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Auch Engel haben Wünsche

© Irmela Nau


Es war eine kalte verschneite Nacht, doch dem Mann, der unter der Straßenlaterne saß, machte das nichts aus. Ihm war mittlerweile alles egal, dafür hatte der letzte Kneipenbesuch schon gesorgt. Was interessierte es ihn, dass ihn die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren mitleidig anstarrten. Sie waren auf dem Weg von der Christmette nach Hause, wo sie wahrscheinlich ihren Weihnachtsbaum anzünden, gemütlich etwas Leckeres essen und Bescherung feiern würden.
"Nach Hause". Zwei Worte, die den Mann mit Verbitterung und doch auch mit einer Spur von Trauer erfüllten. Er hatte auch einmal ein Zuhause gehabt, doch vor sechs Jahren hatte er es verloren und noch mehr. Aber er wollte nicht daran denken. Schließlich hatte er so viel Alkohol in sich hineingeschüttet, damit er vergessen konnte.
"Hey. Geht's Ihnen nicht gut?"
Überrascht schaute der Mann auf und sah einen kleinen Jungen vor sich stehen.
"Sie sollten besser nach Hause gehen. Es ist viel zu kalt, um hier zu sitzen."
"Was willst du Kleiner?" Mürrisch wendete er seinen Blick wieder seinen Schuhen zu.
"Ich möchte nur wissen, ob es Ihnen gut geht?"
"Sehe ich so aus? Was hältst du davon, wenn du selber nach Hause gehst und dich um deine Sachen kümmerst."
"Das würde ich gerne tun, aber ich habe mich verlaufen. Vielleicht wären Sie so freundlich mir zu sagen, wo ich hier bin und wie ich von hier aus nach Hause finde."
Erstaunt über so viel Höflichkeit schaute der Mann den Jungen wieder an. Der Knirps konnte höchsten fünf Jahre alt sein und gehörte wirklich nicht in diese Gegend. Er war ordentlich gekleidet, doch eigentlich nicht warm genug für diese Jahreszeit. Na was soll's. Mühsam stand er auf. Da er sowieso nichts Besseres zu tun hatte und ihm vor seiner leeren Wohnung graute, konnte er ebenso gut dem Kind helfen.
"Okay. Wo wohnst du denn?"
"Na, bei Mama. Wo sonst?"
"Ein bisschen genauer darf es aber schon sein. Der Straßenname wäre sehr hilfreich."
"Den weiß ich aber nicht. Ich kann ihnen nur unser Haus beschreiben, wenn das hilft."
"Na, besser als nichts. Dann schieß mal los. Aber vielleicht verrätst du mir erst mal wie du heißt."
"Michael", antwortete der Junge sofort. "Ich heiße Michael. Genauso wie der Erzengel."
Zutraulich umfasste er die Hand des Mannes und schaute ihn erwartungsvoll an.
Der Mann räusperte sich. "Das ist ja spaßig. Ich heiße nämlich auch Michael."
Der Junge blinzelte ihm zu. "Dann kann ja nichts mehr schief gehen. Also: unser Haus ist klein und alt. Mit viel Holz und es steht am Waldrand. Meine Mama kümmert sich um den Garten und um die Tiere und sie macht Menschen wieder gesund. Können sie damit was anfangen?"
Der große Michael schaute auf den kleinen Michael hinunter.
Er dachte kurz nach. Früher, als es ihm noch gut gegangen war und er viele Waldläufe gemacht hatte, war er oft an einem solchen Haus vorbei gekommen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass dort jemand gewohnt hätte. Das Haus war nämlich wirklich alt gewesen und man hätte viel Mühe auf sich nehmen müssen, um es zu renovieren. Er hätte sich gerne diese Mühe gemacht ... früher... Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte sich ja wirklich jemand um das Haus gekümmert, ihm konnte das ja schließlich auch egal sein. Er beschrieb dem Jungen das Haus und den Ort so genau wie möglich und der Kleine hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere.
"Genau das ist es. Da hab ich gewohnt. Können Sie mir sagen, wie ich dahin komme?"
