Das weiße Reh
© Gabriela Weil
In einer kleinen, windschiefen Holzhütte am Rande des Waldes lebte mit seinen Eltern der Knabe Wido. Er war ein in sich gekehrtes, blond gelocktes Kind mit weichen Gesichtszügen, das am liebsten den ganzen Tag vor sich hin träumte unter den weit ausladenden Zweigen einer alten Tanne, weshalb er auch den Beinamen "Waldkind" erhielt. Seine Eltern waren arme Leute; sie lebten von dem, was der Wald ihnen gab.
Eines Tages, Wido hockte wieder einmal im Schatten seiner Tanne, kam eine alte Hexe aus dem Dunkel des Waldes. Sie sah den Knaben, der weinend am Baumstamm lehnte und schlich auf ihn zu. Wido erschrak heftig, als die Alte ihn mit ihrem krummen Stock anstieß; er hatte sie bis dahin gar nicht bemerkt. "Na, Kleiner", zischte die Hexe und starrte ihn mit stechendem Blick an, "warum weinst du denn?" Wido ängstigte sich vor der fremden, unheimlichen Erscheinung mit dem gebeugten Rücken und der Hakennase
im runzligen Gesicht. Aber er hatte gelernt auf Fragen, die ihm gestellt wurden, zu antworten. "Ich habe so Hunger", schluchzte er und hielt sich beide Hände vor den Bauch. Die Hexe kicherte schadenfreudig in sich hinein. "Ja, ja", feixte sie durch ihre Zahnlücke, "deine Eltern haben wohl wieder nichts zu Essen, was?" Wido nickte traurig mit dem Kopf. Da zog die Hexe ihre Kiepe vom Rücken und postierte sich dicht vor den Jungen. Dieser wollte ausweichen, aber er konnte nicht, denn
sein kleiner Rücken klebte bereits schutzsuchend am harten Stamm der Tanne. Die Hexe streckte ihre langen, spindeldürren Finger aus und zwickte den Knaben in den Arm. "Ich weiß etwas, das du nur zu berühren brauchst und danach wirst du nie wieder Hunger haben." Erstaunt horchte Wido auf. Von unten herauf warf er der Alten einen misstrauischen Blick zu. Aber er war neugierig geworden und traute sich zu fragen: "Was ist es, das ich berühren muss?" Erneut kicherte die Hexe. Der Junge musste dabei
unwillkürlich an das Meckern einer Ziege denken. "Es ist das weiße Reh." "Das weiße Reh? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wo ist es?" Die Hexe zwickte ihn aufs Neue in den Arm, jedoch dieses Mal merkte es Wido überhaupt nicht mehr. "Das weiße Reh lebt hier tief im Wald. Wenn du es findest, musst du es mit deinen Fingern berühren, dann wirst du niemals wieder Hunger haben." Hämisch grinsend richtete sich die Alte auf und griff nach ihrer Kiepe. Aber der Knabe hielt sie am Rockzipfel
fest. Der Gedanke, nie wieder mit knurrendem Magen herumzulaufen, beherrschte ihn jetzt vollkommen. "Bitte, bitte, sag mir doch, wo ich das weiße Reh finde, der Wald ist so groß. Wo soll ich denn nach ihm suchen?", bettelte er die Hexe an. Diese indes hatte sich schon abgewandt. "Du musst halt aufs Geradewohl nach ihm Ausschau halten, das weiße Reh hat keinen festen Standort, es ist mal hier, mal da", schnarrte sie durch ihre Zahnlücke, "ja, ja, mal hier, mal da, wer weiß schon, wo ..."
Kichernd entfernte sich die Alte.
Wido war wieder allein unter der Tanne. Ein Ziehen durchschnürte seinen Magen, der laut zu knurren begann. "Ich will das weiße Reh suchen, denn es ist mein Glück", entschloss er sich. "Und wenn ich es gefunden habe, werde ich es berühren, um anschließend niemals mehr hungern zu müssen." So ging Wido tiefer und tiefer in den Wald hinein und gelangte in Gegenden, die er nie zuvor gesehen hatte. Zwar begegnete er hier und da einem Reh, aber niemals war es das gesuchte Weiße. Eines Tages jedoch
wurde der Wald um ihn herum immer dichter, kaum hatte er Platz, zwischen den Tannenstämmen hindurchzugehen, so nah beieinander standen diese. Zudem war es hier fast stockdunkel, weil das Tageslicht den Erdboden nicht erreichen konnte. Orientierungslos blieb Wido stehen - er wusste nicht mehr weiter. Da sah er plötzlich etwas Helles vor sich zwischen den Tannenstämmen hindurchschimmern. Angestrengt spähte der Knabe in diese Richtung und tatsächlich: es war das weiße Reh! Sein dichtes glänzendes Fell war wirklich
schneeweiß und bot einen reizvollen Kontrast zu seinen sanft schimmernden, schwarzen Augen, die mit dichten Wimpern verziert waren. Noch schien das Tier den Jungen nicht bemerkt zu haben, denn es schritt in gleichmäßigem Gang majestätisch über das Unterholz. Doch dann sprang Wido mit einem großen Satz nach vorn auf das Reh zu, das sogleich geschwind die Flucht ergriff und davon stob. Und der Knabe hetzte hinter ihm her so schnell er nur konnte, denn er war ja nun endlich der Erfüllung seines Wunsches so nah!
