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Josef

© Wera Köhler


Das war ein Tumult. Von überall her kamen die Leute, selbst aus dem kleinsten Dorf zogen sie herbei, dem Befehl zu gehorchen, sich zählen zu lassen in der Stadt, bei der Behörde anzugeben, wo man geboren sei und wann genau, wo man aufgewachsen und wer Vater und Mutter sei und wo man jetzt wohne.
Da niemand genau sagen konnte, wie lange es dauern würde, wann man drankäme, musste man sich wohl auf ein paar Tage einrichten, ein Zimmer suchen und einige Habseligkeiten mitnehmen, das Notwendigste eben, im Bündel zusammengebunden auf der Schulter oder unterm Arm tragen. Manche hatten es leichter und zogen ihre Sachen in einem Karren hinter sich her.
Es wimmelte auf den Straßen. Männer und Frauen, alte, junge, schoben sich wie eine träge Masse vorwärts und auch wieder zurück. Die Kinder aber flitzten dazwischen wie kleine Fische umher und hatten ihren Spaß. Die Kaufleute witterten fette Geschäfte und priesen ihre Waren lautstark und mit großen Gesten an.
Am nächsten Tag schon war kaum mehr ein Quartier zu kriegen und das junge Paar war froh, das letzte Zimmer in einem einfachen Gasthaus bekommen zu haben. "Leider; nur ein Einbettzimmer", sagte der Wirt, "aber so lange man jung ist", er zwinkerte anzüglich, "kann man ohnehin nicht nahe genug liegen" und dabei machte er eine schiefe Grimasse. Dann grinste er und sah den Mann an und der Mann lächelte zurück, ein wenig verlegen vielleicht und die junge Frau versteckte sich hinterm Rücken des Mannes. Dem Wirt war das egal, er würde jedenfalls zwei Übernachtungen rechnen und dann übergab er ihnen schnell den Zimmerschlüssel, denn er hatte es eilig, weil man in der Stube bereits nach ihm rief. So konnte er nicht sehen, dass die Frau einen viel zu weiten Mantel trug, der allerdings vorne etwas spannte und sie sich am Arm des Mannes festhalten musste, als sie gemeinsam die steile Treppe hinauf stiegen.
Das Zimmer lag hofseitig und war ruhig.
Beide, jetzt froh, den Lärm und das Geschrei der Straße hinter sich gelassen zu haben, umarmten sich.
Erschöpft ließ sich die Frau auf den Sessel nieder, der Mann setze sich aufs Bett.
"Komm her", sagte er, "leg dich ein bisschen zu mir."
Er half ihr aus dem Mantel und legte seine Hände sanft auf ihren hoch aufgewölbten Bauch.
"Es bewegt sich, schau doch, es bewegt sich."
Seine Augen begannen zu leuchten und voll Freude nahm er mit seinen Fingern die Botschaft des ungeborenen Kindes wahr. Glücklich sah er sie an und küsste sie.
Um Mitternacht ging es los.
Sie musste hinaus und als sie zurückkam, sagte sie: "Es kommt Wasser. Ich glaube, es geht los."
Kaum hatte sie sich wieder niedergelegt, begann die erste Wehe. Langsam, aber gewaltig rollte sie heran, groß und mächtig, mit der Urkraft der Natur stürzte sie sich auf die Frau, erfasste sie bis in die kleinste Muskelfaser. Der Bauch spannte sich, wurde hart wie Stein.
Die Frau suchte Halt und ihre Hand fand seine Hand und sie presste die ihre tief hinein und die Finger gruben sich in seine weichen, warmen Handflächen. Der Atem ging stoßweise, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Zuerst unregelmäßig, dann in immer kürzer werdenden Abständen überfiel sie der Schmerz und wurde heftiger, stärker.
Bald war ihr Gesicht schweißnaß und sie hatte Durst. Der Mann saß neben ihr am Bett, streichelte sie, wischte ihr mit einem feuchten, kühlen Tuch über die Stirn und benetzte ihre ausgedörrten Lippen, aber er hätte gerne mehr getan für sie, ihr geholfen, es ihr irgendwie leichter gemacht, alles durchzustehen. Aber er konnte nichts tun, nur zusehen, war hilflos diesen immer wiederkehrenden Qualen gegenüber.
"Du wirst sehen, bald ist es vorbei, bald hast du es überstanden."
Die Frau bäumte sich auf, wie von einer riesigen, unsichtbaren Kraft zusammengezogen.
Das Hemd klebte ihr auf der Haut, sie war schweißüberströmt, die Haare aufgelöst, verwirrt.
Langsam begann es Tag zu werden, doch für die Frau änderte sich nichts. Die Wehen fielen über sie her, wie die Wellen eines sturmgepeitschten Ozeans. Und als es Abend wurde, machte sich der Mann auf den Weg, eine Hebamme zu suchen. Es war nicht leicht und es dauerte lange, bis sie kam. Mit einem Stapel weißer Tücher unterm Arm trat sie ins Zimmer und ging gleich zur Frau hinüber. Kurz nur sah sie sie an, dann schaute sie auf. Ihr Blick war ernst, ihr Gesicht sorgenvoll.
Erschöpft und entkräftet lag die Frau da, wimmerte und stöhnte leise. Die Hebamme nahm ihre Hand und fühlte den Puls, legte das Ohr auf den Bauch.
"Es sieht nicht gut aus. Das Kind liegt falsch und kann nicht heraus, ich werde es drehen müssen", flüsterte sie zum Mann gewendet.
