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Weihnachten 2006

© Sinco Venethos


"Chef!" Shorty hielt die Zeit für reif, sich an den Allmächtigen zu wenden. Immerhin wurde er als Berater dafür bezahlt.
Der Boss der Bosse hob die linke Augenbraue und neigte den Kopf ein wenig nach rechts. Jeder im großen Konferenzsaal wusste, was das bedeutete: Der Alte hatte schlechte Laune!
Shorty kannte den Grund: Der Alte Angeber, von seinen Abteilungsleitern mit "AA" abgekürzt, wollte zu seiner derzeitigen Gespielin, inoffiziell versteht sich. Offiziell kam Sex für den Oberhirten nicht in Frage. Schließlich gab es Wichtigeres, als seine Zeit mit dem Austausch von Körpersäften zu verschwenden.
"Chef!", wiederholte Shorty, weil er vor Jahren in einem Psychologiebuch gelesen hatte, dass man in Krisenzeiten kurz und prägnant formulierte. "Wir haben ein Problem!"
Ein Donnergrollen erfüllte den Konferenzraum, nachdem der laut Eigendefinition Alles-In-Sechs-Tagen-Erschaffer mit der Faust auf den Wolkentisch geschlagen hatte.
"Verflucht, hier im Himmel gibt es keine Probleme!", hallte seine Stimme durch den Raum, so dass die Heiligenscheine der Abteilungsleiter kurz nach hinten rutschten. "Und falls doch: Wofür bezahle ich euch Waschlappen? Reicht es nicht, dass ich alles in sechs Tagen erschaffen habe?! Damals, damals …"
Der Blick des Allahnenden richtete sich nach innen, worauf Shorty gedanklich seufzte. Nun würde der Chef wieder endlos in seinen Erinnerungen schwelgen. Und danach würde er sich endlos über die heutigen Zustände beklagen. Er würde endlos über die Sachzwänge schimpfen und über die lange nicht mehr geschorenen Schäfchen reden und …
Shorty fuhr sich über seine Igelfrisur und rief sich zur Ordnung. Für Selbstmitleid hatte die Gruppe heute keine Zeit. Er holte tief Luft und schrie: "Teufel-Alarm!"
Während sich die Abteilungsleiter erschrocken auf den Wolkenboden warfen, sprang der Oberschäfer mit einem Schrei aus dem Sessel und ging in Kampfhaltung. Sein Heiligenschein, der normalerweise zwanzig Zentimeter oberhalb seines Kopfes schwebte, wurde von dem Stellungswechsel überrascht und zur Halskette umfunktioniert.
Nach wenigen Wolkensekunden erkannte der Allahnende jedoch, dass er genarrt worden war. Zornesadern bildeten sich auf seiner Stirn.
"Chef, später!", kam Shorty einem Wutanfall zuvor. "Wir alle wissen, welcher Tag heute ist", begann er und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass sich der Allgegenwärtige wieder in seinen Sessel wuchtete. "Heute ist das Fest der Liebe!"
"Fest der Liebe", flöteten die Abteilungsleiter, die sich mittlerweile erhoben hatten und sich den Wolkenstaub vom Gewand klopften.
"Wir denken an den Sohn unseres Himmelvorstandes, dessen …"
Dunkle Wolken schwebten über dem Kopf des obersten Schafhüters. "Keine Details!", schnaufte der Erschaffer des Universums. "Erinnere mich nicht an diesen missratenen Bengel! 3.333 Jahre hätte er die Menschen begleiten sollen, um ihnen Liebe, Einheit und Friede zu bringen. Und was macht er?" Der Genialste der Genialen verdrehte die Augen. "Er fällt auf die erste Nutte herein, die ihm begegnet. Das hätte ich ihm noch verziehen, aber das mit dem Tod …" Er seufzte. "Wie oft habe ich ihm eingebläut: Junior, hab ich gesagt, Junior, nimm dich vor diesen Barbaren in Acht! So schnell kannst du gar nicht schauen, nieten die dich um."
