Dinge, die nicht zu Weihnachten passieren sollten
© Gudrun Vogler
Gestresst von diesem ganzen Weihnachtstrubel verstaue ich die letzten Lebensmittel in meinen Taschen und schiebe den Einkaufskorb nach draußen. Es hat zu schneien begonnen, auch das noch.
Der Korb wird mir regelrecht aus den Händen gerissen, kaum dass ich die Taschen hochnehmen kann, es hat sich eine Schlange von sieben Leuten gebildet, die auf einen Korb warten. Habe die denn alle kein Zuhause? Am 23. Dezember sollte man doch mit seiner Familie den Weihnachtsbaum schmücken und besinnlich sein, aber da dieses Jahr der 24. auf einen Sonntag fällt, kaufen die Menschen ein, als gäbe es kein Morgen. Tut es ja auch nicht am Sonntag in einer Konsumgesellschaft.
Ich selbst bin ja bloß noch mal kurz losgegangen um ein bisschen was für meinen Vater einzukaufen. Brillenputztücher, Rotkohl mit Apfel (meinen mag er nämlich nicht) und ein bestimmtes Deo. Ich hebe mich von den anderen ab. Ich bin nicht so konsumgeil wie ihr! Aber ich muss meinem Vater doch helfen und wenn für ihn die Glückseligkeit von einer bestimmten Marke eines Deodorants abhängt, dann besorge ich es ihm, denn er kann es nicht mehr. Nach seinem Schlaganfall im Sommer kann er gar nichts mehr. Und das nervt
ihn und deshalb nervt er mich.
Aber ich will mich nicht beklagen, wenigstens habe ich ihn noch.
Ich hätte ihn ja auch verlieren können.
An der Ecke vor einem kleinen Laden sitzt ein junger Mann. Ich muss an ihm vorbeigehen und spüre dieses kleine nagende Schuldgefühl, das mich dazu veranlasst, ihm zwei Euro in seine schäbige Schirmmütze zu legen, die er neben sich auf den eiskalten Boden, hinter das Schild "Ich bin obdachlos!" gelegt hat.
Der Mann schaut auf und bedankt sich bei mir. Sein Blick schießt mir bis ins tiefste Knochenmark.
Er sieht gut aus, nicht versoffen oder so. Intelligent und offen und ich frage mich, warum er hier sitzt. Ich wünsche ihm alles Gute und suche das Weite, damit er nicht sieht, dass ich zu Weinen beginne.
Ich mache mir Vorwürfe.
Wie kann ich mich, wie ich es so oft tue, über mein Leben beschweren.
Ich sollte dankbar sein, für das was ich habe.
Ich habe eine Wohnung, sie ist nicht besonders schön oder luxuriös eingerichtet, aber es sind meine drei Zimmer, die ich mir jetzt mit meinem Vater teile.
Ich habe einen Job, der mir zwar keinen Spaß macht, aber Arbeit zu haben, ist in der heutigen Zeit mehr wert als alles andere.
Ich habe zwar keinen Freund mehr, denn Arno ging, als ich darauf bestand, dass Vater bei uns einzieht, aber er war nicht viel wert, wenn er das nicht akzeptierte.
Ich habe eine liebevolle Schwester, die zwar nicht viel Zeit, aber viel Geduld mit mir hat.
Wenn ich bedenke, dass ich bis zu diesem Jahr gar keinen Kontakt mehr mit meiner Familie hatte.
Mamas Tod vor vier Jahren hat uns nicht direkt auseinander gerissen, aber sie war stets der Punkt gewesen, der die Familie zusammenhielt.
Als sie an Krebs starb, hatten wir keinen Grund mehr, uns drei Mal im Jahr zu sehen und uns aneinander zu erfreuen, oder wenigstens zu heucheln, dass es so ist.
Und dann kam Lisas Anruf. Ich hatte meine Schwester nie so aufgeregt gehört, und als sie mir von Vaters Schlaganfall berichtete, spürte ich diesen tiefen Schmerz.
Warum muss man immer erst Gefahr laufen, jemanden zu verlieren um ihn zu schätzen?
Und warum merkte ich erst so spät, dass mir Weihnachten mit der Familie fehlen würde?
Aber er konnte ja gerettet werden und ich bin dankbar dafür.
