Amira die Strickprinzessin
© Annemarie Knopf
Gregor war wie jeden Tag in den Wald geschickt worden, um Feuerholz zu holen.
Er lebte mit seinen Eltern am Rande des Zauberwaldes, sie waren arm, seine Mutter war schon lange Zeit krank, sie konnte das Haus nicht mehr verlassen, sie hatte Rheumatismus in allen Gelenken, konnte nur noch am Stock gehen und musste die meiste Zeit das Bett hüten.
Gregors Vater arbeitete als Bergmann im Kohlebergwerk, das war eine sehr schwere Arbeit, er musste im Bauch des Berges nach Kohle graben und das Tag für Tag, es war sehr mühsam, es gab nur Kerzenlicht, und es war eisigkalt.
Wenn Vater nach Hause kam, war er immer sehr müde, das Tageslicht sah er niemals mehr, denn wenn er morgens aus dem Haus ging war es noch dunkel, im Berg war es dunkel und wenn er abends nach Hause kam, dann war es schon wieder dunkel.
Sein Vater verdiente nur ein paar silberne Taler, die reichten nur um das Nötigste zum Überleben zu kaufen.
Viel Geld brauchten sie für Medikamente, denn nicht nur die Mutter, nein, auch der Vater war krank, er hatte eine "Staublunge" so sagte der Doktor, das käme vom Kohlestaub, den Vater Tag für Tag und Jahr für Jahr einatmete und deshalb musste Vater immer sehr sehr viel husten. Tag und Nacht.
Gregor war ein sehr fröhlicher Junge, er pfiff meistens ein Liedchen vor sich hin, wenn er zum Holzholen in den Wald ging.
Er liebte den Wald, den Zauberwald, er kannte alle Tiere mit Namen, sie kamen immer und hielten ein Schwätzchen mit ihm, er kannte jeden Baum, jede Blume, jeden Stein, alle Wege im Zauberwald waren ihm vertraut, denn er musste ja täglich Holz holen gehen. Der Wald hieß Zauberwald, weil man sich erzählte, ganz ganz tief drinnen im Wald, da wo nie niemals ein Mensch hinkam, da wäre ein Schloss, das hätte ein Dach aus tausend Goldstücken und an den Wänden wären rote, blaue und grüne Edelsteine.
Noch nie hatte ein Mensch das Märchenschloss gesehen, man erzählte sich nur immer, dass da ein König mit seiner kleinen Tochter Amira wohne.
Amira die Strickprinzessin so nannten sie die Menschen im Dorf.
Amira hatte ein einziges Hobby und das war das Stricken. Wo immer sie geht oder steht, sie hat immer zwei goldene Stricknadeln bei sich und strickt.
Sie liebte bunte Wolle, denn Gregor fand bei seiner täglichen Feuerholzsuche immer wieder Wollreste, die die Prinzessin verloren hatte, mal waren sie rot oder gelb, mal grün oder weiß. Gestern fand er einen kleinen Knäuel weiße Wolle. Der kleine Junge hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diese kleinen Wollknäuel und Reste immer aufzusammeln und mit nach Hause zu nehmen.
Seine Mutter lachte ihn schon immer aus, wenn er kam, denn er legte die Wollfäden immer sehr sorgfältig in eine kleine Holzschatulle und sammelte sie.
Leider hatten seine Eltern kein Geld um Stricknadeln zu kaufen, aber auch mit dem Rheumatismus in den Fingern hätte seine Mutter die Wolle nicht verwerten können.
Und so sammelte sich Tag für Tag immer wieder neue Wolle im Holzkästlchen an, ein ganzer Berg bunter Wolle lag da nun schon drinnen.
Jetzt im Winter wo es so bitterkalt war und der Schnee viele Zentimeter hoch lag, so dass Gregor nur mühsam vorankam, da war es schon eine schwierige Aufgabe, täglich Feuerholz zu suchen.
Die Äste und Zweige lagen alle unter einer dicken Schneedecke versteckt und er freute sich immer, wenn irgendwo ein kleines Zweiglein hervorlugte, er zog dann daran, und manchmal kam dann ein dicker Ast unter dem Schneeteppich hervor.
Dann reichte es schon wieder für einen Tag, um die kleine Holzhütte zu wärmen und um das Feuer für einen Topf Suppe zu schüren.