Liebevoll strich er der Frau über die Wangen, tröstend, es wird schon, es wird schon, alles wird gut und er bettete ihre Hände in die seinen und küsste sie, küsste seine Verzweiflung und seine Angst mit hinein.
Später schickte ihn die Hebamme hinaus und er musste vor der Tür warten. Es war stockfinster. Gedämpft drangen die Geräusche aus der Wirtsstube herauf und legten sich wie dünne Muscheln an seine Ohren. Aus dem Zimmer kein Laut, nur Stille. Da kam die Angst. Aus seinem Inneren stieg sie herauf, langsam, und legte ihm ihr kaltes Tuch über die Schultern und Hals. Er stand wie erstarrt. In seinem Kopf hörte er jetzt den eigenen Pulsschlag dröhnen und es klang wie in einer riesigen, leeren Halle. Und es kam ihm vor, als würde sein Kopf selbst sich ausdehnen, ein unendlicher Raum werden, erfüllt von donnernden Schlägen. Er hätte nicht vermocht zu sagen, wie lange er so dastand. Doch mitten hinein in das Dröhnen und Donnern, hinein in das Hallen brach ein Schrei. Gebannt wartete er. Es dauerte lang, dann ging die Tür auf. Die Hebamme winkte ihn herein. In ihren Armen trug sie einen Packen Tücher.
Er aber sah nur aufs Bett, sah seine Frau, die dalag, zugedeckt bis zur Brust, friedlich und entspannt, das Gesicht weiß wie das Kissen, in das sich ihr Kopf tief hineingewühlt hatte, jedoch fast erloschen ihre Züge, die Augen geschlossen, die Hände wie vergessene, weiße Lilien, links und rechts vom Körper.
Mit gedämpfter Stimme sagte die Hebamme:
"Ich kann für die Frau nichts mehr tun. Leider."
Das Bündel, das sie noch in den Händen hielt, legte sie nun vorsichtig aufs Bett.
"Kümmere dich gut um die Kleine, sie ist sehr schwach. Schau, dass du eine Amme findest, sonst kommt sie nicht durch."
Der Mann stand da wie versteinert. Die Hebamme sah ihm gerade ins Gesicht und streckte ihre geöffnete Hand nach vor. Mit einer langsamen Bewegung, wie im Traum, holte er ein Geldstück aus seiner Tasche und gab es ihr. Dann hob sie die blutigen Laken auf, die am Boden neben dem Bett lagen und verließ das Zimmer.
Er wagte kaum zu atmen, so still war es im Raum. Er kniete sich neben das Bett und legte seine Wange an die Wange der Frau, drückte seine Lippen auf ihre Stirn. Sie war feucht und kalt und er erschrak. Liebevoll nahm er ihre Hand und wollte sie wärmen, drückte sie zärtlich. Einen Spaltbreit öffnete die Frau ihre Augen und erwiderte den Händedruck, leicht, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Bei Tagesanbruch war alles vorbei, war es überstanden. Lange noch kauerte er am Boden neben dem Bett, als eine winzigkleine Bewegung, ein Glucksen ihn zurückholte in die Wirklichkeit, ins Leben und zum ersten Mal sah er seiner kleinen Tochter ins Gesichtchen, sah, wie sie sich mühte, die Augen zu öffnen, sah ihre niedlichen, zierlichen Fäustchen.
Er erinnerte sich, dass die Hebamme ihm aufgetragen hatte, möglichst bald eine Amme zu suchen und vorsichtig nahm er sein Kind auf, wickelte es fester in die Tücher und verließ das Haus.
Er fragte die Leute auf der Straße, doch viele waren fremd hier und wussten nicht Bescheid. Ein alter Mann jedoch erzählte ihm von einer Frau, die erst vor zwei Tagen ein Kind zur Welt gebracht hatte, angeblich Gottes Sohn, angeblich den Erlöser der Welt. Allerdings untergebracht in einem Viehstall unter erbärmlichen Umständen. Er hätte sich alles angeschaut, sei dort gewesen, draußen vor der Stadt, wie viele andere Neugierige auch. Besonderes sei aber nicht zu sehen gewesen, lediglich ein eigenartig heller Stern und eine junge Frau, ein älterer Mann und ein Kind in einer Futterkrippe. Er würde den Weg sicher leicht finden, sind ja immer noch viele unterwegs, dieses angeblich besondere Kind zu besuchen und er könne die Frau ja fragen, ob sie auch sein Kind stillen würde.
Gegen Abend kam der Mann mit seiner kleinen Tochter beim Stall an. Einige Hirten standen davor und unterhielten sich, andere kamen noch mit Geschenken an.
Der Mann schämte sich ein wenig, als er das sah, da er nichts mitgebracht hatte, das er geben könnte, sondern nur mit seiner Bitte dastand.
Zögernd trat er ein. Im Stall war es warm und es roch angenehm.
Eine junge Frau saß am Boden. Sie hielt ein kleines Kind im Arm, wiegte es und summte dabei. Als sie aufsah und ihm zulächelte, wagte er näher zu kommen.
Mit bangem Herzen erzählte er ihr seine Geschichte. Da küsste sie ihr Kind zärtlich und bettete es auf ein dickes Strohbündel. Dann nahm sie die kleine Tochter des jungen Mannes, legte sie an die Brust und bald trank das Kind in gleichmäßigen, tiefen Zügen.
Da fragt die junge Frau: "Wie heißt du?"
"Josef", antwortet er.
"Mein Mann heißt auch Josef", sagt sie und lacht.



Eingereicht am 17. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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