Es ist das erste Weihnachtsfest seit vier Jahren zu dem ich mir einen Weihnachtsbaum gekauft und die Wohnung geschmückt habe.
Und obwohl ich nicht die beste Köchin der Welt bin, freue ich mich doch, meinem Vater, meiner Schwester und ihrer Familie ein Weihnachtsessen zubereiten zu können.
Ja, es war ein gutes Jahr.
Es hätte sicherlich in mancherlei Hinsicht besser laufen können, aber es war gut.
Der Schnee wird immer dichter und nun wird es auch langsam dunkler.
Meine Hände frieren und die Taschen schneiden sich in meine Hände, obwohl ich Handschuhe trage. Noch ein Häuserblock, dann habe ich es geschafft. Da hinten glaube ich, trotz des dichten Schneetreibens meine Straße zu erkennen. Weit ist es nicht mehr.
Und ich freue mich schon auf den heißen Kakao, den Papa mir schon in meiner Kindheit gemacht hat, wenn ich durchgefroren von der Schule kam. Er wird ihn mir auch jetzt machen, während ich ihn mit einem Weihnachtsessen nach Mamas Rezepten verwöhnen kann.
Huh! Nur noch ein wenig durchhalten, dann bin ich da.
Als ich in meine Straße biege, wird mir noch kälter als zuvor.
Vor meinem Aufgang steht ein Krankenwagen, dessen Blaulicht blitzt, welches von Millionen Schneeflocken reflektiert wird.
Langsam gehe ich auf den Wagen zu, aber niemand ist drin, ich drehe mich zu meinem Aufgang und gehe darauf zu. Es ist niemand da.
Dieser Wagen gehört nicht hierher. Dieser Wagen gehört an Orte, von denen man nach den Feiertagen in der Zeitung liest und sich mitleidig denkt, dass so etwas nicht zu Weihnachten passieren sollte.
Die müssen sich geirrt haben.
Ich kenne meine Nachbarn und niemand hätte einen Grund, einen Krankenwagen zu rufen. Also haben sie sich geirrt. Man sollte ihnen das sagen.
Ich steige die ersten sieben Stufen hoch und bemerke, dass ich vergessen habe, das Licht anzuschalten. Zwei von acht Türen verschlossen, das bedeutet, dass meine untersten Mitmieter okay sind. Sogar Weihnachtsmusik kann ich hören, irgendwelche Kinderchöre, die mir viel zu kitschig wären. Ich ziehe die Handschuhe aus und verstaue sie ordentlich.
Dann mache ich Licht an.
Wenns kein anderer tut, dann werde ich den Krankenwagenfahrern mitteilen, dass sie hier falsch sind. Himmel, am anderen Ende der Straße liegt vielleicht jemand im Sterben und die halten sich hier im falschen Aufgang auf!
Im zweiten Stock angekommen, bin ich mir ganz sicher, dass die hier falsch sind, denn auch hier sind die Türen verschlossen und Plätzchengeruch steigt mir in die Nase. Ich lausche, aber alles, was ich hören kann, sind die Weihnachtslieder aus der ersten Etage.
Ich steige die letzten vierzehn Stufen zu meiner Wohnung hinauf, und bin nun ganz überzeugt. Es muss der falsche Aufgang sein.
Aber dann komme ich auf den Treppenabsatz, wo meine Wohnung liegt.
Meine Tür steht einen Spalt weit offen. Ich drücke sie wie automatisch auf und dumme Gedanken schießen mir durch den Kopf. Gedanken wie: Ich kann meinen Vater jetzt nicht verlieren, wo ich ihn doch gerade erst "wiedergefunden" habe. Gedanken wie: Wer hätte den Notarzt rufen sollen, was hätte schon passiert sein sollen und hätte er nicht schon vorher Symptome gehabt?
Der Flur ist ruhig, aber dahinten, rechts, wo es zum Wohnzimmer geht, da brennt Licht und ich höre Stimmen. Vielleicht ist meine Schwester früher gekommen und ihre Kinder haben vergessen, die Tür zu schließen.
Vielleicht …
Ich halte noch immer den Wohnungsschlüssel in der Hand, die Einkaufstasche ums Handgelenk geschlungen, als ich in der Tür um Wohnzimmer stehe.
Das Bild, das sich mir bietet ist bizarr:
Neben dem umgestürzten Weihnachtsbaum liegt Vater, ebenso umgestürzt.
