Adventsmärchen
© Joana Angelides
Das Schneegestöber ist so dicht, dass man keine zwei Meter weit sieht. Die Geräusche werden verschluckt und die Schneeflocken erzeugen dichte Schleier, undurchdringlich für das Auge.
Wie weit ist es wohl noch bis zum Haus der alten Norma? Normalerweise ist es von der Straße bis zum Haus ca. dreißig Meter, heute scheint die Entfernung hundert Meter zu betragen.
Der Doktor hatte den Wagen am anderen Ende der Brücke des kleinen Flüsschens am Straßenrand stehen lassen und kämpfte sich über die Brücke und die wenigen Meter zum Haus von Norma vor. Er kneift die Augen zusammen und zieht den Kragen seines Mantels höher hinauf. Ist dort nicht ein Licht?
Er geht darauf zu, es löst sich vor ihm wieder auf, nun ist es mehr rechts, scheint dunkler zu werden, flackert. Irgendwoher hörte man Tuten von Schiffen. Das ist unerklärlich, hier gibt es keine Schiffe.
Er geht weiter, ins Ungewisse hinein, mit vorgestrecktem rechten Arm, die Arzttasche in der linken Hand fest umklammert.
Aus der Schneewand taucht eine Hand auf, die sich ihm entgegenstreckt. Erleichtert greift er danach. Seine Hand wird ergriffen, fest und hart. Nur mit Mühe kann er eine Gestalt vor sich sehen, die Umrisse verschwommen, in dieser undurchsichtigen weißen Wand erscheint diese Gestalt groß und bullig, mit breitem Rücken. Er hat Mühe ihr zu folgen, stolpert mehr als er geht. Rund um ihn herum sind die Geräusche von gluckerndem Moor, gestört auffliegenden Vögeln, knackenden Ästen und heiseren Schreien von Käuzen zu
hören. Ist da nicht das Anschlagen von Wellen an einer Uferbefestigung zu hören? Schleier von herabhängenden Schlingpflanzen schlagen ihm ins Gesicht. Seine Gedanken, Gefühle überschlagen sich. Diese Geräusche erscheinen ihm völlig fremd. Langsam fühlt er Kälte in sich aufsteigen, sich bis in die Fingerspitzen verbreitend und sein Herz wird durch einen kalten Ring fest umschlossen. Es ist das Gefühl der Angst.
Instinktiv wollte er sich aus dem Griff dieser ihn hinter sich herziehenden Gestalt befreien, konnte es jedoch nicht. Der Griff war hart und fest, unlösbar mit ihm verbunden.
Das Schneegestöber macht es unmöglich weiter als drei Meter zu sehen, es lösen sich Schatten auf und verschwinden. Stimmen sind zu hören, entfernt, dann wieder nah. Es ist unverständlich, hier kann es überhaupt keine anderen Menschen geben. Das Haus der alten Norma steht am Rande des Dorfes, umgeben von Wald, am Ufer dieses kleinen Flüsschens. Sie lebt völlig alleine und zurück gezogen. Nur ein Haus steht noch etwas abseits, ebenfalls am Rande des Waldes. Es ist ein ehemaliges Köhlerhaus, in dem hin und wieder
jemand wohnt. Es ist ein alter groß gewachsener Mann, der sich ein wenig um Norma kümmert. Ihr das Holz für den Herd hackt und Reparaturen am Haus durchführt, außer dem Doktor kennt ihn niemand näher. Er kommt nur selten ins Dorf und wenn, dann nur zum Einkaufen.
Der heutige Besuch ist der wöchentliche Routinebesuch als Normas Hausarzt, es fehlen noch zwei Tage zu Heiligabend.
Nun stand er vor einem schmalen Steg, schmal und schwankend. Er wurde von dieser dunklen Gestalt erbarmungslos mitgezogen, es gluckert unter ihm. Das Wasser schlägt an die Planken des spärlich beleuchteten Schiffes vor ihm. Eine Laterne schwankt hin und her. Hier auf dem Wasser ist die Schneewand nicht so dicht. Sie sind nun am Ende des Steges angekommen und stolpern auf das Schiff. Der Doktor wird nun in eine Luke gedrängt, die Treppe hinunter gestoßen und steht in einer Kajüte.
Die Luft ist muffig und abgestanden, alles ist primitiv und ärmlich. Auf einem Bett liegt eine Frauengestalt und windet sich. Sie stöhnt und ist schweißgebadet. Das Haar klebt ihr im Gesicht, verhüllt es fast vollständig. Ein ovales Medaillon hängt an einer dünnen goldenen Kette an ihrem Hals
Er dreht sich um und kann zum ersten Mal diese unheimliche Gestalt, die ihn hergebracht hat, im Licht sehen. Der Mann starrt ihn an, seine Augen sind rot unterlaufen, eine Narbe verläuft quer über sein Gesicht. Eine Seemannskappe verdeckt wirres, schwarzes Haar. Ein heiserer Ton kommt aus seiner Kehle und er deutet herrisch auf das Bett.