Michael sah auf die Uhr
"Ich bring dich hin. Es ist schon zu spät, da solltest du lieber nicht alleine durch die Gegend laufen."
Und so machten sich die beiden auf den Weg.
Unterwegs versuchte sich Michael darin, sich mit dem Kind zu unterhalten. Doch worüber redete man mit einem Kind? Noch dazu, wenn man so betrunken war wie er. Doch halt - er fühlte sich eigentlich ziemlich nüchtern. Eigenartig. Er schüttelte den Kopf. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Michael grübelte immer noch, als er merkte, dass der Junge ihn unverwandt anstarrte.
"Sagen Sie mal. Was haben sie sich zu Weihnachten gewünscht?"
"Ich? Ich hab mir nichts gewünscht." Erschrocken über seine Schroffheit fragte er etwas sanfter zurück:" Und du? Was möchtest du denn haben?"
"Och ... für mich nichts. Nur für meine Mama. Sie ist immer so traurig und allein und jetzt bin ich auch noch weg. Ich habe mir gewünscht, dass sie wieder glücklich wird."
"Aber was ist denn mit deinem Vater?"
"Ich habe keinen. Mama redet nicht über ihn. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie ihn ganz doll lieb hat, er aber nicht bei uns sein kann. Übrigens wurde ich nach ihm benannt. Und dann war sie wieder so traurig, dass ich nicht weiter gefragt habe. Jetzt möchte ich nur, dass sie wieder fröhlich ist. Wissen Sie, sie hat früher sehr viel gelacht und mir viele lustige Geschichten erzählt, aber seit letztes Jahr Weihnachten ist es ganz anders. Sie ist nur noch traurig und weint sehr viel."
Dann schwieg der Junge plötzlich und schaute Michael ernst an.
"Haben Sie eigentlich Kinder?"
Michael verneinte, etwas verwirrt von den Gedankensprüngen des Kindes und von dem, was er gehört hatte. Am Abend hatte er noch geglaubt, ihm ginge es schlecht. Wie selbstsüchtig. Hier ging er mit einem kleinen Jungen durch die Straßen, der sich nichts sehsüchtiger wünschte als seine Mutter wieder glücklich zu sehen und sich sonst nichts zu Weihnachten gewünscht hatte. Das war selten.
Seine Gedanken wurden wieder von einer Frage unterbrochen.
"Warum haben Sie keine Kinder? Wollten Sie keine?"
"Doch Michael, ich wollte schon, aber dafür braucht man eine Frau ..."
"Und Sie haben die richtige noch nicht gefunden?"
"Doch mein kleiner Freund, die hatte ich. Aber ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht und sie hat mich verlassen."
"Und Sie haben sie nicht mehr gesehen? Haben Sie denn nicht nach ihr gesucht?"
"Nein, das habe ich nicht. Sie hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mich nie mehr wiedersehen wollte und das musste ich doch respektieren, oder nicht?"
"Vielleicht ... vielleicht aber auch nicht", antwortete der Junge altklug. "Sie hätten sich ja auch bei ihr entschuldigen können, dann hätte sie Ihnen vielleicht verziehen. Aber möglich, dass sie die Chance noch einmal haben."
Michael versucht dem Kind zu erklären, was geschehen war. Dass es einen schrecklichen Streit gegeben hatte, weil er nicht ehrlich zu ihr gewesen war und sie sich viele böse Sachen gesagt hatten Das sie zum Schluss einfach gegangen war und er zu stolz gewesen war, um sie aufzuhalten. "Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich das rückgängig machen. Ich habe mit ihr alles verloren, was mir etwas bedeutet hat. Aber es geht nicht ..." Er hob die Hand, als der Junge etwas sagen wollte. "Lass gut sein. Ich habe mich damit abgefunden."
Schweigend gingen die beiden ungleichen Gefährten weiter. Mittlerweile waren sie aus der Stadt heraus gekommen und befanden sich auf dem Weg, der direkt zum Haus des Jungen und seiner Mutter führte.
Plötzlich wurde das Kind langsamer.
"Was ist los?" fragte Michael. "Hast du Angst, dass deine Mutter mit dir schimpft?"