Neben ihm kniet ein weiß gekleideter Mann auf dem Boden, der andere weiß gekleidete sitzt neben der weinenden Frau Giese, meiner Nachbarin, die unter mir wohnt und aus deren Wohnung der Plätzchengeruch gekommen war.
Mein Vater sieht nicht aus wie mein Vater. Mein Vater ist stark, auch nach seinem Schlaganfall vor fünf Monaten war er noch stark.
Der, der da liegt, sieht zwar aus wie mein Vater, ist es aber nicht.
Kann es nicht sein.
Der, der da liegt, bewegt sich nicht, genauso wie der Rettungshelfer, der neben ihm kniet. Der starrt ihn bloß an.
"Was machen Sie hier?", frage ich. Alle schrecken auf, bis auf den, der aussieht wie mein Vater, es aber nicht ist.
"Kind", schluchzt Frau Giese und bricht in Tränen aus.
"Frau Sander", sagt einer der weiß gekleideten Männer und schüttelt langsam den Kopf. "Es tut mir Leid."
Drei Stunden später sitze ich ihn meiner Wohnung. Sie haben den Mann, der so aussah wie mein Vater, es aber nicht war, mitgenommen. Ich starre das Telefon an und der winzige, vernünftige Teil meines Denkens sagt mir, dass ich Lisa endlich anrufen muss, aber was soll ich ihr sagen?
Ich habe seit drei Stunden nicht gesprochen und kann mir auch nicht vorstellen es je wieder zu tun. Ein Mann war hier, er kam in einem schwarzen Wagen angefahren, er stellte mir Fragen, aber ich habe sie nicht beantwortet. Zwei weitere Männer waren hier. Sie nahmen ihn den Mann, der aussah wie mein Vater mit. Ich habe nichts dazu gesagt, es war ja nicht mein Vater. Frau Giese ist gegangen. Sie hat die Tür hinter sich zugemacht. Ich glaube nicht, dass ich sie je wieder öffnen werde.
Ich rufe nach meinem Vater. Er schläft wahrscheinlich, denn er antwortet nicht.
Der Weihnachtsbaum sieht mich verlogen an. Er liegt da, halb geschmückt, denn Papa ist nicht fertig geworden, und die Lichter an ihm leuchten.
Obwohl ich das Gefühl habe, mich nie wieder bewegen zu können, stehe ich auf, reiße die Lichterketten aus der Steckdose und werfe den Baum vom Balkon.
Unten zersplittern die Kugeln, die schon hängen. Und die, die Papa nicht befestigen konnte, werfe ich hinterher. Es gibt kein Weihnachten, nicht jetzt und auch nicht sonst.
Während ich ziellos durch die Wohnung streife und nach etwas suche, von dem ich nicht weiß, was es ist, kommt mir immer wieder das Bild dieses Mannes vor Augen. Der Mann, der hier noch vor kurzem auf meinem Boden lag und mit gebrochenen Augen die Decke anstarrte, der Mann, der so aussah wie mein Vater. Aber er kann es nicht sein.
Ich beginne zu suchen.
Aber die Wohnung ist leer. Wo könnte er hingegangen sein?
Ich rufe meine Schwester an, aber nachdem sie anfängt, ich benähme mich merkwürdig, lege ich auf.
Wo war Papa gerne um diese Zeit? Mir fällt nichts ein, also setze ich mich und atme durch.
Er kann's nicht gewesen sein, das ist alles ein riesengroßer Irrtum.
So etwas passiert nicht zu Weihnachten, nicht mir.
Niemandem.
Am nächsten Tag weckt mich die Klingel. Mein erster Gedanke: "Papa!"
Ich springe von der Couch auf und laufe zur Tür, aber es ist nur Lisa, die sich Sorgen macht.
Sie kommt herein und durchsucht die Wohnung. "Wo ist Papa?", fragt sie mich.
"Ich weiß es nicht", antworte ich. Doch dann fällt es mir wieder ein.
"Papa ist tot."
Und plötzlich ist es real. Ich habe gesprochen. Ich habe es ausgesprochen.
Die Wirklichkeit überrollt mich. Papa ist tot. Es ist nicht die Person, die so aussah … ER ist tot.
Nein, das sind Dinge, die sollten einfach nicht zu Weihnachten passieren.
Eingereicht am 23. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.