der Weihnachtsmann.
Die Antwort des Elfen kam so prompt wie trocken:
"Na also, das wollte ich hören!", sagte Valentin und legte auf.
Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Weeman aufs Sofa fallen und Rudi-Lì kuschelte sich in seine Arme.
Das muss es sein, was die Menschen Depression nennen, dachte Weeman beim Einschlafen.
Nachdem er 19 Stunden geschlafen hatte, und nur davon aufwachte, dass Rudi-Lì ihm besorgt seine aufgedunsene Nase leckte, wusste er, dass er Weihnachten retten musste. Er duschte kalt und kochte sich einen Malzkaffee mit Rosenwasser.
Dann setzte er sich mit einem Stift und unzähligen Bögen weißen Papiers an seinen Schreibtisch und schrieb in Schönschrift: "Lösungsansatz für die Weihnachtskatastrophe des Jahres 2005"
Nach einer umfassenden Situationsanalyse kam Weeman zu folgendem Schluss: Weihnachten war noch zu retten. Viele Geschenke waren ja schon bestellt und wurden bereits in den Weihnachtsfabriken produziert und ihm blieben die Unterlagen der letzten Jahre. Sicherlich würde eine Geschenkumverteilung stattfinden, aber wenn er gute Miene zum bösen Spiel machte, würde vielleicht niemand etwas merken.
Und tatsächlich schaffte es Weeman sich selbst zu übertreffen. In den letzten Tagen vor Weihnachten schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen, und alle waren mit dem Weihnachtsmann zufrieden wie jedes Jahr.
Styx und Valentin hatten den Vorfall geheim gehalten, und als Valentin am 4. Advent Weemans Wunschzettel las, blieb er sogar verhältnismäßig gelassen. Es wäre sowieso unmöglich gewesen, dem Weihnachtsmann selbst, der so akribisch genau die Wünsche der Menschen recherchierte, seinen einzigen Weihnachtswunsch zu verweigern.
Spät in der Nacht saßen Styx und Valentin im Arbeitszimmer des Weihnachtsmannes, prosteten sich mit heißem Anisschnaps zu und aßen gebrannte Paranüsse und Guaranapralinen.
"Ich finde, wir haben die Sache gut in den Griff bekommen", sagte Styx mit vollem Mund.
"Na ja, die Menschen sollten sich dieses Jahr jedenfalls nicht wundern, wenn sie nicht das bekommen, was sie sich gewünscht haben, oder das gleiche wie im vorigen Jahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgend jemand mit seinen Geschenken so richtig zufrieden ist, kann man nur als verschwindend gering bezeichnen", antwortete Valentin etwas bedrückt.
Aber Styx winkte ab. "Ach was! Es kommt auf die Geste an. Besser ein schlechtes Weihnachten als gar keins."
"Da hast du sicher recht", nickte Valentin.
"Prost!"
"Prost!"
Nachdem der Anisschnaps alle war, sagte Valentin müde:
"So, jetzt geh' ich aber ins Bett. Morgen muss ich noch das Geschenk für Weeman besorgen."
"Ah… Was will er denn dieses Jahr?"
"Das Gleiche wie letztes Jahr."
"Und was war das noch mal?"
Valentin legte die Stirn in Falten und seine Augen funkelten als er knurrte: "Einen neuen Laptop."



Eingereicht am 15. Juni 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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