Heute aber, da pfiff Gregor nicht vor sich hin, nein, heute war er tief in Gedanken versunken, der kleine Junge wusste, dass heute Weihnachten ist, das Fest der Liebe und Freude, aber für ihn würde es ein Tag wie jeder andere sein.
Seine Eltern hatten keinen Taler übrig, um ihm irgendwelche Geschenke zu kaufen, auch er hatte nichts, womit er seinen Eltern eine Freude hätte machen können.
So betrübt und in sich versunken ging er immer tiefer in den Zauberwald hinein, nein, heute hatte er auch kein Glück mit dem Holz. Er fand und fand heute nichts.
Langsam wurde es schon dunkel und mit leeren Händen wollte er nicht nach Hause gehen, denn wenigstens Licht und Wärme sollte doch an Weihnachten in dem kleinen Häuschen sein.
Und so stapfte Gregor weiter und weiter und immer tiefer und tiefer in den Wald hinein.
"Huch", rief er überraschend aus, platsch macht es und Gregor lag der Länge nach im Schnee.
Überrascht und verwundert rappelte er sich auf und sah sich nach dem Stolperstein um.
Es lag kein Stein auf dem Weg, dann muss es ein Ast gewesen sein, grübelte er und gleichzeitig fiel sein Blick auf etwas Rotes.
"Was ist denn das", brummelte er vor sich hin.
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Ach ja, heute hatte er ja noch nicht mal einen Wollfaden von Amira gefunden.
Direkt vor sich sah er nun einen roten Wollfaden, aber komischerweise lag der heute nicht nur so da und wartete darauf aufgewickelt zu werden so wie sonst, es war auch kein kleines Knäuel, so wie das oft der Fall war, nein, heute war ein roter Wollfaden ganz unten durch den Schnee verdeckt um den Baumstamm gebunden.
Gregor bückte sich und entfernte den Schnee vom Stamm und sah, dass der rote Faden kein Ende hatte, nein er war um diesen Stamm gebunden und er spannte sich weiter zum nächsten Baumstamm, Gregor riss den Faden ab und begann ihn aufzuwickeln. Er wickelte den roten Faden zu einem Knäuel und so ging es weiter von Baum zu Baum, manchmal war er an einem kleinen Zweig festgebunden, manchmal um einen dicken Ast gewickelt.
Jetzt war die Neugierde von Gregor geweckt, er wollte unbedingt wissen, wohin dieser rote Faden führte.
Das Wollknäuel in seiner Hand wurde immer dicker und dicker.
Immer weiter und weiter war die Wollspur gelegt und Gregor folgte ihr und wickelte und wickelte.
Inzwischen war es stockdunkel, nur durch den Schein des Vollmondes konnte sich Georg noch ein wenig orientieren.
Seine Finger waren von der eisigen Kälte schon ganz steif gefroren, es machte ihm Mühe, den roten Faden noch weiterzuwickeln. Seine Ohren schmerzten, die Kälte stach wie mit eintausend Nadeln in seinen kleinen Körper.
Gregor war müde und hungrig, aber er stapfte tapfer weiter durch den Schnee, immer weiter und weiter, und er wickelte den roten Faden auf, inzwischen hatte er schon einen ganz dicken roten Wollknäuel, den er kaum noch tragen konnte, denn er war so dick und rund wie ein Fußball.
Alles, alles war nun mühselig und die Kräfte verließen den kleinen Jungen, mehr und mehr.
Er konnte nun keinen Schritt mehr weitergehen.
Der rote Wollknäuel fiel ihm aus den Händen und begann den Berg hinabzurollen.
Gregor wollte sich bücken, den Wollball wieder aufheben, oder ihm nachrennen, aber er war zu schwach, er fiel vor Erschöpfung in den Schnee, der Schnee war angenehm weich und der Junge wollte nur noch schlafen, schlafen, schlafen ...
"Juchhuuuu", hörte er wie durch eine Wolkenwand eine helle Mädchenstimme rufen, "juchhuuu meine rote Lieblingswolle ist wieder da, juchhuuu, jetzt kann Weihnachten kommen, juchhhuuuu!!!"
Gregor merkte, wie er von zwei starken Armen emporgehoben wurde, er konnte seine Augen nicht öffnen, die Erschöpfung war zu groß.
