Begegnung im August
© Helmut Wemer
Ich saß in einem Café in einer fremden Stadt. Er kam herein, fragte höflich um Erlaubnis und setzte sich mir gegenüber. Er war so um die 60, außerordentlich gut gekleidet und offensichtlich ein Stammgast, denn der Wirt fragte erst gar nicht nach seinen Wünschen, sondern kam kurz danach mit einer dampfenden Tasse Tee zurück - und einem kleinen Aschenbecher, den er vor ihm auf den Tisch stellte.
Ich war etwas verärgert, denn unser Tisch stand eindeutig im Nichtraucherbereich.
Der Mann schien mein Missfallen bemerkt zu haben und sagte: "Ich habe nicht vor, hier zu rauchen."
Er holte er aus seiner Jackentasche einen kleinen runden Plastikbehälter, wie sie zur Verpackung von Kleinbildfilmen verwendet werden, öffnete den Deckel, fasste mit Daumen und Zeigefinger hinein, entnahm dem Behälter etwas Kleines, Längliches und legte es behutsam in die Mitte des blitzblank geputzten Aschenbechers.
Der Ausdruck im Gesicht des Mannes zeigte mir, dass er mit einer für ihn wichtigen Zeremonie begonnen hatte. Er entzündete ein Streichholz, nahm das geheimnisvolle kleine Ding zwischen zwei Finger und hielt es in die Flamme, bis diese es fast bis zur Gänze verzehrt hatte. Dann ließ er es in den Aschenbecher fallen, wo es noch weiterbrannte, bis nur mehr ein winziges Häufchen Asche zurückblieb. So verwirrend und rätselhaft mir das alles auch erscheinen musste - es berührte und faszinierte mich auf eigenartige
Weise, denn während der wenigen Sekunden hatte ich das Gefühl, dem glücklichsten und zufriedensten Wesen der ganzen Welt gegenüberzusitzen.
Als die Flamme verlöscht war und sich das kleine Rauchwölkchen verzogen hatte, kehrte mein Gegenüber wieder in den Alltag zurück. Er schien etwas verlegen. "Ich bin Ihnen wohl eine Erklärung schuldig ..."
"Nicht schuldig", sagte ich höflich. "Trotzdem wüsste ich natürlich gerne..."
"Muss Ihnen recht seltsam vorgekommen sein - hätte Sie vorwarnen sollen. Wissen Sie, hier im Lokal weiß jeder Bescheid. Die meisten halten mich für verrückt, aber sie haben sich an mich gewöhnt".
"Ich halte Sie nicht für verrückt", sagte ich. "Nachdem was ich soeben gesehen - möchte eher sagen miterlebt - habe, muss das ganze für Sie sehr wichtig sein. Sie zelebrieren etwas. Habe ich recht?"
Mein Gegenüber lächelte. Und etwas von seinem Gesichtausdruck von vorhin kehrte noch einmal zurück. "Ich feiere - ich feiere WEIHNACHTEN."
"Im AUGUST??", fragte ich überrascht.
"Nicht nur im August. Ich mache das 300 Mal im Jahr. Januar und Dezember lass ich aus. Außer dem Heiligen Abend natürlich. Sie müssen wissen, dass Weihnachten schon immer eine große Bedeutung für mich hatte. Schon als Kind, als ich im besten Internat des Landes erzogen wurde. Weihnachten durfte ich zu Hause bei den Eltern sein ... schon damals hatte ich mir gewünscht, das Fest über das ganze Jahr ausdehnen zu können. Und später - die Gefühle, die Zuneigung, die guten Wünsche, die Hilfsbereitschaft - das
alles gibt es nur EINMAL im Jahr. An dem EINEN heiligen Abend. Viel zu viel für EINEN Abend. Wohin mit all den Gefühlen, der Zuneigung, der Nächstenliebe? Und da hab ich mir eines Tages gedacht: Der Christbaum, vor dem wir diesen Abend verbringen, der speichert etwas von all diesem Überschuss. Und wir räumen diesen Baum dann zu Heilig Drei König ab und werfen ihn auf den Müll. Ich habe da einen Ausweg gefunden - für mich wenigstens."
Mir ging ein Licht auf. "Tannennadeln!", sagte ich.
"Richtig!", sagte mein Gegenüber, nicht ohne Stolz in der Stimme. "Ich nehme jedes Jahr 300 Nadeln von unserem Weihnachtsbaum und tu sie hier" er zeigte auf seinen Filmdöschen "hinein."
"Ich beginne zu verstehen", sagte ich, "eine Art Meditation."
"Nennen Sie es Meditation. Ich weiß auch nicht wie ich es erklären soll. Ich weiß nur eins: In den paar Sekunden erlebe ich nicht nur EIN Weihnachten. Manchmal sehe ich meine Eltern - sie leben nicht mehr, meine Geschwister - wir sehen einander kaum noch. Und ich denke an die Armen dieser Welt, die Behinderten, die Ausgestoßenen. Als ich vor kurzem am Postamt ein paar Spenden-Erlagscheine verlangte, sagte der Beamte: ‚Jetzt im Sommer haben wir die nicht. Jetzt spendet ja doch niemand. Wir kriegen sie erst
wieder vor Weihnachten.' Verstehen Sie was ich meine ...?"
An dieses Erlebnis erinnere ich mich jedes Mal, wenn ich einen neuen Film in meine Kamera gelegt habe und das kleine schwarze Plastikdöschen nutzlos geworden ist. Und manchmal überlege ich, ob ich es nicht aufbewahren sollte - für den nächsten Heilig-Drei-König-Tag.
Eingereicht am 01. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
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