Shorty lächelte gequält. Auch diese Geschichte hatte jeder hier im Saal schon oft gehört.
"Und", sagte der Allen-Irdischen-Religionen-Vorstehende und knirschte mit den Zähnen, "hat er auf mich gehört?"
Auf Wolkensekunden des Schweigens folgte ein gebrülltes "Nein" und ein Donner, der direkt aus der Hölle zu kommen schien. Blitze zuckten in der Wolkendecke und erhellten den bereits optimal ausgeleuchteten Raum um einige Lichtquanten.
"Dieser Verlierer kommt nach nur dreiunddreißig Jahren zurück!" Irres Kichern drang aus dem Munde des Allsehenden. "Wenn es wenigstens ein stilvoller Tod gewesen wäre! Aber nein, ein Holzkreuz musste es sein! Ein Kreuz! Einfach unfassbar! Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihn wiederauferstehen habe lassen."
Shorty ertappte sich dabei, dass er gelangweilt in die weiße Wolkenfront über ihm starrte.
"Bei allem Mitleid, das ich für deinen … wie hast du ihn zuvor genannt … missratenen Bengel aufbringe, wir haben jetzt ein dringenderes Problem! Und die Zeit wird knapp!"
Sofort wurde der Mächtige der Mächtigen hellhörig. Immerhin war Zeit sein Heiligtum. Ständig erzählte er von der Erschaffung des Universums in lächerlichen sechs Erdtagen.
"Wieso?"
Noch bevor Shorty reden konnte, fuhr ihn der Boss an. "Lass dir nicht immer alles aus der Nase ziehen! Willst du etwa Zeit vertrödeln?", fragte er lauernd.
Nach einem zornigen Blick in Richtung seines Chefs räusperte sich Shorty. "Ein Außendienstmitarbeiter ist unter tragischen Umständen von uns gegangen."
"Was?!", rief Der-Gegen-Den-Teufel-Kämpfende und sprang vom Sessel auf. Automatisch entstanden Wolken vor seinem Gesicht, die er mit einer Handbewegung wegwischte. "Dieser Pole sollte doch noch ein Erdenjahrzehnt durchhalten. Was fällt ihm ein, seinen Job vorzeitig zu …"
Der Allwissende hielt inne. Offenbar hatte er bemerkt, dass sein oberster Berater den Kopf schüttelte. Mit den Worten "Glück gehabt, der Junge. Dafür hätte ich ihn in der Hölle schmoren lassen" setzte er sich, gefolgt von seinem Heiligenschein. "Wer ist denn noch so wichtig, dass du die Morgenbesprechung in die Länge ziehst?"
Äußerlich blieb Shorty wegen dieser Rüge gelassen, aber in seinem Inneren kochte es. "Der Weihnachtsmann ist tot!", antwortete er knapp.
Der Universumskonstrukteur machte eine wegwerfende Handbewegung. "Na und? Einmal muss jeder sterben. Besorgt einen neuen!", sagte er und erhob sich. Diesmal war sein Heiligenschein schneller und hielt den vorgeschriebenen Abstand von zwanzig Zentimetern zum Haupt seines Trägers ein.
"Dafür fehlt uns die … Zeit!"
Der Alles-Verzeihende, der sich bereits dem Ausgang zugewandt hatte, blieb wie angewurzelt stehen. Sein Heiligenschein hatte mit diesem abrupten Stopp nicht gerechnet und eilte ihm voraus. Nachdem er seinen Irrtum bemerkt hatte, kehrte er umgehend auf seinen angestammten Platz zurück.
"Uns fehlt Zeit? Ich glaube, ich höre nicht richtig!", knurrte er, gefolgt von Blitzen, die aus der Wolkendecke kamen und ließ sich wieder in seinen Thron fallen.
"Doch", beharrte Shorty. "Wir können nämlich das in der Himmelsordnung vorgeschriebene, acht Monate dauernde Suchverfahren nicht anwenden, weil der Weihnachtsmann plötzlich von uns gegangen ist. Und in Anbetracht des Tages … nun …"
"Verdammt, was hat das mit dem heutigen Tag zu tun?"
