Ein kleiner Weihnachtsmann ganz groß
© Annemarie Grillenberger
Peter hockte mit vor Gram gebeugten Schultern in einer Ecke der großen Küche und starrte auf die Spitzen seiner schwarzen Stiefel, als könnten sie ihm die Antwort geben auf die Frage, die ihn jedes Jahr aufs Neue in der Vorweihnachtszeit quälte: mussten Weihnachtsmänner wirklich groß und stark sein, um ihrer Bestimmung gemäß die Erdenkinder mit Geschenken beglücken zu dürfen?
Traurig erhob er sich vom kalten Steinboden. Matthias und Burghardt waren mit dem Salatwaschen beschäftigt und hatten ihren Spaß daran, wie er an der Wasserlache am Boden erkennen konnte. Der Braten brutzelte im Ofen, die Kartoffeln würden in einigen Minuten gar sein. Ihm blieb nichts anderes zu tun, als zu warten.
Durch das kleine Fenster beobachtete er, wie seine Kollegen im Schneegestöber eifrig arbeiteten. Viele bunte Päckchen, große und kleine, mit und ohne Schleife, wurden auf den Schlitten geladen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ungeduldige Kinderhände das glitzernde Papier zerrissen.
Resigniert drehte Peter sich wieder zu seinen Söhnen, um ihnen kontrollierend über die Schultern zu schauen.
Als die ersten Männer in die große Küche traten, den Schnee von ihren Jacken und Mützen schüttelten und lachend durcheinander redeten, wusste er, dass sie mit ihrer Arbeit fertig waren. Gleich nach dem Essen würden sie die Rentiere vor die vollbepackten Schlitten spannen und sich von ihren Familien verabschieden. Mit lautem "Hü" und "Hott" würden sie Minuten später in der Weite des Nachthimmels verschwinden.
Und genau so war es dann auch. Wie alle anderen hatte auch Peter seinen Kollegen nachgewinkt, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Als er sich umdrehte und wieder ins Haus gehen wollte, um die Küche aufzuräumen, erblickte er Brunos Schlitten, leicht zu erkennen, da er der größte war. Doch wo war Bruno?
"He, alle mal herhören!" rief er. "Weiß jemand, wo Bruno ist? Sein Schlitten steht noch da!"
Ratlos standen sie da, denn niemand hatte ihn gesehen. Aber jetzt erinnerte sich Wilma, Peters Frau, dass er auch beim Essen nicht anwesend gewesen war. Hektische Rufe hallten durch die Nacht und als keine Antwort kam, begann man auch im Haus zu suchen.
"Bruuuno!" "Bruno, wo bist du?", und endlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, erklang Wilmas Stimme. "Ich hab' ihn gefunden! Er liegt im Bett!"
In Windeseile waren alle vor Brunos Bett versammelt und wollten wissen, warum ihr Anführer seinen Dienst nicht angetreten hatte. In jedem Fall war es ein schlechtes Zeichen.
Alle fragten durcheinander, doch bald gebot Wilma ihnen Einhalt. "Pssst! Seid doch leise! Ich kann ihn ja sonst gar nicht verstehen!"
Mit triefender Nase und krächzender Stimme teilte der große dicke Weihnachtsmann den Frauen und Kindern mit, dass er in diesem Jahr seinen Pflichten nicht nachkommen konnte, weil er krank war.
Alle suchten nach einem Ausweg, denn dass die Geschenke zu den Kindern auf der Erde gebracht werden mussten - und das rechtzeitig bis zum nächsten Morgen, war allen klar.
Peters erster Gedanke war natürlich: "Ich kann das doch machen!"
Er öffnete schön den Mund, doch ... nein, wahrscheinlich hatten die anderen Recht! Er war zu klein und schwach. Er blickte in den großen Spiegel neben dem Bett und sah sofort wieder weg, als er die kleine Gestalt ausmachte, die ihm da mit traurigem und verunsichertem Gesicht entgegen blickte.
"Wir könnten doch Peter schicken!"
Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Ungläubig starrte er in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren. Augenzwinkernd lächelte ihm seine Frau zu. Als sie sich wieder Bruno zuwandte, war ihr Lächeln verschwunden. Energisch wiederholte sie: "Peter kann das doch machen, ich weiß, dass er es kann! Gib ihm eine Chance!"
