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Eine kleine Weihnachtsgeschichte

©Claus


Wieder war Weihnachten.
Ein Weihnachtsbaum strahlte im Raum. Die Kinder - meist aus der ersten bis dritten Schulklasse - saßen am langen Weihnachtstisch. Nüsse und Lebkuchen auf den Tellern, neben Kerzen und Tannengrün.
Vor jedem Kind lag ein Buch von Dieter Bohlen. Natürlich von ihm persönlich signiert. "Endlich mal was aus dem Leben", sagte Maiki zu seinem Nachbarn.
"Stimmt", sagte Siggi, "nicht immer nur diese langweiligen Geschichten vom Schneeköpfchen und Rotwittchen, oder von den Sex-Zwergen hinter den 7 Bergen."
Alcopops auf dem Tisch brachen das Kerzenlicht und es war ein richtiges Sternenfunkeln. "Waldmeister mit Rum in vorweihnachtlicher Glühwein-Mischung", las Doreen vom Etikett. "Kann man auch verlangen als Schüler der Unterstufe. Den ollen Kakao in die Krabbel-Gruppe!", sagte Georgi mit brüchiger Stimme, die den Stimmbruch ankündigte.
Es wurde ruhig, das Christkind kam herein.
Langes, dichtes, blondes Haar, in dem goldene Sterne funkelten. Ein kurzes Kleidchen aus Samt und Seide. Rolfi war fasziniert. "Sind die Beine so lang, oder ist das Kleid so kurz?", fragte er leise seinen Nachbarn. "Beides. Eine Mischung aus Heidi Klum und Claudia Schiffer, nur viel, viel schöner", antwortete der angesprochene. "Weniger Claudia Schiffer, mehr klein und zierlich wie die australische Popsängerin Kylie Minogue", hing sich Berti in die Diskussion. Niemand widersprach ihm. Er galt trotz seiner 7 Jahre auf diesem Gebiet als Spezialist.
Das langbeinige Christkind wollte etwas sagen.
"Ruhe!", rief Rolfi und strahlte die Blondine an. Die Kinder verstummten.
"Ginndersch", sagte das Christkind, "isch gloobe, der Weihnachtsmann gommt heute später zur Weihnachtsfeete. Leschd noch im Buche, die Glotze mach isch ooch an. Bis er gommt, muss isch inner Güsche ferdsch sein."
Beim Hinausgehen murmelte sie noch etwas vor sich hin: "Blöder Minijob. Alles mussde alleene machen, von früh bis abends, für'n Appel un'n Ei."
Auf dem Glotzen-Flachbildschirm sang Kübelbeck. Weihnachtslieder im Volkslied-Rock-Sound. Die Augen der Mädchen begannen zu strahlen. Leise summten sie mit.
Draußen polterte es.
Der Weihnachtsmann kam herein. "Entschuldigt, Kinder", sagte er etwas kurzatmig. "1 cm Schnee und 1 Grad Minus. Verkehrschaos auf Autobahnen und Straßen."
"Ich komme", so sagte er leise, "von weit her. Ich musste noch in Berlin ein großes und lang erwartetes Geschenk abgeben."
"Was war es denn für ein Geschenk?", fragte neugierig die sonst recht schüchterne Kathi.
"Einen neuen Server für das Schulministerium, oder wie eure Chefs da oben heißen", flüsterte der Weihnachtsmann kaum hörbar. "High-Tec vom Feinsten".
Die Kinder zeigten wenig Interesse.
Alle kannten das Internet und das aufwendige "Googeln", wenn man etwas für die Schularbeiten brauchte. Aber was interessierte sie schon die Schul-Ober-Macker. Bürokraten-Kram. Nichts für junge Menschen.
"Das Ding war ganz schön teuer", versuchte es der Weihnachtsmann noch einmal. "Es ist wegen der schlechten Noten bei der Pizza- oder Pisa-Misere, oder wie das Ding heißt".
"Hör auf zu labern", sagte Maiki etwas vorlaut. "Erzähl das einfach unseren Lehrern oder deinem Friseur!"
Der Weihnachtsmann wirkte nun etwas eingeschüchtert und Clarissa Bohne feixte vor sich hin.
"Na gut", sagte der Weihnachtsmann, "dann macht weiter täglich eure Schularbeiten, schwitzt weiter über Aufsätzen und lasst euch weiter von den Lehrern schikanieren!"
"Wird uns nichts anderes übrig bleiben", erwiderte Felix, der Klassenbeste der 3A.
"Das könnte sich ab dem nächsten aber Jahr ändern, wenn ihr nur wolltet", murmelte der Weihnachtsmann in seinen Bart.
"Ist wohl wieder so eine langweilige Weihnachtsgeschichte, mit der man im Kindergarten dicke rauskommen kann?", vermutete Clara. Die Kinder horchten aber auf. Ihre Aufmerksamkeit nahm wieder zu.
"Mach hier nicht auf Romantik. Komm lieber zur Sache", sagte Friedrich laut und deutlich.
"Na gut", sagte der Weihnachtsmann, "dann verzichte ich auf die alljährliche Weihnachtsgeschichte und erzähle vom neuen Berliner Schulhäuptlingsserver. Natürlich nur das, was ich bei der Server-Übergabe aufgeschnappt und verstanden habe. Bei mir macht's immer noch der gute alte C 64. Aber der Fortschritt ist nicht aufzuhalten, sagten die weisen Männer in Berlin."
Die Kinder nickten beifällig. " Wenn der Fortschritt geplagten Schülern hilft, dann sperren wir uns nicht dagegen. Sag uns einfach, was Sache ist, Väterchen!"