"Heute ist Weihnachten! Die Auslieferung der Geschenke sollte seit exakt …" Shorty hielt inne, weil er 4 Erdenstunden und 17 Minuten in Wolkeneinheiten umrechnen musste. "… 4,16 Wolkenstunden angelaufen sein."
"Aha", machte der Himmelsvorsitzende und ließ sein Unterkiefer nach unten klappen. Er korrigierte diese Fehlstellung und krempelte die Hemdsärmel hoch. Shorty vermutete, dass ihn die Aufgabe herausforderte. Schließlich war der Universumskonstrukteur ungeschlagen, wenn es darum ging, die Zeit zu überlisten. Und außerdem hatte er einen Ruf zu verlieren.
"Gut, gehen wir das Ganze systematisch an! Der Weihnachtsmann ist tot … okay …" Als wäre ihm erst jetzt die Tragweite des Geschehens klar geworden, riss er die Augen auf und brüllte. "Der Weihnachtsmann ist tot!?"
Die unvermeidlichen Blitze aus der Wolkendecke wurden diesmal sogar von einem Donnern begleitet.
Der Alte hat heute aber eine lange Leitung, dachte Shorty. Na ja, er ist auch nicht mehr der Jüngste.
"Gut, bleib ruhig", murmelte der Metaphysische und setzte sich. "Ich bin schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden." Zu seinen Untergebenen gewandt, fragte er: "Woran ist er gestorben?"
Der Abteilungsleiter der pathologischen Abteilung räusperte sich und antwortete: "Fresssucht!"
Shorty sah die nächste Frage voraus und gestattete sich, dem Pathologen die Arbeit abzunehmen.
"Der Weihnachtsmann sitzt ständig am Nordpol. Es ist kalt, also kann er nicht ins Freie. Die Zwerge … deren Existenz ist nur ein Gerücht. Er hat keine Gespielinnen bis auf die …" Ein Hustenanfall zwang Shorty kurz innezuhalten, um danach fortzufahren, "… also, bis auf die Rentiere. Die Fitnessräume wurden ihm wegen Geldknappheit nicht bewilligt. Was würdest du an seiner Stelle machen?"
"Essen", folgerte der Glaubensverbreitende.
"Exakt", bestätigte Shorty mit einem gütigen Lächeln. Na bitte, geht doch! Man muss ihn nur langsam zur Lösung hinführen.
"Wie lange ist er bereits tot?"
Der Pathologe begann in seinen Unterlagen zu kramen. Sein Suchen wurde hektischer, als sein Vorgesetzter unruhig auf die Lehne seines Throns trommelte. Schließlich, die Röte im Gesicht des Nur-Einen-Gegner-Habenden zeigte Shorty, dass er bereits drauf und dran war, den Pathologen mit einem Blitz zu rösten, presste der Abteilungsleiter hervor: "Sieben Wolkenmonate!"
"Wieso zur Hölle hat ihn niemand vermisst?", polterte der Rippentransformator los. Ein Blitz fuhr neben dem Pathologen in den Wolkenboden.
Shorty kratzte sich nachdenklich am Kinn, bevor er sagte: "Niemand vermisst den Weihnachtsmann, weil wir ihn nur einmal im Jahr in den Einsatz schicken!"
Mit einem undefinierbaren Laut lehnte sich der Alles-Kontrollierende in seinem Sessel zurück. "Wieso hat niemand bemerkt, dass er keine Bestellungen aufgegeben hat?" Sein Blick traf den Abteilungsleiter des Bestellwesens.
"Erhabener, ich habe die Lieferungen an den Weihnachtsmann geprüft. Es kam zu keinen Unregelmäßigkeiten, zumindest sind mir keine bekannt", antwortete das Einkaufsgenie ausweichend.
"Wenn er vor sieben Wolkenmonaten gestorben ist, hat er seit damals kein Essen mehr bestellt!"