Zögernd schüttelte Bruno seinen großen Kopf mit dem langen weißen Bart. Dann taxierte er nachdenklich den kleinsten Weihnachtsmann seiner Mannschaft und gab sich schließlich einen Ruck.
"In Ordnung! Gebt ihm mein Gewand, damit er nicht friert, und helft ihm mit dem Anspannen der Tiere!", und mit einem strengen Blick zu Peter rief er: "Mach mir keine Schande, Junge! Die Kinder vertrauen auf uns!"
Wie der Wirbelwind flog Peter die Stufen hinunter. Jahrelang hatte er darauf gewartet. Er konnte sein Glück gar nicht fassen! Natürlich war es schlimm, dass Bruno krank war. Aber er würde bald wieder gesund sein und er, Peter, hatte einmal in seinem Leben das getan, wofür er auf die Welt gekommen war.
Wilma gab ihm die zu große Jacke von Bruno, den Schal, den er drei Mal um seinen Hals wickeln konnte, und die Handschuhe, in denen sich seine Hände ganz verloren vorkamen. Aber was machte das schon? Für eine Nacht durfte er ein Weihnachtsmann sein!
Mit wildem Peitschengeknalle raste er zur Erde und verteilte die Geschenke mit einer Geschwindigkeit, wie nur kleine Leute sie an den Tag legen können. Abwechselnd pfeifend und singend rutschte er durch die Kamine, verteilte die Päckchen auf die verschiedenen Socken und flugs war er schon wieder auf dem Schlitten, um das nächste Haus anzusteuern.
Die ganze Nacht arbeitete er so, und als er das letzte Geschenk an seinem Bestimmungsort wusste, machte er sich auf die Heimfahrt. Die Rentiere liefen nicht mehr so schnell, denn sie waren müde, genau so wie Peter. Um ehrlich zu sein: er war völlig erledigt.
Als er zu Hause den Gemeinschaftsraum betrat, waren die anderen gerade dabei, ihre dicken Jacken auszuziehen. Alle redeten aufgeregt durcheinander und erzählten, was sie während dieser wichtigsten Nacht des Jahres so alles erlebt hatten.
"Hallo, Peter!", rief Wilma leise, und man konnte den Stolz in ihrer Stimme hören. Trotz des Lärmes hatte jeder die zwei Worte gehört, und plötzlich trat Stille ein. Ungläubig starrten sie ihn an, wie er so da stand mit der zu weiten Jacke, dem zu langen Schal und den zu großen Handschuhen. Sie hatten in den nächsten Tagen eine Flut von Beschwerden erwartet von Kindern, die ihre Geschenke zu spät oder gar nicht erhalten hatten. Und nun das!
"Gratuliere, Schatz!" Wilma drückte ihrem Mann einen herzhaften Kuss auf die Wange, und da brach plötzlich Jubel unter den Anwesenden aus. Jeder wollte ihm gratulieren und ihm die Hand schütteln. So mancher klopfte ihm mit einem "Hab's doch immer gewusst, dass du ein ganzer Kerl bist!" wohlwollend auf die Schulter.
Als sich die Tür öffnete, verstummte einer nach dem anderen und sah neugierig dem Mann mit dem langen weißen Bart entgegen, der mit einem kleinen Päckchen in der Hand langsam auf Peter zuging.
"Liebster Peter, ich muss zugeben, wir haben uns in dir getäuscht. Die Einzige, die an dich geglaubt hat, war deine Frau, und sie war es auch, die dieses Geschenk für dich vergangene Nacht vorbereitet hat!"
Gerührt öffnete Peter das Päckchen, und zum Vorschein kamen ein Schal, eine Mütze und ein Paar dicke Handschuhe in genau der richtigen Größe. Er musste die Tränen zurück halten, als er nun wieder Brunos Stimme hörte. "Hiermit teile ich offiziell mit, dass du im nächsten Jahr nicht mehr für unsere Verköstigung zuständig sein wirst. Du wirst genau wie wir alle das machen, wozu du geboren wurdest: den Kindern auf der Erde Geschenke bringen! Du hast uns alle davon überzeugt, dass Kraft und Geschwindigkeit nicht
allein von der Größe und dem Gewicht eines Weihnachtsmannes abhängen!"
Alle klatschten und nickten zustimmend, und Peter war glücklich. Jetzt war er ein richtiger Weihnachtsmann.
Eingereicht am 05. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
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