Der Weihnachtswohnwagen
© Katrin Ackermann
"Mama, brauchen die Schäfers eigentlich ihren Wohnwagen noch? Der steht schon seit 30 Jahren an ein und derselben Stelle hinter eurem Haus und gammelt vor sich hin."
Ich sitze bei meiner Mutter in der Küche, genauer: auf der warmen Nachtspeicherheizung, meinem Lieblingsplatz aus Kindertagen, und schaue aus dem Fenster. Was ich sehe ist die Weite Ostfrieslands, nur Felder ringsum, die mit Schnee bedeckt sind. Idyllisch wirkt das Mehrfamilienhaus in dem kleinen Ort Lütgenheide. Es ist friedlich hier. Meine Töchter Charlotte und Franziska spielen in meinem alten Kinderzimmer und ich trinke heißen Kakao.
"Ja, ich weiß nicht", sagt meine Mutter. "Warum interessiert dich das denn überhaupt?"
Sie ahnt nichts von meinem innigsten Wunsch, einen Wohnwagen für den Garten zu haben. Das verkörpert für mich den Inbegriff von Gemütlichkeit. Kein protziger Wintergarten, keine spießige Schrebergartenlaube, nein, ein alter Wohnwagen soll es sein, den ich dann nach meinem Geschmack innen und außen einrichten kann, als Zauberlaube sozusagen.
Wir überlegen hin und her, Franzi und Charlotte, schon hellhörig geworden, kommen aus dem Kinderzimmer heraus und zu viert schmieden wir bereits Pläne, wie und wo der Wohnwagen bei uns im Garten stehen soll, dabei ist noch nicht einmal geklärt, ob Schäfers den überhaupt verkaufen wollen. Und genau da liegt unser Problem: Wer fragt Schäfers? Ich bin weiß Gott nicht auf den Mund gefallen, verfüge über Zivilcourage, kann mich nahezu in jeden Menschen hineinversetzen und werde auch bei den anstrengendsten Gesprächspartnern
nicht ausfallend ... aber Schäfers fragen? Ganz schwierig.
Die Schäfers sind Brüder, beide haben zu gleichen Teilen das Vier-Familienhaus geerbt. Der "untere Schäfer" wie wir ihn liebevoll nennen, ist 65 Jahre alt und lebt im Parterre. Er übernimmt die hausfraulichen Pflichten und kocht jeden Mittag für sich und seinen Bruder. Der ist etwas älter, bewohnt das kleine Dachgeschoss (was uns dazu bewog ihn "oberer Schäfer" zu nennen) und kümmert sich um die Finanzen. Beide Brüder leben allein, sind extrem eigenbrötlerisch, wortkarg und teilen gemeinsam
ihre Vorliebe für Westernfilme, was sie gerne auch nach außen demonstrieren.
So sieht man sie durch den Garten stapfen, mit großen, ledernen Cowboyhüten und die Sporen der original nachgemachten Stiefel lassen sie lässig gegen die Hühnerställe klackern. Die John Waynes von Ostfriesland haben alles im Griff!!!
Seit 30 Jahren lebt meine Mutter nun schon in diesem Haus und weder der eine, noch der andere Schäfer hat es bis heute geschafft "Guten Morgen, Frau Brinkmann" zu sagen. Sie erwidern einen Gruß entweder gar nicht, oder mit unverständlichem Gebrabbel.
Auf der anderen Seite aber bedenken sie meine Mutter liebevoll mit Gemüse aus ihrem Garten, Eiern von ihren Hühnern oder Honig aus ihrer Hobby-Bienenzüchterei. Das geschieht dann folgendermaßen:
Klingeln.
Meine Mutter drückt den Türöffner, erschreckt sich jedes Mal zu Tode, weil einer der Schäfers bereits schon vor ihrer Wohnungstür steht, im Dunkeln natürlich, um Licht im Flur zu sparen.
Die Hand wird wie eine Baggerschaufel ausgefahren und das Gemüse abgelegt.
Meine Mutter bedankt sich herzlich.
Noch während des Bedankens geht Herr Schäfer wieder seines Weges.
Ja, so sind die Schäfers. Im Herzen wirklich gut, doch ansonsten äußerst gewöhnungsbedürftig.
Also, wer fragt Schäfers jetzt?