"Gutes Argument", heuchelte Shorty, weil ihm gerade danach war.
Der Abteilungsleiter des Bestellwesens tat, als müsse er nachdenken. "Aus Rentabilitätsgründen haben wir, wie mir der Kollege des Controllings sicher zustimmen wird, seit dreiundzwanzig Wolkenjahrhunderten den Weihnachtsmann nach jedem Einsatz ausreichend mit Lebensmitteln für ein Jahr versorgt. Dadurch haben wir einige Lebensmittellieferungen eingespart, was sich positiv auf das Budget ausgewirkt hat", rechtfertigte er sich.
Der Herrscher über das Universum kaute an der Unterlippe. "Das klingt nach Ausrede! Was war mit dem Futter der Rentiere?"
Obwohl die Frage vorhersehbar gewesen war, hatte der Abteilungsleiter offenbar nicht damit gerechnet. Schweißperlen kullerten über seine Stirn. "Der Ausfall einer derart kleinen Bestellmenge wird nicht erfasst. Aber ich werde mich bei unserem zuständigen Sachbearbeiter erkundigen, ob ihm etwas aufgefallen …"
"Schweig!", unterbrach ihn der oberste Schäfchenaufseher. "Und hör auf zu schwitzen. Wasser leitet Blitze!"
Shorty hielt den Zeitpunkt für gekommen, einen neuen Punkt in die Diskussion einzubringen. "Allmächtiger, das wäre übrigens eine Gelegenheit, unser Controlling einer Prüfung zu unter…"
Er verstummte abrupt, nachdem ihm der Big Boss einen giftigen Blick zugeworfen hatte.
"Wer kümmert sich um den Energieverbrauch der Weihnachtsmann-Villa?"
Jeder wusste, dass der Alte Angeber eine Fangfrage gestellt hatte. Deswegen mieden alle den Blick des Obermackers. Sie beäugten ihre Fingernägel, rieben sich ihre Augenlider oder zeichneten Symbole in den Wolkentisch. Als das alles nichts half, versenkten sich die Abteilungsleiter in Trance.
Es wurde still. Doch da der Himmel aus Wolken gefertigt war, hätte man selbst die berühmte Stecknadel nicht fallen gehört.
Mit den Worten "Na, wird's bald?" riss der Oberboss seine Untergebenen aus ihren meditativen Übungen.
"Erleuchteter", begann der Abteilungsleiter des Energiewesens heuchlerisch, "die Maschinen am Nordpol werden automatisch gewartet. Da die letzte vorschriftsmäßige Kontrolle vor achtzehn Wolkenjahrzehnten durchgeführt wurde, kontrollieren wir sie ohne Fehlermeldung erst wieder in fünf Wolkenjahrhunderten."
Zum zweiten Mal versuchte Shorty in dieser Besprechung, seinem Namen als Berater alle Ehre zu machen, indem er den Gesamtüberblick bewahrte. "Allmächtiger, das wäre eine Gelegenheit, unsere Außenstellenkontrolle einer Überprüfung zu unter…"
Ein vernichtender Blick aus den Augen des Seinesgleichen-Suchenden traf ihn. Shorty nahm endgültig zur Kenntnis, dass systemanalytisches Denken heute nicht gefragt war und daher auch nicht goutiert wurde.
"Helft mir!", verlangte der Einzigartige und richtete sich im Sessel auf. "Wie funktioniert dieser Weihnachtskram?"
Alle starrten ihn an. Diese Frage konnte unmöglich ernst gemeint sein.
"Chef?", fragte Shorty und bemühte sich, seine Augen nicht aus dem Kopf fallen zu lassen.
"Verzeiht, falls durch meine Frage euer idealistisches Bild von mir ins Wanken geraten ist", meinte der Meister aller Klassen sarkastisch, "aber selbst ich kann mich nicht an alles erinnern. Schließlich habe ich Wichtigeres zu tun, als mir den Ablauf jedes dämlichen Festes in diesem Universum zu merken!"
