Der eilige Abend
© Kerstin Langhoff
Mir blieb nur noch der Vormittag des 24. Dezember, um für das besondere Abendessen einzukaufen. An den Tagen zuvor hatte ich zu viel zu tun mit Plätzchen backen, mit den Kindern zu basteln und damit, die letzten Weihnachtsgeschenke zu kaufen und einzupacken.
Als ich früh morgens erwachte, zeigte sich das Hamburger Wetter von seiner ungemütlichen dunklen Seite. Doch unser einjähriger Sohn war hellwach und turnte auf mir herum, so dass jeder Versuch, noch weiter zu dösen, fehlschlug. Halb verschlafen trottete ich in die Küche. Ich machte ihm einen Haferbrei zur Beruhigung und mir einen schwarzen Kaffee um munter zu werden. Kurz darauf patschte meine Dreijährige mit halb herunterhängender Schlafanzughose barfuß über die Küchenfließen zum Kühlschrank. "Ich will
einen Joghurt, Mama." Konnte man am Morgen nicht eine ruhige Minute haben um sich halbwegs auf den Tag einzustellen? Die Ansprüche meiner Kleinen überfielen mich wie eine kalte Dusche.
"Ich muss noch schnell zur Toilette, dann bekommst du deinen Joghurt". Ich schloss die Türe zum WC.
"Mama, ich will aber Joghurt, jetzt, bitttteeee."
Dann ein lautes Klirren.
"Was ist denn jetzt passiert!"
Im Rennen zog ich meine Hose hoch.
"Mamaaaaa!", meine Tochter Leonie schrie, ihr kleiner Bruder Lenard schloss sich an.
"Wegbleiben Kinder! Leonie, Du bleibst hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck. Hier sind lauter Scherben!"
Dann hob ich Lenard zur Sicherheit ins Laufgitter.
"Mama nass, Mama neue Hose, Maaaama".
An Leonie klebte der überteuerte Vitamin-Saft aus dem Kühlschrank. Sie stand wie eine Skulptur auf ihrem Fleck und schluchzte, während ich mühsam die honigartige Flüssigkeit vom Boden wischte, einzelne Scherben auflas und dann den Staubsauger herbeizerrte.
"Wwwäää …" Lenard brüllte ununterbrochen aus dem Laufstall.
Nachdem ich den letzten Winkel nach Scherben abgesucht hatte, durfte der tränenüberflutete kleine Mann wieder in die Freiheit.
Da ich die bockige Reaktion meiner Dreijährigen fürchtete, versuchte ich meinen weiteren Tagesplan so schmackhaft wie möglich zu machen: "Leonie, wir ziehen uns jetzt an, dann isst du Ddeinen Joghurt und dann kaufen wir ein, okay?"
"Nee, ich will spielen!"
Damit hatte ich gerechnet. Jetzt half nur die einzige unschlagbare Waffe:"Leonie, wenn du mitkommst, gibt es auch eine kleine Schokolade ...".
"Schokilade..., okay."
Warum war so eine kleine braune Leckerei effektiver als meine Überzeugungsgabe? Ich war frustriert.
Mittlerweile hatte sich Lenard davongeschlichen.
"Wo ist Lenard, Leonie hast du Lenard gesehen?"
Leonie schüttelte den Kopf.
Eine Vermutung trieb mich ins Bad.
"Oh je Lenard was machst du denn da? Lenard, nein, nicht die ganze Rolle....".
Er hatte das Toilettenpapier abgewickelt und eine große Menge davon in die Kloschüssel gestopft. Ich drückte auf die Spülung. Das Wasser stieg. "Nun mach schon", murmelte ich. Ein überflutetes Badezimmer hätte mir gerade noch gefehlt. Lenard gluckste beim Anblick des anschwellenden Wassers. Kurz vor dem Überlaufen flutschte es ebbeartig zurück ins Kanalisationsrohr. "Ein Glück", ich seufzte.
"Ich will Schokilade". Leonies Protest wurde jetzt stärker.
"Ja, du bekommst deine Schokolade, hol doch schon einmal deine Jacke, wir ziehen uns an und los."
Dann fiel mein Blick auf die Wohnungstür. "Leonie, hast du meinen Schlüssel gesehen?" Ich hatte sie schon häufig dabei ertappt, dass sie den Schlüssel vom Türschloss abzog.
"Mama, Lenard hat den Schlüssel", schoss es aus ihr heraus.
"Lenard?"
Ich schaute sie entsetzt an. Konnte es sein, dass er ihn vielleicht in die Toilette geschmissen hatte? Es wäre nicht das erste Mal, dass er Kleinteile ins Klo schmiss. Und dieser Schlüssel bestand nur aus drei Teilen. Ich hatte ihn gerade abgespeckt, weil er meine Jeans so ausbeulte. Er war also klein genug, um jetzt mit der Klopapierfüllung zur Kläranlage zu treiben. Lenard saß wie ein kleiner Seehund auf seinen Knien und lächelte mich zuckersüß an.