Meine Kinder machen schon Freudentänze und singen: "Jippieh, wir kriegen einen Wohnwagen!" Ich werfe eine Münze: Kopf oder Zahl. Meine Mutter schaut ganz zerknirscht ... gut, dann geh ich halt runter.
Mit all meinem Charme drücke ich auf die Klingel und frage ohne lange Umschweife: "Herr Schäfer, ich habe mich in Ihren Wohnwagen verliebt. Verkaufen Sie mir den?"
Noch ganz überwältigt von meinem Mut, überrascht mich seine prompte Antwort: "200 Euro".
Dann wieder eine dieser entsetzlichen Redepausen.
"Kann ich mir den mal von innen ansehen?"
"Weiß nicht, wo der Schlüssel ist."
"Ach so, dann komm ich später noch mal."
Oben an der Treppe wartet meine Mutter schon mit den Kindern (haben natürlich gelauscht). Wir schaffen es so gerade noch bis in die Wohnung, da prusten wir los vor Lachen.
Kurze Zeit später klingelt es.
"Hab den Schlüssel."
Wir haben alle ein bisschen Angst, dass der Wohnwagen von innen unheimlich stinkt, denn wenn man so lange nicht lüftet ...
"Schuhe ausziehen", raunzt Herr Schäfer auch schon.
Auf Socken klettern wir alle in dieses Ei von Wohnwagen und fünf Minuten später sitzen wir an einem kleinen Tisch und Herr Schäfer gerät ins Schwärmen ... wie er 1966 mit dem Wagen an der Ostsee war … und da hat er immer gesessen ... und dort hat er sich dann seinen Kaffee gekocht ... und so kann man aus dem Tisch und der Bank ein Bett bauen ... und da unten in dem Fach lag immer sein Cowboyhut ... und da oben hat er immer aus der Luke hinausgeguckt, da konnte ihn nämlich niemand von außen sehen. Herr Schäfer
lacht sich laut kaputt.
Es rührt mich, diesen stoffeligen Mann so in seinem Element zu sehen. Wie liebevoll und mit welcher Hingabe er seinen Wohnwagen beschreibt. Innen drin sieht es übrigens so aus, wie man eben in den 60-er Jahren Urlaub machte: großblumige Tapeten, schrecklich orangefarbene Gardinen, braune Bezüge.
Ich unterbreche wirklich nur ungern diesen unerwarteten Redeschwall, doch ich muss unbedingt wissen, wie ich dieses Teil heil nach Haus transportieren soll.
"Der fährt nicht mehr."
"Aha. Und jetzt?"
"Muss auf'n Hänger."
Ich bekomme das schon irgendwie geregelt, denke ich und gehe im Geiste die Autos unserer Freunde und Bekannten durch ... hatte nicht Bernd eine Anhängerkupplung, oder Gaby und Reinhardt?
Völlig zufrieden fahren wir an diesem Sonntag im Dezember wieder zurück nach Hause. Die Fahrt, sonst ellenlang, kommt uns ganz kurz vor, denn wir überlegen ununterbrochen, was wir aus unserem neu erworbenen Schatz alles zaubern werden.
Montagmorgen. Die Mädchen sind bereits in der Schule, da klingelt das Telefon.
"Mach Kaffee, wir kommen am Nachmittag."
Aufgelegt. Träum ich, oder war das gerade der untere Schäfer am Telefon, der mir sagen wollte, dass sie uns den Wohnwagen vorbeibringen?
Schon wieder das Telefon. Dieses Mal ist es meine Mutter, die mir erzählt, dass sie um sieben Uhr morgens von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt wurde. Da standen nämlich bereits beide Schäfers schon in Gummistiefeln mit Hochdruckreinigern vor dem Wohnwagen, um ihn auf Vordermann zu bringen.
Ich glaub das alles nicht.
Kaum sind Franziska und Charlotte aus der Schule, fahren wir in die Stadt, um ein Geschenk für die Schäfers zu besorgen. Nur was? Ich entscheide mich für eine kleine Kiste Wein, denn ich erinnere mich noch schwach, dass ich letztens bei denen vor dem Keller eine Menge leerer Weinflaschen gesehen habe.
Wieder zu Hause meint Franziska: "Wie wäre es, wenn wir jedem noch ein Kuscheltier schenken? Ein Schäfchen vielleicht? Das passt ja auch so gut zu ihrem Namen!"