"Also", sagte der Weihnachtsmann, "Über diese Internet-Seite werdet ihr zukünftig alles über den Unterricht abrufen können: Aufsatz-Themen; der Text von Diktaten; die bereits fertigen Hausaufgaben - also alles, was man als Schüler so braucht."
Markus, Surfexperte der Schule, meldete Zweifel an.
"Bei einer Software kann hinten nur rauskommen, was man vorn einprogrammiert hat. Kein Server kann wissen, welche Hausaufgabe eine Lehrerin in Kiekebusch oder in Bad Doberan aufgibt."
"Ähm, die Frage wurde dort auch gestellt. Die Antwort ist ziemlich einfach: Die Lehrer geben die Details gegen ein kleines Entgelt als Nebenverdienst wöchentlich ein und so ist alles top."
"Wäre machbar", sagte Markus anerkennend, "nur kostet das Geld und außerdem bringt es keine wirkliche Leistungssteigerung aus Sicht der Pisa-Studie."
"Darüber haben die dort bei der Server-Übergabe auch gesprochen. Sogar eine Studierte war da: Frau Dr. Aperitif-Rohrstock. Eine umfassende Langzeitstudie zu dem Thema hat sie angefertigt mit der schlichten, zusammengefassten Aussage: Besser, die Schüler suchen auf unserem Computer, als dass sie gar nichts mehr für den Unterricht machen! Lieber bei uns abschreiben, als gar nichts für die Schule tun. Und wenn wir Glück haben, stehen wir bei der nächsten Pisa-Untersuchung sogar besser da als das kleine Ländchen ... "
Der Weihnachtsmann hatte den Namen dieses kleinen Landes nie gehört und ihn sich deshalb auch nicht gemerkt. Die Kinder hätten ohnehin nichts damit anfangen können ...
"Scheint nicht dumm zu sein, die Bildungs-Tante", warf Wibke ein und bekam sofort einen roten Kopf.
"Sag ich doch", freute sich der Weihnachtsmann über die Anteilnahme.
"Und wo ist der Haken an der Sache?", fragte Phillip skeptisch.
"Na ja, ganz umsonst ist die Sache natürlich nicht. Ohne eine kleine Gebühr monatlich ist da nichts zu machen. Bis Weihnachten ist noch Zeit. Eltern, Onkel, Tanten und Geschwister fragen doch oft genug, womit sie euch eine Freude machen können. Nehmt sie beim Wort und schlagt zu."
"Cool", sagte Felix. Cool, ok und sorry waren seine Lieblingswörter.
"Und wie soll das praktisch laufen?", erkundigte sich Antonia.
"Ganz einfach", sagte der Weihnachtsmann, "jetzt abschließend verteile ich die Aufnahme-Zettel und den Umschlag mit der Anschrift. Die Konto-Nummer nehmt ihr von den Eltern. Abbuchungsverfahren kennen die ja. Erklärt ihnen alles, was ich euch gesagt habe, dann spielen sie auch mit. Die monatliche Gebühr ist gering und steuerlich absetzbar. Für elterliche Nachfragen steht auf dem Zettel auch die Nummer der 0190er Hotline."
"Und wer kein Geld hat?", fragte Mariana, das soziale Gewissen der Klasse.
"Papppalapapp", sagte der Weihnachtsmann, "Geld haben alle, auch Kinder von ALG-II- Eltern. Lasst euch von denen ein paar Cent geben und versorgt sie mit den notwendigen Informationen. Oder ist hier jemand dabei, der keinen Tintenstrahldrucker hat?"
Die Kinder griffen zu.
"Übrigens gibt es gratis ein riesiges Software-Paket, bestehend aus folgenden Zusatzprogrammen: Entschuldigungsschreiben für Fehltage; ein Ausreden-Lexikon; ein Programm, das eure Schrift täuschend echt wiedergibt, zum Beispiel für Schularbeiten; ein umfangreiches Spickzettel-Programm und andere feine Sachen."
Die Kinder griffen nach dem Papier und stürmten los.
"Nächstes Jahr ist die Weihnachtsfeier bereits im Oktober und Schöne Weihnachten noch!", rief der Weihnachtsmann hinter ihnen her. Doch das hörten die Kinder schon nicht mehr.
"Mach uns noch einen schönen steifen Grog", sagte Weihnachtsmann zum Christkind. "Mach ich, Chef", und schon dampfte es aus den Gläsern.
"Da wächst ja ganz schön was heran", sagte das Christkind und nahm einen kräftigen Schluck.
"Was soll´s", erwiderte der Weihnachtsmann. "Es sind Kinder. Egal, wie sie sprechen, egal was sie mögen oder ablehnen, ob sehr klug oder weniger, naseweis oder eher bescheiden - sie sind letztlich so etwas wie unser Spiegelbild. Wir haben sie so erzogen und sie sehen es täglich von uns."
Das Christkind wollte widersprechen; unterließ es aber.
Vielleicht hatte der Weihnachtsmann Recht, vielleicht auch nicht - wer kann das schon sagen?
Beide dachten noch daran, dass auch diese Weihnachtsfeier wieder ein paar neue Provider-Abschlüsse bringen würden. Wieder ein paar Euro im Nebenjob.
Alles andere, was soll's und was geht es uns an?



Eingereicht am 22. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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