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Mamas Vermächtnis

© Petra Kramp


Wir waren zu fünft zu Hause: Mama, Papa, und dann kamen Miri, Paulchen und ich. Ich war die Jüngste. Und meine Mutter liebte Traditionen - Familientraditionen, besonders an Weihnachten.
Wir bastelten Goldengel für den Baumschmuck und Adventskalender, die wir uns gegenseitig schenkten, wir übten die Weihnachtslieder ein, wobei Mama und Papa uns auf dem Akkordeon begleiteten.
Und genau eine Woche vor dem 1. Advent eröffneten wir daheim unsere ganz private Weihnachtsbäckerei. Dabei gehörten Mutters Spritzgebäck und Vaters Spekulatius Rezept - noch in den uralten, hölzernen Spekulatius-Formen des Urgroßvaters gebacken - eindeutig zu unserem Lieblingsnaschwerk. Bei den Ausstechplätzchen konnten wir natürlich selbst mithelfen, und wir waren alle mächtig stolz auf unsere mehr oder minder gelungenen Plätzchen-Kreationen.
Durch die ganze Wohnung wehte sodann der unvergleichlich süße, zimtige, wohlig-warme Weihnachtsduft frischgebackenen Backwerks, und die noch ganz warmen Plätzchen schmeckten in der Tat am allerbesten, auch auf die Gefahr hin, sich dabei gründlichst den Magen zu verderben …
Dieses herrliche Plätzchenbacken - stets eine Woche vor dem ersten Advent - war einerseits für mich eine der schönsten Rituale meiner Kindheit, andererseits vermisste ich jedoch immer eines dabei: Ich vermisste den Anblick leise fallender Schneeflocken, wenn wir daheim vor dem geöffneten Küchenfenster in die Rolle der kleinen Weihnachtsbäcker schlüpften, denn Schnee war leider in unserer Gegend einfach eine Rarität, und doch vermochte ich die Hoffnung auf frisch gefallenen, unberührten Neuschnee nicht ganz aufzugeben.
An einem ebensolchen Plätzchen-Back- und -Nasch-Tag erzählte ich meiner Mutter von diesem meinem wohl unerfüllbaren Wunsch, worauf meine Mutter antwortete: "Mein Kind, meine größte Sorge ist, dass ihr, Miri, Paulchen und auch du, nach unserem Tod nicht mehr die mir so wichtigen Familientraditionen fortführen werdet. Beispielsweise auch nicht mehr diese unvergleichlich schönen, anheimelnden, von fühlbarem Geist der Weihnacht durchdrungenen Tage unserer Weihnachtsbäckerei …" sie machte darauf hin eine kurze Pause des Innehaltens, bevor sie fortfuhr. "Deshalb verspreche ich dir eines: Wenn ich denn mal oben im Himmel angekommen sein sollte, und mein Blick von oben fällt "durch Zufall" auf deine Küche, in der Du dann unsere Weihnachtsplätzchen backst, dann werde ich alles Mögliche da oben in Bewegung setzen, um dir deine so heiß ersehnten Schneeflocken vom Himmel zu senden." Und dann lachte sie stillvergnügt und verschmitzt zugleich in sich hinein, verzaubert von ihrer eigenen Gedankenwelt.
Wir Kinder wurden dann älter, gründeten eigene Familien und - traurigen Naturgesetzen folgend - verstarben ziemlich kurz hintereinander, denn auch im Tod wollten wohl beide ziemlich schnell wieder beisammen sein - Vater und Mutter.
Miri und Paulchen hatten mit dem Koch- und Backlöffel nicht nur zur Weihnachtszeit nicht viel im Sinn, aber ich stellte mich beispielsweise regelmäßig bereits eine Woche vor dem 1. Advent in die Küche und buk Plätzchen, Spritzgebäck und auch Spekulatius.
An einem solchen Tag kam mein Mann abends nach der Arbeit, verführt von weihnachtlichen Gerüchen, direkt zu mir in die Küche und fand mich dort lautlos weinend vor dem weit geöffneten Küchenfenster. Er muss sicherlich sehr ratlos ausgesehen haben. Warum nur weinte ich? Mein Mann nahm mich wortlos und tröstend in die Arme und instinktiv tat er dabei das einzig Richtige, um diesen Moment nicht zu zerstören: Er wartete darauf, dass ich ihm mein seltsames Verhalten schon noch erklären würde …
Das Haus roch nach frisch gebackenen Plätzchen, vermischt mit dem typischen herrlichen Geruch frisch gefallenen Schnees! Und in der Tat: Lustig durcheinander wirbelnde, große und kleine Schneekristalle kämpften um einen bevorzugten Landeplatz auf unserer Terrasse. Der Schneeflockenfall setzte soeben zum lautlosen Stakkato an, und in kürzester Zeit war unser Garten von einer glänzenden, dichten, weißen Zauberglasur überzogen und glich einer Märchenwelt. Jedes noch so dünne Ästchen an Bäumen und Sträuchern zeichnete sich filigran vor dem dunklen Hintergrund der Nacht ab. Es war ein wunderschöner Anblick, aber warum weinte ich?
Und als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, erzählte ich die bislang ihm unbekannte Geschichte von Mamas Vermächtnis …



Eingereicht am 10. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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