Shorty stimmte ihm in Gedanken bei, hütete sich aber ein Lob auszusprechen. "Wir haben es mit verschiedenen Propagandamethoden geschafft, das Fest der Liebe am 24. Dezember jedes Erdjahres zu etablieren. Die Kinder dürfen sich etwas wünschen und schreiben zu diesem Zweck einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann …"
"Ich glaube, es dämmert langsam", unterbrach ihn sein Brötchengeber. "War bis vor kurzem nicht das Christkind dafür zuständig?"
Der oberste Berater nickte zustimmend. "Nur in Ländern mit verkrustetem Gedankengut. Dort wurde das Christkind vorgeschoben, aber in Wirklichkeit gab es immer nur den Weihnachtsmann, alias Santa Claus."
Der Überall-Zugleich-Seihende legte die Stirn in Falten. "Also, diese kleinen Gfrastsackln schreiben einen Wunschzettel … Wie wird der eigentlich zum Weihnachtsmann weitergeleitet? Früher ging das per Gedankenbefehl. Wie funktioniert es jetzt?"
Der Leiter der Organisationsabteilung enthob Shorty einer Antwort. "Aufgrund der 3.946ten Strukturreform haben wir die Abwicklung gestrafft. Zwei Monate vor Ablauf jedes Erdenjahres schwärmen unsere Wunschzettel-Lokalisierbrigaden aus und durchstöbern die Kinderzimmer. Sobald sie einen Wunschzettel finden, versehen sie ihn mit einem Sender und leiten die Positionsdaten an die Zentrale Wunschzettel-Lokalisier-Abteilung weiter. Die wiederum schickt die Wunschzettel-Scannbrigade aus, die jeden Wunschzettel scannt. Mit der neuen Wintofs YO Software auf den Laptops wird dieser digitalisierte Wunschzettel an unser Rechenzentrum geemailt. Dort werden sie noch einmal bearbeitet und dem Weihnachtsmann übermittelt. Er ist letztendlich für die Auswahl und Bestellung der Geschenke zuständig."
"Lange Rede kurzer Sinn: Es wurde verkompliziert!", folgerte der Über-Allem-Schwebende.
Das konnte der Organisationschef natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Das kam einer persönlichen Beleidigung gleich. "Barmherziger, wir haben die Strukturen gestrafft, die Abläufe verfeinert und vor allem Arbeitsplätze geschaffen!"
Der Nicht-Zu-Täuschende nuschelte etwas in seinen wallenden, weißen Bart. "Wer nimmt die Bestellungen des Weihnachtsmannes entgegen?"
Obwohl alle die Antwort wussten, schwiegen die Berater.
"Die Zentrale Bestellabteilung", meinte schließlich Shorty mit einem Seitenblick auf den Abteilungsleiter des Bestellwesens.
Dieser wagte nicht, seinen Vorgesetzten anzusehen. Er wusste, wie die nächste Frage lauten würde. Und sie kam tatsächlich.
"Wieso hat dort niemand bemerkt, dass der Weihnachtsmann keine Warenlisten geschickt hat?"
"Ähem, das hat zwei Gründe", sagte der Angesprochene, dem es sichtlich peinlich war, wieder als Schuldiger dazustehen. "Zum einen war Santa Claus ein ziemlich seltsamer Kauz, der seine Bestellungen immer sehr unregelmäßig und überraschend eingereicht hat und zweitens können derart marginale Aufträge wie die von Herrn Claus in der Weihnachtshektik leicht übersehen werden …"
Bereits am Beginn des zweiten Satzes hatten sich schwarze Wolken über dem Kopf des Durch-Nichts-Zu-Erschütternden zusammengezogen. "Weihnachtshektik?! Was für Weihnachtshektik?", brüllte er. "Die bricht erst aus, sobald es an die Erfüllung der Wünsche geht!"
Aus der Wolkendecke zuckten mehrere Blitze durch den Konferenzsaal und schlugen links und rechts vom Abteilungsleiter des Bestellwesens ein. Es knisterte im Raum, während die Heiligenscheine grell aufleuchteten.