Nur ein wenig schneller musste er sein wie das weiße Reh, nur ein wenig schneller und es berühren, dann wäre er stets satt und glücklich. Und das Reh preschte voran und der Junge folgte ihm über Busch und Strauch, über Baumwurzeln und Hölzer - aber der Abstand zwischen ihm und dem Gejagten wollte und wollte nicht kleiner werden. "Du musst schneller rennen, Wido!", feuerte sich das Waldkind selbst an. Es holte noch einmal das letzte der Kraft aus seinem kleinen zarten Körper. Und seine Anstrengungen
hatten Erfolg: Der Abstand zwischen ihm und dem flüchtenden Tier schmolz, die Erfüllung seines Begehrens war jetzt greifbar nah! Auf einmal knickte das Reh mit seinem rechten Vorderlauf um; es war in eine Bodenspalte geraten und hatte sich dabei den Vorderlauf gestaucht. Wido hörte ein schmerzerfülltes Fiepen, das ihn ungewöhnlich erschrocken machte. Jeder weitere Schritt musste dem Tier höllisch wehtun - wusste er. Aber es flüchtete weiter, wohingegen Wido nun langsamer lief, bis er schließlich nach einer Weile
sogar ganz stehen blieb. Und als das bedrängte Reh merkte, dass sein Verfolger ihm nicht mehr auf den Fersen war, blieb auch dieses in gebührender Entfernung stehen; beide - Knabe und Tier - verharrten so keuchend und völlig außer Atem in Sichtweite zueinander. Eingehend betrachtete Wido das verletzte Reh: Es war das schönste Tier, welches er bis dahin gesehen hatte. Aber er registrierte auch, dass dessen Blick schmerzverzerrt war und mit diesem Wissen schrumpfte gleichzeitig das Begehren in ihm, das weiße Reh
zu berühren, um selbst danach frei des Hungers zu sein. Stattdessen fühlte Wido mit einem Mal den Schmerz des Tieres in seinem eigenen rechten Bein: Ein höllischer Schmerz war es, der ihn da durchzuckte und zu Boden sinken ließ! Unwillkürlich streckte der Junge beide Arme nach dem Reh aus und das, was nun zwischen ihm und dem Tier wie ein goldenes Band hin- und herfloss, war nichts anderes als liebevolles Mitleiden untereinander. Es verursachte in Widos kleiner Brust eine ungewohnt wohltuende Ruhe, die sein zuvor
so wild pochendes Herz wieder ruhig schlagen ließ und seinen Atem gleichmäßig machte - darüber hinaus schlief er ein.
Er sah sich im Traum auf dem Waldboden sitzen. Aus dem Dickicht der Tannen trat das weiße Reh und kam auf ihn zu: es zog humpelnd den verstauchten Lauf nach sich. "Lass mich dir helfen", sprach Wido zu ihm. Fort war auch jetzt im Traum sein Drang, das Tier zu berühren, fort war auch jetzt all sein Begehren nach Glück; er fühlte einzig den höllischen Schmerz des verletzten Tieres, als wäre es sein eigener. Und da geschah das Wunder: Plötzlich sprang das weiße Reh mitten in das kleine Herz von Wido! Dieser
fuhr, überrascht davon, zusammen und wachte auf.
Ungläubig sah er sich um: Das weiße Reh war nirgends mehr zu sehen. Widos linke Hand legte sich instinktiv auf sein Herz - und da war es! Dort inmitten seines Herzens stand das weiße Reh und blickte ihn aus sanftschimmernden schwarzen Augen dankbar-strahlend an. Und darüber verspürte der Junge so viel Freude, dass er seinen Hunger gar nicht mehr spürte; stattdessen fühlte er einen tiefen Frieden, der seine kleine Brust durchfächelte und erwärmte wie ein milder Frühlingswind die mit Raureif überzogene Landschaft.
Wido brauchte sein Glück in Gestalt des weißen Rehs nicht mehr außen zu suchen, er beherbergte es von nun an alle Zeit in sich, dort, ganz tief im Inneren seines Herzens.
Freudetrunken ging er zurück zur Holzhütte seiner Eltern. In dem Moment, als er deren warmes einladendes Licht durch die Tannen blinken sah, begann es zu schneien. Leise fielen kleine weiße Schneeflocken vom Himmel und ließen sich tanzend in zärtlicher Gebärde auf dem Waldkind nieder - denn es war Heiligabend heute.
Eingereicht am 05. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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