Bevor ich etwas dazu sagen kann, ist sie bereits in ihrem Zimmer verschwunden um ein besonderes Schäfchen zu suchen, was Mäh sagt wenn man es auf den Bauch drückt. Ich bereite meine Mädchen schonend darauf vor, dass die Schäfers sich wahrscheinlich nicht bedanken werden, oder, was noch schlimmer sein könnte, in ihrer unbedarften Art vielleicht sogar etwas kränkendes sagen.
"Ist egal", meint Charlotte großzügig "im Herzen freuen sie sich bestimmt dann doch!!!"
Es ist so weit.
Um 16 Uhr rollt Schäfers Auto in unsere Straße. Ich erkenne sofort die riesigen Cowboyhüte hinter der Scheibe. Auf einem großen, breiten Anhänger ist der kleine Wohnwagen angeschnallt. Ich bin außer mir vor Freude und laufe ihnen entgegen.
"Danke liebe Schäfers. Wir freuen und so sehr! Herzlich willkommen im Rheinland." Meine ausgestreckte Hand wird nicht erwidert, stattdessen antwortet einer der beiden barsch: "So, umdrehen, wir müssen uns umziehen."
Schäfers in Unterhosen auf unsere Straße!!! Das kann nicht wahr sein.
Da müssen wir jetzt durch, ermahne ich mich selbst.
Mit Seilwinde und Hydraulikpumpe nähern wir uns dem Ziel.
Rührend, wie Schäfers sich bemühen, ganz pädagogisch meine Mädchen in die Arbeit einzuspannen: "Lütte, nu dreh, dreh, dreh!!! Mach voran!" Zu fünft lenken und schieben wir unseren neuen fahrbaren Untersatz zu seinem endgültigen Standplatz. Wunderbar!
Ich lade die Schäfers ein in unsere Küche zu kommen, aber sie wollen draußen Kaffeetrinken. ("Wieso rein? Wir sind immer draußen!") Mit dicken Jacken und Handschuhen sitzen wir im Dunkeln in unserem Garten, zitternd und bibbernd vor Kälte, wärmen uns an den heißen Kaffeetassen und lauschen Schäfers, die mich belehren, was ich in meinem Garten alles hätte besser machen können.
Zwischendurch muss ich mir immer wieder klar machen, in welch skurriler Zusammensetzung wir hier beisammen sind: Schäfers aus Ostfriesland, die ich gut 30 Jahre kenne, mit denen ich aber bis vorgestern keine zwei Sätze hintereinander gesprochen habe, sitzen nun bei mir im Garten, hinter uns ihr alter Wohnwagen, der jetzt mir gehört! Unglaublich!
Kaum ist der letzte Schluck Kaffee getrunken, geht es zum Aufbruch. Meine schöne Kiste Wein, geschmückt mit dicken roten Schleifen, wird wortlos im Kofferraum verstaut. Franziska und Charlotte kommen mit den Schäfchen.
"Hier, für euch!"
"Was sollen wir denn damit?"
"Ja lieb haben, was sonst?"
Meine Mädchen lassen sich durch die ablehnende Haltung nicht irritieren und nötigen Schäfers die Kuscheltiere quasi auf. Verständnisloses Kopfschütteln, aber ich beobachte ganz genau, wie der obere Schäfer sein kleines Schaf für einen winzigen Augenblick an sich drückt und es dann vorsichtig auf die Mittelkonsole seines Autos stellt. Sie winken nicht, sie sagen nicht tschüss, so sind sie halt, die Schäfers.
Bis Weihnachten basteln wir jede freie Minute an unserer Zauberlaube herum, verlegen einen kuscheligen Teppich, nähen neue, freundliche Bezüge und holen uns provisorisch Strom aus der Garage. Von außen bekommt unser Wohnwagen ungefähr 320 blaue Sterne aufgesprüht, innen strahlen viele kleine Lichterketten.
Dieses Jahr sitzen wir Heiligabend gemeinsam mit den Kindern in unserem "Traum aus blauen Sternen". Ein kleines Heizöfchen wärmt uns und ein Mini-Tannenbaum macht es weihnachtlich.
Mit Sekt und Apfelsaftschorle heben wir unsere Gläser: "Auf die Schäfers!"
Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.