Die Frau liegt unübersehbar in den Wehen. Der Doktor packt sofort seine Tasche aus, schlüpfe aus seinem Mantel und seiner Jacke und herrscht den Mann an, ihm heißes Wasser zu besorgen. Dieser schaut wirr um sich. Na ja, heißes Wasser ist zwar da, aber viel zu wenig. Der Doktor beugt sich nun über die Frau. Es war höchste Zeit, hier einzugreifen.
Dann wurde ein Menschenleben geboren, ein kleines Mädchen, unter den ungünstigsten Bedingungen. Trotz verzweifelter Anstrengung konnte er das Leben der Mutter jedoch nicht retten.
Das Weinen des Kindes war so schwach, dass man es kaum hören konnte. Der Mann wickelte es in das Leintuch ein und drückte es an sich. Ein unmenschlicher Laut kam aus seinem Munde
Das Schiff schwankte plötzlich, der Boden schien nachzugeben, der Doktor musste sich anhalten und verlor das Gleichgewicht, er stürzte hin.
"Ja, um Gottes willen, Herr Doktor!" Die Stimme kam ihm bekannt vor. Es war der Nachbar der alten Norma.
"Ja, was ist passiert?" Er konnte noch immer fast Nichts sehen.
"Sie sind gestürzt, ich war gerade auf dem Weg zur alten Norma um nach der Heizung zu sehen und da lagen Sie. Sie sind ja ganz durchnässt und haben auch noch den Mantel ausgezogen!"
"Was ist mit dem Baby?"
"Welches Baby? Hier ist kein Baby, Herr Doktor. Kommen Sie, wir gehen zusammen. Bei diesem Wetter sieht man ja gar nichts."
Er hatte eine Laterne bei sich und nahm den Doktor mit einem festen Griff bei der Hand und zog ihn hinter sich her. Er hatte einen breiten kräftigen Rücken und ging unbeirrbar Richtung des Hauses.
Sie wurden von Norma bereits erwartet. Sie war schon sehr alt und gebrechlich, der Besuch des Arztes freute sie immer sehr. Es war die einzige Abwechslung für sie. Sie hatte keine Familie, ihre Tochter war vor vielen Jahren weggegangen und in der Ferne gestorben, dann auch ihr Mann. Sie hatte nie mehr etwas von ihr gehört.
Doch heute schien sie irgendwie fröhlich, ja sogar glücklich zu sein.
Sie saß in ihrem Lehnstuhl schwenkte ein Blatt Papier in ihrer Hand.
"Ich habe eine Enkelin, ich habe eine Enkelin!" Rief sie und Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Und dann erzählte sie. Sie bekam diesen Brief vor zwei Tagen. Er war von ihrer Enkelin, von der sie nie etwas gehört hatte. Diese Enkelin hatte sie viele Jahre gesucht und nun endlich gefunden.
"Sie schreibt, sie ist in einer Nebelnacht, kurz vor Weihnachten auf einem Flussschiff geboren worden, ihre Mutter, meine Tochter, verstarb bei der Geburt. Sie wurde vom Kapitän des Schiffes großgezogen. Ach, ein Weihnachtswunder!" Sie drückte den Brief an ihre Lippen und Tränen rannen ihr über die welken Wangen. Dem Brief beigelegt war ein kleines ovales Medaillon, mit einem vergilbten Bild darin. Es war das Bild von Norma und ihrem Mann.
Er musste sich setzen, Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Wie war das möglich? Hatte hier eine Zeitverschiebung stattgefunden?
Er wird dieses Geheimnis nie lösen.
Norma hatte den Tisch gedeckt, in der Mitte stand ein Adventskranz, alle vier Kerzen brannten und ein kleiner Teller mit Keksen stand daneben.
Sie blickte in die Flammen und begann ein altes Weihnachtslied zu summen und schaukelte in ihrem Stuhl langsam hin und her. Im Kamin knisterte das Feuer und verbreitete angenehme Wärme.
Er trank von dem duftenden Tee aus dem Kessel und nahm schweigend ein paar Kekse.
Der Doktor verzichtete heute auf eine Untersuchung, nahm seinen Mantel und ging gemeinsam mit dem Alten hinaus.
Dieser leuchtete ihm den Weg aus und begleitete ihm bis zur Brücke.
"Ein frohes Weihnachtsfest, Herr Doktor!" Dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Eingereicht am 03. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
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