"Wie lange haben wir noch Zeit, um einen neuen Weihnachtsmann zu finden?", fragte der Gewaltige in dieses Chaos hinein.
"Nun, Rächer der Enterbten … äh, sorry, falsches Gebiet, … ich meine, Allgegenwärtiger, wie ich zuvor schon ausgeführt habe", wollte Shorty auf die vorgeschriebene Dauer des Suchprogramms hinweisen. Aber er wurde von seinem Chef rüde zum Schweigen gebracht.
"Soll ich dafür Sorgen, dass sich dein Körper deinem Namen anpasst?"
Shorty wurde blass. Wann immer der Alte Drohungen derart unverhüllt ausstieß, war die Scheiße am dampfen.
Das Wesen mit dem weißesten Bart des Universums rutschte in seinem Sessel nach hinten. "Gut, dann verarsch mich nicht mit deinem Gelaber! Also, wie viel Zeit bleibt uns?", fragte er nochmals.
Shorty schwieg. Sollte jemand anderer antworten. Praktischerweise meldete sich sogleich der Chef der Organisationsabteilung zu Wort. "Falls wir das SSP anwenden …"
"Hör mit diesen bescheuerten Kürzel auf!", wurde er angeschrieen.
"Falls wir das SSP, das Standardisierte Suchprogramm anwenden", fuhr der als Phlegmatiker bekannte Organisationschef ungerührt fort, "ist Weihnachten vorbei, ehe wir den ersten Kandidaten zu einem Interview gebeten haben."
"Dann scheißen wir heuer auf dieses PPS!", entschied der Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit.
"SSP", korrigierte ihn der Abteilungsleiter seelenruhig.
Daraufhin schmetterte der Herrscher über Leben und Tod seine Faust auf den Tisch, dass der Wolkenfußboden darunter schwankte. Sogar die Heiligenscheine hechteten nach oben.
"Vollkommen egal, wie dieses Mistding heißt!"
Ein Blitz zuckte knapp am Kopf des Organisationschefs vorbei. Alle anderen duckten sich. Nur der Attackierte blieb ruhig stehen, als ginge ihn das Ganze nichts an.
"Ich will Alternativen zu diesem Suchprogramm hören. Und zwar rasch!"
Die Abteilungsleiter schwiegen betreten. Da jeder die Antwort kannte, wagte es niemand, den Zorn des Wortgewaltigen noch einmal heraufzubeschwören.
"Was ist los?", fragte er nach ein paar Wolkensekunden. "Shorty, gibt es keine Pläne für diesen Fall?"
Shorty schluckte und dachte: Warum immer ich?
"Nein, Chef. Den Berechnungen unserer Mathematischen Abteilung zu Folge liegt die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt dieses Szenarios dermaßen nahe Null, dass ein Zufrieren der Hölle realistischer ist. Deswegen hat die Alternativplan-Abteilung keine Zeit für die Erstellung eines Alternativplanes für so ein unwahrscheinliches Ereignis verschwendet."
"Wir könnten ihn klonen", warf der Abteilungsleiter des Bestellwesens mit freudiger Miene ein. Offensichtlich war er der Meinung, gerade die Lösung des Problems gefunden zu haben. Und er glaubte wohl auch, sich damit rehabilitieren zu können.
"Kommt gar nicht in Frage!", schrie der cholerische Leiter der Finanzabteilung. "Weißt du, wie viel eine Wiederauferstehung kostet? Dem stimme ich nicht zu! Da benutze ich mein Veto!"
"Wieso kann der Finanzleiter ein Veto einlegen? Ich dachte immer, ich habe hier alleiniges Einspruchsrecht", fragte der Blitzeschleuderer interessiert und blickte zum Einzigen im Saale, der ihm darauf eine Antwort geben konnte.