"Ein wenig."
"Mach die keine Sorgen. Sie ist bestimmt sehr froh, wenn du wieder da bist. Da hat sie keine Zeit zum Schimpfen."
"Ja wahrscheinlich. Seit ich weg bin, war sie keinen Tag mehr froh."
"Wie lange bist du denn schon weg?" Michael wunderte sich über die Formulierung.
Doch der kleine Michael riss sich von seiner Hand los und lief voraus. Über die Schulter rief er zurück: "Zu lange schon."
Michael beeilte sich, hinter dem Jungen herzukommen, aber bis er zum Haus kam, sah er ihn nicht mehr.
Einen Moment blieb er am Zaun stehen. So, wie das kleine Haus da stand, Schnee auf dem Dach und Eiszapfen an der Dachrinne, die Fenster mit Kerzen erleuchtet, sah es genauso aus, wie er sich ein Zuhause immer gewünscht hatte. Er schaute sich um, doch den Jungen sah er nicht. Wahrscheinlich war er schon längst im Haus, denn die Haustür stand eine Spalt offen. Michael ging den kurzen Weg durch den Vorgarten und klopfte an die Tür. Doch es antwortete niemand und so trat er einfach ein.
Die Stube war warm und gemütlich. Michael sah sich um. Im Kamin brannte ein Feuer und auf dem Sims standen Bilder von dem Jungen. Babybilder und eines auf dem er genauso aussah wie ...
"Würden Sie bitte das Bild wieder hinstellen."
Michael zuckte zusammen. Er kam sich vor wie ein ertappter Dieb. Vorsichtig stellte er das Bild zurück und fragte sich gleichzeitig, wie es eigentlich in seine Hand gekommen war.
"Was wollen Sie überhaupt hier?" Die Stimme zittere leicht, aber irgendwie war sie ihm vertraut. Doch das konnte nicht sein. Er musste Gewissheit haben und drehte sich um. Da stand sie und erkannte ihn im selben Augenblick - seine Theresa. "Ich habe Michael nach Hause gebracht - wo ist er denn?"
In diesem Moment brach Theresa zusammen und Michael konnte sie gerade noch auffangen. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie ihn verwirrt an.
"Was machst du hier?"
"Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich habe deinen Sohn nach Hause gebracht. Er hatte sich verlaufen und hat mich in der Stadt angesprochen."
Sie sah ihn nur mit großen Augen an, sagte aber nichts. Deshalb redete er einfach weiter.
"Ein netter kleiner Junge übrigens. Ich wusste gar nicht, dass du ein Kind hast und vor allem nicht, dass du noch in dieser Gegend lebst. Ach so, sei nicht allzu böse auf den Kleinen. Er hat sich so viel Sorgen gemacht, dass du mit ihm schimpfst... Was ist denn?"
Theresa liefen die Tränen über's Gesicht.
"Du kannst Michael gar nicht gesehen haben", stieß sie zwischen den Schluchzern hervor.
"Doch natürlich. Er hatte sogar dasselbe an, wie auf dem Foto. Und er hat mir sogar erzählt, dass du sehr oft unglücklich bist und er sich deshalb zu Weihnachten gewünscht hat, dass du wieder glücklich wirst."
Theresa wischte sich die Tränen aus den Augen. "Das hat er dir gesagt? Ausgerechnet dir?"
"Ja sicher. Du kannst ihn fragen. Er muss kurz vor mir ins Haus gekommen sein."
Langsam stand Theresa auf. "Dieses Bild", sie zeigte auf das Foto, das er kurz vorher noch in der Hand gehalten hatte. "Dieses Bild ist etwas über ein Jahr alt. Am heiligen Abend letztes Jahr ist er nach einem Streit davon gelaufen und wurde überfahren. Im Krankenhaus sagte man mir, das er nicht gelitten hat, aber dass er noch gesagt hat, dass es ihm Leid täte und er mir einen anderen Michael schicken würde."
In dem Moment, als sie sich in die Arme fielen, ging der Wunsch eines kleinen Engels in Erfüllung.



Eingereicht am 15. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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