Weihnachtsgeschenk von Engel Sylvie
© Melanie Strass
Ich lasse meine Beine von der weichen, flauschigen Wolke baumeln und betrachte meine Mami und meinen Daddy, wie sie vor dem grünen, bunt geschmückten Tannenbaum sitzen und die Tränen wie Bäche von ihren Wangen strömen. Mich macht es traurig sie an Weihnachten so sehen zu müssen und ihnen nicht helfen zu dürfen.
Sie müssen wissen, dass ich ein Engel bin. Mein Name ist Sylvie und wenn ich noch ein Mensch wäre, wäre ich vor einem Monat sieben Jahre alt geworden. Meine Mami und mein Papi haben neben dem weißen Bett im Krankenhaus gestanden als ich meine Augen zum letzten Mal geschlossen habe, und meine Mami ist auf den Knien zusammengebrochen.
Arme Mami.
Aber ich konnte nichts machen, weil der Herr im Himmel auf mich gewartet hat.
Ich bin die Sprossen einer riesig großen Leiter hinaufgeklettert, die einfach so in der Luft hing und es war überhaupt nicht anstrengend. Ich hatte auch nicht kalt oder heiß, hatte keinen Hunger, keinen Durst und mir tat nichts weh; ganz anders als auf der Erde.
Im Himmel hat der Mann, den sich die Menschen immer mit langen Haaren und einem Bart vorstellen, auf mich gewartet um mit mir zu sprechen. Er sieht nicht so aus wie meine Eltern mir das immer erzählen wollten, er hat gar keinen Körper, so wie alle Toten keinen Körper haben. Ich habe auch keinen Körper mehr.
Der Mann hat mich an die Hand genommen und ist mit mir zu meiner Wolke spaziert. Er hat mir meine Eltern gezeigt, die sich gerade in meinem Kinderzimmer aufhielten und wie verrückt schluchzten. Ich konnte die roten, verquollenen Augen meiner Mutter sehen, die über das Kissen meiner Tigerbettwäsche herausblickten, welches sie an sich gedrückt hielt.
"Bitte, lieber Gott, lass mich zu ihr gehen, sie ist so traurig wegen mir, ich muss sie trösten", bettelte ich.
Doch der Mann, der keinen Körper hatte, schüttelte den Kopf.
"Meine liebe kleine Sylvie, du kannst nicht mehr zurück. Aber du kannst von deiner Wolke hier deinen Eltern zuschauen, wann immer du willst."
"Aber schau doch, wie schlecht es ihnen geht. Sie brauchen mich doch."
"Du kannst deinen Eltern von hier aus helfen. Es sind nur banale Dinge die du beeinflussen kannst, aber du bist ein kleines schlaues Mädchen und dir fällt bestimmt etwas ein, wie du ihnen sagen kannst, dass du an sie denkst."
"Was kann ich denn tun?"
"Zum Beispiel kannst du es an Weihnachten schneien lassen. Du kannst ganz fest an deine Eltern denken und mit ihnen sprechen. Du kannst sie sogar berühren."
Ich wollte noch so viel fragen, aber der Geist meines Herrn war plötzlich weg.
Seit diesem Augenblick sitze ich hier und versuche mit meiner Mami und mit meinem Papi zu sprechen, aber sie können mich nicht hören. Ich berühre sie sogar, habe Mami über die Nase gestreichelt, doch da hat sie nur genießt und nicht gespürt, dass ich es bin.
Sie sitzen vor dem Tannenbaum und sehen sich die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum an, aber sie weinen, und packen nichts aus. Mein Papa hält meine Mama im Arm und wiegt sie hin und her. Sie sprechen nicht miteinander, Papa versucht gar nicht Mami zu trösten. Weil er selbst so traurig ist?
Da habe ich plötzlich eine Idee.
"Gehe zu dem Wohnzimmerschrank und nimm das Fotoalbum heraus", suggeriere ich meinem Daddy.
Nichts hat sich verändert, Papi sitzt neben Mama auf dem grauen Teppichboden und starrt den Tannenbaum an.
"Ihr müsst euch an die schönen Ereignisse mit mir erinnern", versuche ich es weiter.
Doch Papi bleibt sitzen.
"Papi, bitte", flehe ich "geh, und hol das Fotoalbum. Ich habe eine Überraschung darin versteckt und ihr habt es noch nicht gemerkt. Es ist mein Weihnachtsgeschenk. Bitte Papi, hol das Album."
Papi steht auf und obwohl ich körperlich nicht mehr in der Lage bin zu lachen, strahle ich über das ganze Gesicht.
"Ja, Papi, nimm die alten Erinnerungen aus dem Schrank", sporne ich ihn an.
"Wo gehst du hin?", höre ich meine Mutter fragen.
Papi gibt ihr keine Antwort, er geht zum Schrank um das Fotoalbum an sich zu nehmen.
"Er hat mich gehört", jubele ich.
Jetzt geht er zu meiner Mami zurück und beide blättern durch die alten Zeiten. Ich höre, wie sie die Geburt mit mir noch einmal erleben, wie sie miterleben wie ich laufen und sprechen gelernt habe. Mamis Tränen versiegen, ihre Mundwinkel ziehen sich nach oben, so dass ich die Grübchen auf ihren Wangen sehen kann.
Papi blättert die nächste Seite auf um sich die Bilder aus meiner Kindergartenzeit anzusehen und da fällt es ihm in die Hände.
"Sieh mal", sagt er und hält Mami mein selbst gemaltes Bild vor die Nase.
Wieder treten Mami Tränen in die Augen, aber ich bin groß, ich weiß, dass es Tränen der Freude sind.
"Ein Geschenk Gottes", flüstert Papi und ich muss kichern.
Eingereicht am 08. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.