"Nach der 23.236ten Novelle der Göttlichen Himmelsordnung", dozierte der Chef der Rechtsabteilung mit ernstem Gesicht, "genauer gesagt Paragraph 5.741 des Himmlischen Gesetzbuches kann jeder Abteilungsleiter ein Veto gegen einen Beschluss des Himmelsgremiums einlegen, sofern die Ausführung des Beschlusses seine Zuständigkeit auch nur peripher betrifft."
Der Leiter der Finanzabteilung nickte mehrmals. "Genau! Und die Kosten sind untragbar! Schließlich ist der Weihnachtsmann nur einmal im Jahr einsetzbar! Selbst wenn ich die Aufwendungen über die Nutzungsdauer von Santa Claus verteile, ergibt sich bei einer Wiederauferstehung ein negativer Deckungsbeitrag. Nur über meine Leiche …!"
"Reiz mich nicht!", sagte der Über-Allem-Thronende lakonisch.
"Amortisieren sich die Kosten des Weihnachtsfestes?", wollte Shorty wissen.
"Nein, Weihnachten reißt jedes Jahr ein Riesenloch in unseren Haushaltsplan. Ich ärgere mich immer Grün und Blau, wenn ich das Budget nach dem 24. Dezember betrachte. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer", jammerte der Finanzleiter. "Es wird immer schwieriger diese Lücke durch Rückstellungen auszugleichen."
"Wie sieht unser Deckungsgrad für Weihnachten aus?"
Diese Frage richtete sich an den Leiter der Controllingabteilung. "In Anbetracht des eingesetzten Kapitals sieht das Ergebnis trüb aus. Die Kinder freuen sich zwar über die Erfüllung ihrer Geschenkwünsche, aber deswegen gehen sie auch nicht in die Kirche. Sie sitzen lieber vor dem Computer, den wir ihnen besorgt haben und ballern auf irgendwelche Außerirdische."
"Die kleinen Bälger erhalten jedes Jahr von uns Geschenke …"
Alle blickten zum Konferenzleiter.
"Leute, sagt mir mal, wofür haben wir dieses Fest eigentlich ins Leben gerufen?"
Shorty ergriff sofort das Wort. "Weihnachten, das Fest der Liebe, der Familie, der Eintracht."
"Verschone mich mit der offiziellen Version. Wie war es damals wirklich?" Der Ordnungsliebende gab einen Seufzer von sich.
"Äh, Chef, das ist der Geburtstag deines Sohnes!"
Der Sich-Nur-Einmal-Vermehrer klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
"Argh, diesen Mistkerl hatte ich ganz vergessen! Jetzt weiß ich, weswegen diese Kröte von einem Sohn die letzten paar Tage freundlich zu mir war. Der wartet auf Geburtstagsgeschenke!"
Jeder wusste, dass er dabei war, eine Entscheidung zu fällen. Und jeder wusste, dass alle diese Entscheidung akzeptieren würden, ungeachtet ihres Vetorechtes.
Der Weise wuchtete sich aus dem Sessel, nagte an seiner Unterlippe und blickte dabei jedem seiner Berater in die Augen. Shorty senkte so wie die anderen gehorsam den Blick.
"Scheiß auf Weihnachten! Das wird ab sofort ersatzlos gestrichen!" Mit diesen Worten wandte sich der Himmelsvater in Richtung des Wolkentür.
"Chef, warte!", rief Shorty.
Der Oberste Seligsprecher hielt inne und drehte sich langsam um. "Glück gehabt, dass es dir noch eingefallen ist! Es deckt sich mit meinen Gedanken. Ich gebe meinem nichtsnutzigen Sohn eine letzte Chance! Wenn er die vergeigt …" Ein Donnergrollen unterstrich die Drohung. "Shorty, du bist für seine Einschulung verantwortlich und danach soll dieser … dieser hormongesteuerte Halbaffe zeigen, ob er aus seinen Fehlern gelernt hat."
Sprachs und verließ endgültig den Konferenzraum. Die Abteilungsleiter lösten sich auf und materialisierten in ihren Wolkenbüros. Einzig Shorty blieb zurück und dachte ob der praktisch unlösbaren Aufgabe über einen Jobwechsel nach.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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