Ein leises, fernes Singen hörte er, ganz fest hielt Gregor seine Augen verschlossen, denn diesen Traum wollte er weiterträumen, der war so wunderschön, der sollte nie aufhören. Die herrlichsten Töne kamen immer näher und näher und Gregor wurde es warm ums Herz, es war ein wunderschönes Weihnachtslied, das da gesungen wurde, er kannte es, auch seine Mutter sang dieses Lied jedes Jahr an Weihnachten immer und immer wieder mit ihm, denn es gefiel ihm so gut und er konnte es nicht oft genug hören.
Nun war das Singen ganz laut, es schien hier in diesem Zimmer zu sein, es waren zwei Stimmen, die sangen.
Plötzlich merkte er auch, wie mollig warm es im Zimmer war, er schien in einem großen weichen Bett zu liegen, in ein herrlich weiches Daunenkissen versunken, auch stieg ihm plötzlich ein wunderbarer Duft in die Nase.
"Bratäpfel", durchzuckte es ihn und endlich, endlich traute er sich, seine Augen aufzuschlagen.
Sofort machte er sie wieder zu. "Ich träume mit offnen Augen", murmelte Gregor vor sich hin, ganz, ganz langsam spitzte er unter einem Lid hervor, was er sah, machte ihn sprachlos.
Nun riss er beide Augen auf und gleichzeitig setzte er sich in seinem Kuschelbett auf.
Vor sich sah er den wunderherrlichschönsten Weihnachtsbaum, den er je in seinem Leben gesehen hatte.
Er war geschmückt mit roten brennenden Kerzen und kleinen silbernen Glöckchen.
Nun erst drehte er seinen Kopf und sah nach, wer denn da so schön sein Lieblingsweihnachtslied sang.
An einem Tisch saßen seine Mutter und ein wunderwunderschönes Mädchen.
"Das muss eine Prinzessin sein", flüsterte Gregor leise vor sich hin, und schlagartig fiel ihm Amira ein.
Nun erst bemerkte er, womit sich die beiden Frauen beim Singen beschäftigten.
Sein dicker roter Wollknäuel, den er stundenlang aufgewickelt hatte, der war nun nur noch ein klitzekleiner Ping-Pong-Ball.
Der Tisch war übersät mit kleinen roten Schleifen und Herzchen.
Amira und seine Mutter strickten beide ganz fleißig an diesem wunderschönen, außergewöhnlichen Weihnachtsbaumschmuck.
"Uups!", erschrak sich Gregor, denn der kleine Tennisballrest aus roter Wolle landete direkt in seinem Gesicht!
"Steh auf, du Faulpelz, und hilf uns die Schleifchen und Herzchen an dem Baum zu befestigen!", rief ihm Amira zu.
Lachend sprang Gregor aus dem Bett, sang lauthals das schöne Weihnachtslied mit, schnappte sich eine Handvoll Herzchen und Schleifchen und verteilte sie auf dem Christbaum.
Nun bemerkte er auch, dass an den Wänden goldene Teppiche und herrliche Bilder aus Edelsteinen hingen.
Auf einem kleinen, schwarzen Edelholztischchen stand ein goldener Teller mit einem herrlich duftenden Bratapfel darin.
Überall sah er Kostbarkeiten und ganz langsam wurde ihm klar, dass er sich in einem Schloss befand, im Zauberschloss.
Leise ging die Tür auf und sein Vater und der König kamen mit einem Arm voll schön verpackter Geschenke herein.
Jeder wurde mit etwas ganz Persönlichem beschenkt, Gregor bekam ganz große Kulleraugen und staunte nicht schlecht, als er das Papier entfernte, es waren kunterbunte extra für ihn gestrickte Wollhandschuhe, eine passende Mütze und einen wunderschönen bunten kuscheligen Schal dazu.
Irgendwie kamen ihm die Farben bekannt vor, er grübelte und überlegte, woran ihn das wohl erinnerte … wo er die Wolle wohl schon mal gesehen haben könnte ...
Amira half ihm auf den Sprung.
"Deine Eltern haben all die Wollreste und kleinen Knäuel, die du immer im Zauberwald gesammelt und in der Schatulle aufbewahrt hast, mitgebracht, und ich habe diese Dinge dann für dich daraus gestrickt! Nicht umsonst nennt man mich Amira, die Strickprinzessin!"
"Das ist das schönste Weihnachten meines Lebens", rief Gregor und stürmte auf Amira zu um sie ganz fest zu umarmen.
Eingereicht am 25. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
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