Er konnte mir nicht weiterhelfen. Meine Dreijährige war da schon weiter.
"Leonie, hat Lenard denn heute mit dem Schlüssel gespielt? Hast du das gesehen?" Ich beugte mich auf ihre Augenhöhe hinunter und schaute sie durchdringend an.
"Ja, Mama, Lenard hat den Schlüssel."
"Und wer hat den Schlüssel aus dem Türschloss gezogen?"
"Ich", antwortete sie leise. "Mama, ich wollte Schokilade."
"Ja Leonie, aber ohne den Schlüssel kann ich nicht aus dem Haus und Papa kommt erst nach Ladenschluss von einer Geschäftsreise wieder." Im gleichen Atemzug erinnerte ich mich daran, dass die Krauses, bei denen wir den Ersatzschlüssel deponiert hatten, gestern nach St. Moritz gereist waren.
"Okay Kinder, dann müssen wir den Schlüssel eben suchen. Leonie, du kannst deine Jacke wieder ausziehen und mir dabei helfen." Ich versuchte meine Stimme trotz innerer Anspannung unten zu behalten.
Das Spielzimmer schwelgte im absoluten Chaos. Ähnlich fühlte ich mich: Die Zeit drängte, ich wusste nicht wo ich suchen sollte und hatte dazu auch keine Lust. Trotzdem suchte ich in sämtlichen Kisten und Schränken nach dem Schlüssel, fand stattdessen aber nur lang vermisste Puzzleteile wieder. Eine halbe Stunde später sackte ich mies gelaunt und verzweifelt auf den Boden.
Wahrscheinlich war der Schlüssel tatsächlich mit der Klospülung verschwunden. Meine Kinder hatten währenddessen den Küchenschrank mit den Pfannen und Töpfen geleert.
"Dingdong."
"Hallo..?"
"Wärrbung?", rauschte es durch die Sprechanlage.
Ich drückte den Knopf für die Haustür und ließ den Boten zu den Briefkästen im Erdgeschoss. Fünf Stockwerke trennten uns von den Briefkästen, aber ich war so neugierig auf die Weihnachtspost, dass ich unseren Kleinen auf den Arm nahm und Leonie an die Hand. Leonies "Moon Boot" klemmte ich zwischen die Tür. Gemeinsam ging es an den Treppenabstieg.
Leonie verabschiedete sich nach der zweiten Treppe, blieb sitzen und maulte. "Mama, ich will nicht mehr."
"Okay, dann bleib hier sitzen, ich komme gleich wieder hoch."
Als ich die Post herausnahm, hörte ich einen lauten: "Rumps". Eine Tür war ins Schloss gefallen. "Nein!" Mit Lenard auf den Armen hechtete ich die Treppen hoch. Leonie saß noch auf der Stufe.
Unser Nachbar, Herr Pfeiffer, kam uns freundlich grüßend entgegen. "Gott sei Dank! Es war die Tür des Nachbarn", schnaufte ich.
In der Wohnung ging ich die Post durch. Dabei fiel mein Blick auf die Werbung: Zala, ein indisches Restaurant in der Nähe warb dafür, auch am Heiligen Abend auszuliefern.
"Mama, das will ich essen". Leonie schaute mir über die Schulter und zeigte auf ein köstliches Foto mit Reis und gebrannten Mandelscheiben.
"Tja Leonie, warum eigentlich nicht?" Ich lächelte sie an. Den Einkauf konnte ich mir sowieso abschreiben. Kurzerhand tauschte ich meinen Stress in ein einziges Telefonat beim Lieferservice um.
Als am späten Nachmittag mein Mann nach Hause kam, stand der Weihnachtsbaum im vollen Glanz, und wir machten uns wenig später begeistert über die verschiedenen indischen Spezialitäten her: die Pakoras, die Tandoori Scampi, das Lamm Curry und das Mango Lassi. Leonies Gesicht strahlte beim Anblick des Reis mit den Mandelscheiben und das beginnende Schneetreiben am Fenster ließ sie vor Freude glucksen. Während des Essens krabbelte Lenard ins Arbeitszimmer. Als ich kurz darauf nach ihm schaute, saß er da, blickte
mich mit einer engelsgleichen Unschuldsmiene an und hielt mir den vermissten Schlüssel entgegen.
"Du kleiner Frechdachs", stieß ich hervor und lachte.
Lenard hatte mit der Bescherung begonnen. Er hatte mir auf seine Weise den Kochstress abgenommen.
Seit dem klopft der Lieferservice jedes Jahr am Heiligen Abend an unsere Tür - Gans und Stress müssen seither draußen bleiben.
Eingereicht am 15. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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